&&am &&lg=0 &&rl=0 &&rr=0 &&ll=0 &&___A4A5A6_Z0___halb16zu9_Z16___T3A7_Z-1___SVGHTML_Z0 &&lg=x Artur Landsberger &&lg=0 &&fa {{Lachendes Asien!}} &&fe &&lg=x Fahrt nach dem Osten München bei Georg Müller 1925 (Mit 49 Bildbeigaben) Printed in Germany Meinem Berater und Begleiter Mr. Arthur Sorms zugeeignet &&sw02 &&sglogo &&ak=1 &&wt0 &&x &&lg=0 &&nsr &&am {{Inhalt}} &&gv &&x &&nsr &&am &&lg=x &&g="1._Kapitel" &&fa Erstes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x &&fz1 &&fzs=1 Ehemals kam einem, wenn man in Berlin nach einem guten Frühstück auf die kalte Straße trat, der Gedanke: »wie schön muß es jetzt in Nizza sein!« – und am Abend desselben Tages schlief man dann statt zu Hause im Süd-Expreß, der einen ohne Paß und Zollschwierigkeiten nach dem Süden brachte. Heute beginnt man im März zu kalkulieren, ob man es ermöglichen wird, im August nach dem Schwarzwald zu fahren, gibt bereits im Juni »unüberwindlicher Schwierigkeiten wegen« die Reise auf und – ärgert sich zu Hause weiter. Ein guter Freund, der durchaus kein Materialist ist und dem ich erzählte, daß ich als Gast des Lloyd[[1]] Triestino {{[Lloyd Triest¬ino]}} nach China und Japan fahre, erwiderte, statt von Chinas Göttern und Japans Kunst zu schwärmen: »Sie[[1]] Glücklicher! auf ein Jahr dem Wohnungsamt und Finanzamt entrückt zu sein!« Diese unfreie Einstellung ist eine bitterernste Angelegenheit Sie[[1]] nimmt den Schwung, ohne den der Mensch des Lebens und der Arbeit nicht froh werden und daher nicht vorwärtskommen kann. Als die Einladung des Lloyd[[1]] Triestino kam, rüstete ich gerade nach Massa {{[Mas¬sa]}} bei Carrara {{[Car¬ra¬ra]}}, um dem Mißvergnügen dieses Winters ein künstliches Ende zu bereiten. Die Umstellung fiel nicht schwer. Wenigstens die innerliche. Man hatte von Japan geträumt. Jahrzehntelang. Als der Krieg kam – nicht erst, als man ihn verlor – begrub man die Hoffnung, daß dieser Traum je Wirklichkeit würde. Rom erschien wieder als Grenze des Erreichbaren. Und nun sollte das Unzulängliche doch Ereignis werden! Halleluja! &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Hinsichtlich der äußeren Einstellung gab es zweierlei zu bedenken: Ausrüstung und Begleitung. – Mein Freund, ein alter Afrikaner, in glücklicheren Zeiten Bezirksamtmann in Duala {{[Du¬a¬la]}}, schleifte mich zu einem Spezialisten, der, glücklich, endlich wieder einen Tropenreisenden einzukleiden, von Kopf bis zu den Zehen meine[[Besitz]] Maße nahm. Qualvolle Anproben folgten und eine Woche später stand ich vor einem Berg von weißen Anzügen. – »Was ist das?« fragte ich angesichts zweier operettenhaft wirkender Kleidungsstücke und erfuhr, daß es ein weißer Frack und ein weißer Smoking waren. Meine[[Besitz]] Absicht, einen schwarzen Frack mitzunehmen, begegnete mitleidigem Lächeln, und der Spezialist meinte: »Dann können Sie[[2]] auch gleich den Fisch mit dem Messer essen!« – Die zweite Einstellung: die Begleitung. Auf meine[[Besitz]] Anfrage bei der Generaldirektion des Lloyd[[1]] in Triest {{[Triest]}}, ob ich für eine »angesichts der langen Reise zweckdienlich erscheinende Begleitung« auf Fahrtermäßigung rechnen könne, bekam ich die etwas undeutliche Antwort: »Falls die Ihnen zweckdienlich erscheinende Begleitung Ihre Gattin ist, die Hälfte; andernfalls –!!!« Da mir selbst für eine Reise nach China und Japan die Ehe als zu hoher Preis erschien, so entschied ich mich für »andernfalls«. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x »Andernfalls[[Asien]]« singt heute zum einundsechzigsten Male die Hauptpartie in einer Fallschen {{[Fall¬schen]}} Operette. Die Premiere hatte ich über mich ergehen lassen. Ihr Gesang, Tanz und Spiel hatten durchaus auf dem Niveau gestanden, das sich für eine erste Berliner Soubrette {{[Sou¬bret¬te]}} gehört. Dementsprechend war auch der Applaus und der Berg von Blumen gewesen, der nach dem zweiten Akt »Andernfalls[[Asien]]« für Stunden glauben ließ, eine Künstlerin von Gottes Gnaden zu sein. Jedenfalls sagte sie, als wir später bei Austern und einer Flasche sehr altem {{Château Olivier dry}} saßen, mit noch erhitzten Wangen und einem Blick, den ich noch deutlich vor mir sehe: »Wenn du mich jetzt nicht zur Oper bringst, betrüge ich dich mit einem Konfektionär.« Mit dieser Drohung glaubte sie, alles bei mir erreichen zu können. Ich erwiderte trocken: »Gut! Es paßt in mein Programm.« »Was?« fragte sie erregt. »Der Konfektionär oder die Oper?« »Beides.« »Artur!« schrie sie und sprang auf. Ich reichte ihr die Einladung des Lloyd[[1]] Triestino. »Ja – hast du denn den Leuten nicht geschrieben, daß ich …« »Welches Interesse hätten sie, zu erfahren, daß ich mit einer Operettendiva …« »Ich pfeif auf die Operette!« unterbrach sie. Aber ich fuhr unbeirrt fort: »… die jetzt zur Oper will …« »Ich pfeif auf die Oper!« brüllte Andernfalls[[Asien]], und, gerührt von soviel Liebe, lenkte ich ein und sagte: »Du würdest also wirklich, nur um mit mir …« Abermals unterbrach sie mich und rief: »Für Indien opfre ich alles!« Ernüchtert zog ich die Hand, mit der ich sie eben zu mir ziehen wollte, zurück und sagte: »Was weißt du denn von Indien?« Verächtlich sah sie mich an und zählte auf: »Indische Schals! Indische Seide! Perlen! Smaragde! Rubine! Halbedelsteine! Weiße Elefanten! Maharadschahs! Bonsels {{[Bon¬sels]}} …« »Was ist denn das?« fragte ich. »Ich weiß nicht. Aber jedenfalls auch etwas, was mit Indien zusammenhängt. Und da ich mir schon längst in den Kopf gesetzt habe, alles das endlich einmal mit eignen Augen zu sehen, so fahre ich mit! – Überhaupt« – und jetzt trat sie nahe an mich heran und legte ihre Hände auf meine[[Besitz]] Schulter: »wo wir uns doch so lieb haben!« Sie[[1]] umschlang mich, und ein paar Minuten später baten wir ihren Direktor telefonisch, doch an unserer intimen Siegesfeier teilzunehmen. Nach der dritten Flasche {{Oli¬vier}} eröffnete ich ihm, daß ich in wichtigen Staatsgeschäften nach Japan müsse, ohne »Andernfalls[[Asien]]« aber außerstande sei, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Daß das Interesse des Vaterlandes also von ihr die Selbstentäußerung verlange, auf ihre allabendlichen Triumphe zu verzichten und mich zu begleiten – und von ihm, als strammen Republikaner, das Opfer, sie freizugeben und für einen Ersatz zu sorgen. Ein schwacher Widerstand wurde gebrochen, und so wurde die Premierenfeier zugleich das Abschiedsessen, zu dem wir immer neue Freunde aus ihren Stammlokalen herbeiriefen. Als ich Andernfalls[[Asien]] gegen Morgen nach Hause fuhr, lag sie im Halbschlaf und träumte von Indien: »Berge so hoch wie in der Schweiz,« fantasierte sie. »Von unten bis oben besetzt mit Edelsteinen. Maharadschahs mit Augen, die schimmern wie Smaragde, reiten auf weißen Elefanten zum Gipfel, auf dem die Nautschgirls {{[Nautsch¬girls]}}, nur in weiße Seidenschals gehüllt, tanzen.« »Und wo bleibt Bonsels?« fragte ich. »Der träumt,« hauchte Andernfalls[[Asien]] und schlief ein. – Aber am nächsten Tage! &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Am nächsten Tage begann Andernfalls[[Asien]] »sich für die Reise vorzubereiten«. – So nannte sie's. Und ich war arglos genug und dachte, sie würde die kurze Zeit nutzen, sich in der englischen Sprache zu vervollkommnen. »Zu wem gehst du?« fragte ich. Andernfalls[[Asien]] zog einen Zettel aus der Tasche, auf dem die Namen von fünf Modesalons, vier Wäschemagazinen, drei Strumpf- und Handschuhläden, zwei Maßschustern, einer Korsettiere {{[Kor¬set¬tiere]}} und drei Parfümerien standen. »Dein Scheckbuch, bitte!« sagte sie. »Aber Kind,« erwiderte ich, »alles das kaufst du in Asien doch für die Hälfte.« »Soll ich bis dahin nackend gehen?« »Gehst du hier nackend?« fragte ich. »Du bist stillos!« schalt sie. »Berlin ist nicht Italien. Italien nicht Afrika. Afrika nicht Asien. Und auf dem Schiff läuft man auch nicht wie auf dem Kurfürstendamm herum.« Wo hatte Andernfalls[[Asien]] sich in so kurzer Zeit orientiert? Sie[[1]], die nicht wußte, ob Moskau nördlich oder südlich von Berlin lag und noch vor ein paar Monaten zu einem Operettengastspiel nach Amsterdam auf dem nächsten Wege über Paris fahren wollte, kannte plötzlich den Seeweg nach Indien! &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Der Wahrheit die Ehre! Bei einem Vergleich meiner Reisevorbereitungen mit denen von Andernfalls[[Asien]], der nach Verlauf von vierzehn Tagen erfolgte, schnitt ich, war ich ehrlich gegen mich selbst, miserabel ab. Die Modenschau, verbunden mit dem endgültigen Abschiedssouper, die Andernfalls[[Asien]] in engstem Kreise bei sich veranstaltete, war so einzigartig und verblüffend, daß Selbstvorwürfe und letzte Reue über meinen[[Besitz]] Entschluß, sie mitzunehmen, schwanden. Wieviel Geschmack, Takt, Phantasie, Sinn für Farben, Empfindsamkeit und Instinkt für Milieus, die sie doch nur ahnte, kam hier ans Licht! Wieviel Schöpferisches war hier geleistet! – Ich hingegen hatte die Zeit damit verbracht, aus unzähligen Werken den Weg zu Chinas Göttern und Japans Kunst zu finden, sowie mir im Verkehr mit Chinesen und Japanern die notwendigen Verbindungen nach Asien zu schaffen. Etwa ein Dutzend Visa benötigten wir. Als Grund meiner Reise gab ich an: Studienzwecke. »Und die Dame?« fragten eifrige Konsulatsbeamte. »Begleitet mich!« gab ich zur Antwort, die meist genügte. Nur der österreichische Beamte, obschon es nur ein Transitvisum für die Eisenbahnfahrt von ein paar Stunden war, schürfte weiter: »Zu welchem Zweck?« – Andernfalls[[Asien]] zeigte ihren fotografischen Apparat, und als er weiter fragte: »Was ist das?« erwiderte sie: »Eine Schreibmaschine; und wenn es Sie[[2]] beruhigt, setze ich mir auch noch eine Brille auf.« Daraufhin fragte er nichts mehr. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Am Vorabend unserer Abreise kam Andernfalls[[Asien]] plötzlich auf den Gedanken, ihre Dreizimmer-Wohnung für die Dauer ihrer Abwesenheit zu vermieten. Es war als Überraschung für mich gedacht. »Denn«, sagte sie, »gern tue ich es nicht. Aber da du doch soviel Anschaffungen für die Reise machen mußtest, so wollte ich dich ein wenig entlasten.« »Kind,« beruhigte ich sie und wies auf ihren Berg von Koffern, »damit holen wir noch nicht die Kosten für die Fracht bis Triest heraus.« »Siehst du!« rief sie freudig, »das habe ich mir auch gesagt. Und da die Emmy {{[Em¬my]}} doch für mich in der Operette einspringt …« »Zu so einer Rolle wäre sie sonst nie gekommen.« »Gewiß! aber mein Gewissen beruhigt es doch, daß …« – sie zögerte. »Nun?« sagte ich, und sie fuhr fort: »Sieh mal, wenn eine einspränge, die mehr kann als ich.« »Darum also das Gefühl der Dankbarkeit.« »Es hätte meine[[Besitz]] Reisefreude zum mindesten nicht erhöht.« »Sie[[1]] wird also bei dir wohnen?« »Ja! – Besser, man weiß, wen man bei sich hat, und zahlt die paar Mark Miete weiter.« »Das also ist deine Überraschung?« »Du hast doch selbst eben gesagt, es käme noch nicht einmal die Fracht für die Koffer dabei heraus.« »Gewiß! das habe ich gesagt. Nur hätte man dann am Ende besser getan, die Wohnung abzuschließen …« »Du machst es einem wirklich schwer. Will man dir schon mal eine Freude machen …« »Du hast recht, ich bin undankbar. Hast[[Besitz]] du sonst noch irgendeinen Wunsch?« »In einem Fenster in der Budapesterstraße steht ein Hut – ich glaube, wenn du den siehst …« Ich sah nach der Uhr und sagte: »Schade! Fünf vor sieben. Vor[[Präpos]] einer Viertelstunde können wir nicht da sein.« Andernfalls[[Asien]] setzte ihr allerliebstes Lächeln auf: »Ich habe, kurz ehe du kamst, telefoniert,« sagte sie verschmitzt. »Sie[[1]] schließen nicht – es sei denn, ich telefoniere ab.« »Wie konntest du wissen, daß ich …?« »Aber!« sagte sie zärtlich. »Ich wußte doch, wenn ich dir die Geschichte von der Wohnung erzähle, daß ich die Absicht hatte, dir zuliebe …« Als wir den Modesalon betraten, kam uns die Inhaberin des Salons mit je einem Hut in der Hand entgegen: »Gut, daß Sie[[1]] da sind!« rief sie erregt. »Sie[[1]] glauben gar nicht, was für Mühe ich hatte, die beiden Hüte für Sie[[1]] aufzubewahren. Ein halbes Dutzend Damen, darunter zwei Ihrer Kolleginnen, wollten sie mir förmlich aus dem Fenster reißen.« »Hörst du?« wandte sich Andernfalls[[Asien]] an mich. »Aber da es eine Überraschung für den Herrn Doktor sein sollte …« »Ich muß dir sagen, die ist gelungen,« erwiderte ich. Andernfalls[[Asien]] probierte auf. »Es ist ein Pech für dich, daß mir jeder Hut steht,« sagte sie. »Aber entscheide selbst.« Ich entschied mich für den, den sie grade auf dem Kopf hatte. »Aber!« widersprach die Dame des Salons. »Sie[[1]] werden doch nicht wollen, daß eine Kollegin …« »Fräulein Andernfalls[[Asien]] wird sich nach unserer Rückkehr der Oper zuwenden,« parierte ich. »Da werden Herr Doktor künftighin soviel für Toiletten sparen, daß Sie[[1]] diesen Hut noch auf das Konto Operette buchen können.« »Gib schon nach!« vermittelte Andernfalls[[Asien]]. »Denk doch, was das Auto kostet, wenn wir uns so lange hier aufhalten.« »Immer aufs Sparen bedacht!« sagte die Dame des Salons, während Andernfalls[[Asien]] mir eine Huttüte in den Arm schob und mit der andern hastig in das Auto eilte. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Am Abend des nächsten Tages standen wir an dem Fenster unseres Schlafwagens und erwiderten die Grüße guter Freunde und Freundinnen, die teils gern, teils weniger gern auf einige Monate von uns Abschied nahmen. Und als der Vorsteher endlich das Zeichen zur Abfahrt gab – es wird auch von klugen Leuten nie dümmeres Zeug gesprochen als während der letzten Minuten vor Abfahrt eines Zuges – atmete ich auf und sagte: »Gott sei Dank!« »Es ist nicht einer darunter, der uns diese Reise gönnt,« erwiderte Andernfalls[[Asien]]. Als gleich darauf der Zug sich in Bewegung setzte, waren wir innerlich schon ganz von denen da draußen abgerückt. Mechanisch winkten wir noch Abschied, bis der Zug aus der Halle war. Dann aber, als Berlin hinter uns lag, ergriff uns das Gefühl, auf Monate losgelöst von allen Pflichten und Gebundenheiten, frei, ganz frei zu sein, so stark, daß wir uns schluchzend in die Arme fielen, um gleich darauf laut aufzulachen wie die Kinder. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Am nächsten Morgen: München, in dem ich, der ewige Student seit 1896, jährlich ein paar Wochen der Erinnerung lebte; ohne den sachlichen Ernst des Nordens schon mit leisem Anflug südlicher Fröhlichkeit – München, diesmal ohne Wärme, sachlich, stur. Die Studenten, einst beschwingt von Bacchus, ganz den süßen Mädeln hingegeben, diesmal erdenschwer, wichtig, feierlich, das Hakenkreuz im Knopfloch. – Detlev! Otto Erich! Otto Julius! wohl euch, daß ihr dies München nicht erlebtet!! Arme, süße Mädel! bedauernswerter Bacchus! &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x In aller Frühe südwärts. Über Salzburg[[1]] und das verschneite Gastein {{[Gast¬ein]}} nach Triest. Sonne! liebe Sonne! Lachende Menschen! Zwei glückliche Tage! Mascagni {{[Mas¬cag¬ni]}} dirigiert in der Opera Verdi. Tausend Herzen schwingen mit. Man spricht italienisch und der Italiener antwortet auf deutsch und lächelt freundlich. Man wird von einem alten Freund bewirtet. Bei Grancevola {{[Gran¬ce¬vo¬la]}} – wie lange hat man sie entbehrt! – und Lacrimae Christi spricht man von allem – nur vom Kriege nicht. Der Polizeikommissar prüft die Pässe. Nach Japan. Sein Interesse erwacht. Die Unterhaltung ist im Gange. Er geleitet uns hinaus, drückt uns die Hand und gibt gute Wünsche für die Reise mit. Der Polizeikommissar! Halleluja! &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Am Spätnachmittag steigen wir auf das Schiff. Zwecks Besichtigung. Man will doch sehen, wie man die nächsten Wochen über untergebracht ist. Andernfalls[[Asien]] erwartete ein Hotel. So wie sie es von den Prospekten der großen Schifffahrtslinien her kannte. Salondampfer, die von Hamburg und Bremen nach New York fahren. Eine große Halle, Schwimmbassin, Lift und was ihre Bühnenfantasie sonst hinzudichtete. Was sie fand, war ein Sechstausend-Tons-Dampfer, auf dem die Ladung eine sehr viel wichtigere Rolle spielt als der Passagier. Ihre Kabine, als Unterstellraum für ihre Koffer, wenn auch zu klein, so doch diskutabel. Als Schlaf- und Wohnraum eine Angelegenheit, über die sie so herzlich lachte, daß der Obersteward, um sie zu beruhigen, meinte: »Ich werde mein Möglichstes tun, daß die gnädige Frau allein in der Kabine bleiben.« Da warf sich Andernfalls[[Asien]] mir an den Hals und rief, während ihr vor Lachen dicke Tränen über die Wangen liefen: »Halt mich. Ich kann nicht mehr! – Wenn ich gewußt hätte, daß man auf einer Reise nach Asien so viel lacht.« »Wärst du dann zu Haus geblieben?« fragte ich. »Aber nein!« widersprach sie lebhaft. »Wenn die Portionen bei den Mahlzeiten dementsprechend sind, komme ich wie eine Lilie nach Hause.« Und als sie sich ein wenig beruhigt hatte, fragte sie noch immer lachend den Maestro: »Sagen Sie[[1]], wieviel Passagiere kann man in so eine Kiste verpacken, ohne daß sie ersticken?« »Das kommt auf die Temperatur an, die wir in den Tropen haben,« erwiderte der. »Gnädige Frau können Hitze gut vertragen?« »Was nennen Sie[[1]] Hitze?« »Etwa 35 bis 40 Grad.« »In der Sonne natürlich?« »In der Nacht.« »Wie denn …? – Ja, womit messen Sie[[1]]?« »Nach Celsius.« »Allmächtiger!« »Ziehst du es nicht doch vor, in Europa zu bleiben?« fragte ich. »Wo wir in Deutschland seit Jahren um den Sommer betrogen werden? Und ich Wäsche und Kleider habe, in denen man überhaupt nicht spürt, daß man etwas anhat.« Andernfalls[[Asien]] tastete die Wände vergebens nach einem Schrank ab, in dem sie wenigstens die empfindlichsten Kleider unterzubringen gedachte, sie suchte für Schuhe und Wäsche vergebens nach einer Kommode, stellte fest, daß die Tür der Kabine zu schmal war, um den Schrankkoffer, der bei diesen Versuchen immer wieder von oben nach unten gekehrt wurde, hineinzuschaffen, und fragte schließlich den Maestro, ob es nicht möglich sei, bis zur Abfahrt am nächsten Abend noch bauliche Veränderungen auf dem Schiffe vorzunehmen. Der erste Offizier und der Commissario des Schiffes wurden hinzugezogen. Im Speisezimmer fanden gleich darauf Verhandlungen statt. Ein ausgezeichneter {{Chian¬ti}} und Andernfalls[[Asien]]' gute Laune erzeugten bald eine Fröhlichkeit, in der Offizier, Commissario und Maestro wetteiferten, ihre Kabinen für Andernfalls[[Asien]]' Reisebedarf zur Verfügung zu stellen. Andernfalls[[Asien]] akzeptierte sie sämtlich. Sie[[1]] verteilte auch gleich die Rollen. Der erste Offizier wurde im Nebenamt Kleiderverweser {{[Klei¬der¬ver¬we¬ser]}}, der Commissario hatte für die Unterbringung der Hüte und Wäsche, der Maestro für die tausendundein »{{petit riens}}« zu sorgen. Sie[[1]] erhielten genaue Instruktionen, um während der Fahrt der Stewardesse die richtigen Gegenstände auszuhändigen. Meinen[[Besitz]] Einwand: »Wenn jeder weibliche Passagier soviel Umstände machte«, ergänzte Andernfalls[[Asien]]: »So würde man sehr bald bessere Schiffe bauen,« während der Hut- und Wäscheverweser, der von nun ab nur noch im Nebenamte Commissario war, meinte: »Ich wünschte, wir hätten öfter Passagiere, für die wir so gern wie in diesem Falle ein kleines Opfer bringen.« – Und während der Maestro und die Stewardesse bis tief in die Nacht hinein Andernfalls[[Asien]]' Sachen unterbrachten, feierten wir mit dem Offizier und dem Commissario in der Stadt den Abschied von Europa. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Vierundzwanzig Stunden später sticht das Schiff in See. An Bord außer uns ein Auslandsdeutscher aus China und ein junger Russe, der in Chemnitz {{[Chem¬nitz]}} mit einem Deutschen assoziiert ist und nun nach Ceylon und Bombay fährt, um – hört zu! – in Chemnitz fabrizierte seidene Schals an indische Handelshäuser zu verkaufen! Andernfalls[[Asien]] ist entsetzt. Der indische Seidenschal, dem sie mit derselben Ungeduld entgegenzitterte wie ich der {{Bodhi¬satt¬va}}, ist entthront. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Der nächste Morgen Venedig! In Sonne getaucht. Wir halten einen Tag. Auf dem Markusplatz – in den Augen der südlichen Friedrichstadt Berlins »eine bessere Filmangelegenheit« – wimmelt's von den vom Publikum heilig gehaltenen Tauben und den weniger heiligen Täubchen, die, auf der Hochzeitsreise, noch girren und nicht ahnen lassen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="2._Kapitel" &&fa Zweites Kapitel &&fe &&ax &&lg=x In Brindisi, das im Regen hingeklatscht wie ein großer Klecks dalag, füllte sich am übernächsten Tag das Schiff. Ein italienischer Hauptmann, der nach Massaua {{[Mas¬saua]}} in Afrika versetzt ist – Neugier, die an Bord neben der Langeweile Triumphe feiert, sucht die Ursache zu ergründen –, sieben junge Nonnen aus Neapel, ein Franziskanerpater mit schwarzem Vollbart, ein belgischer Priester und Arzt, der schon fünfzehn Jahre als Missionar in China wirkt und Chinesisch wie seine Muttersprache spricht, ein Engländer und ein Amerikaner, die wir ebenfalls für Missionare halten, und außerdem ein paar indifferente Menschen, an denen einem höchstens auffällt, daß sie auffallen möchten. Sie[[1]] sind auf ein falsches Schiff, in falsche Gesellschaft geraten. Was können sie hier erleben? Die Nonnen beten und lernen Chinesisch. Sie[[1]] sind dabei lustig und überhören sich gegenseitig. Sie[[1]] singen – nicht nur geistliche Lieder –, aber an Toiletten, auf die es den Indifferenten ankommt – ach, du lieber Gott – bieten sie nichts. Man hat ja wohl den Wunsch, diese feinen schmalen Gesichter auch einmal in anderer Umrahmung zu sehen. Aber zu Himmel und Meer paßt diese schlichte Natürlichkeit doch wohl besser als die raffinierten Dekolletées, mit denen die Indifferenten sich überbieten. Das empfindet auch Andernfalls[[Asien]]. Obschon der erste Offizier ihr versichert, daß ihre Kleider nach Mitternacht Tänze in seiner Kabine aufführen und ihm unruhige Nächte bereiten – ich glaube das –, hält doch Scheu vor der Wucht, mit der Himmel und Meer sich ihr erschließen, und natürlicher Takt gegenüber den Schwestern sie zurück, sich zu putzen. Ja, ich stelle mit Vergnügen fest: die Dekolletées gehen ihr auf die Nerven. Begreiflich. Sie[[1]] sprechen jetzt nicht nur über Mode und {{Mar¬gue¬ritte}}, den sie »mondäner« als {{Mau¬pas¬sant}} finden (man sieht, auch das weibliche Gehirn der Sieger hat unter dem Kriege gelitten), sie machen – Allmächtiger! – auch in Politik und schwärmen – diese indifferenten Dekolletées aus New York, Chicago, Philadelphia, Budapest, Rom und Paris – für Lenin! – »Ein Mann endlich!« fantasieren sie. »Alle unsere Politiker sind ja nur Puppen.« – Und die perlenübersäte Amerikanerin fügt hinzu: »Und vor allem ein Herz für die Armen! Sehen Sie[[1]] nur, wie entsetzlich!« – Während sie das sagt, beäugt sie durch die goldene {{Lor¬gnet¬te}} ungeniert die armseligen Passagiere im Zwischendeck. Zusammengepfercht wie das Vieh Männer, Frauen, Kinder, die ohne ein Zelt über dem Kopf im Freien nächtigen. Ein unterhaltsames Schauspiel während des Desserts. Sie[[1]] löst behutsam, um sich die gepflegten Finger nicht zu beschmutzen, von einer schweren blauen Traube Beere um Beere. Angestoßene oder nicht ganz reife wirft sie denen da unten zu und lacht hellauf, wenn Männer, Frauen und Kinder die Arme strecken, danach greifen, stürzen und sich wie ein zusammengeballtes Knäuel am Boden winden. Der Herr Gemahl, die schwarze Sumatra zwischen den Goldzähnen, überbietet die Gattin und wirft italienisches Kupfer. – Andernfalls[[Asien]] steht abseits; mit geröteten Wangen; empört über diese Amerikaner, deren Beispiel Landsleute aus Chicago und Philadelphia folgen. Ich trete an Andernfalls[[Asien]] heran und nehme ihre Hand. »Pack!« sagt sie, und ich habe Mühe, sie zurückzuhalten. Schon an diesem Abend scheiden sich die Welten. Die Schiffsoffiziere, Prachtkerls, die sich lieber den Seewind ins Gesicht schlagen lassen als {{Paque¬ret¬tes}} und {{Coty}}, halten zu den Nonnen. Auch der China-Deutsche, der junge Russe und ein paar Holländer. Die Engländer sitzen im Salon und spielen Bridge. Die drei Missionare stehen am Vorderdeck und verständigen sich auf lateinisch. Sie[[1]] streiten sich über die Methoden, auf die man aus den Chinesen Christen macht. Der Amerikaner meint, man müßte erst einmal Menschen aus ihnen machen und ihnen dann – dabei faltet er die Hände – die Segnungen der amerikanischen Kultur zuteil werden lassen. Der Engländer lächelt und fragt: »Worin besteht denn die?« – »Herr!« erwidert der Amerikaner, »in den Vereinigten Staaten ist mehr Geld als in allen Staaten Europas zusammen.« – »Macht man aus Geld Menschen?« fragt der Belgier. – »Es erleichtert die Arbeit,« erwidert der. – »Sie[[1]] kaufen Seelen,« erklärt der Engländer und gibt damit zugleich dem Gefühl der Anderen Ausdruck. – Der Amerikaner erwidert: »Es kommt darauf an, Christen aus ihnen zu machen. Wie ist Nebensache.« – »Nicht aber Nebensache ist, was für Christen man aus ihnen macht,« erwidert der Belgier. – »Gibt es verschiedene?« fragt der Amerikaner mit verzücktem Augenaufschlag. – »{{Yes}},« erwidert der Engländer. »Christen im Sinne der Bergpredigt und solche wie Sie[[2]]!« – und kehrt ihm den Rücken. Andernfalls[[Asien]] hat das Gespräch an meiner Seite mitangehört; begünstigt von dem Wind, der von Osten kommt. Sie[[1]] lädt den Engländer zu einem Glas Whisky ein. Der sagt aus lauter Verdutztheit: »Ja!« –, folgt aber gern, nachdem ich ihm verraten habe, welch innerlicher Bewegtheit Andernfalls[[Asien]]' Aufforderung entsprang. Er erzählt von China und der Psyche der Chinesen: »Weich wie die Kinder; grausam wie die Kinder. Ich kenne einen chinesischen Diener, der seinen Herrn, einen Europäer, dreißig Jahre lang wie ein Hund betreut und mit eigner Lebensgefahr vom Tode errettet hat, ihn dann aber eines Tages, als er die Gelegenheit für günstig und die Entdeckung für ausgeschlossen hielt, umbrachte.« »Läßt sich das aus der Psyche des Chinesen erklären?« fragte ich, und er erwiderte: »Durchaus! – Das Primäre in ihm ist der Haß des Fremden. Der kann im Dienste eines guten Europäers verdrängt sein, schlummern. Eines Tages bricht er durch. Beim Einzelnen, wie bei Allen. Der neue Boxeraufstand kommt – kommt bald. So überraschend er Europa treffen wird, wir, die wir in China leben, wissen es; wissen auch, was seinen Ausbruch beschleunigen und seine Grausamkeit verdoppeln wird.« Andernfalls[[Asien]] wies zu dem amerikanischen Missionar, der noch immer im Gespräch mit den Andern stand. Der Engländer tat, als sähe er es nicht Aber Andernfalls[[Asien]] fragte: »Stimmt's?« »Danach müssen Sie[[1]] Ihren Landsmann fragen,« erwiderte er, und der um vieles robustere China-Deutsche stimmte einen Haßgesang auf die amerikanischen Missionare an, der den Engländer veranlaßte, aufzustehen. »Ein böses Gesicht machen Sie[[1]] jedenfalls nicht,« rief ihm Andernfalls[[Asien]] nach, und der China-Deutsche fuhr in seiner Erzählung fort, aus der hervorging, daß China seine zweite Heimat wurde. Wie das geschah, verlohnt der Wiedergabe: Jahr der Handlung: 1886. Ort der Handlung: Berlin N, Gartenstraße (mit gleichem Recht könnte das Mittelmeer Akazienallee heißen). Der Vater schickt den Zehnjährigen hinunter. Er soll für einen Taler hundert Zigarren holen. Jungens auf der Straße erzählen ihm, wie man, ohne Eintritt zu zahlen, in die Flora kommt. Da gibt's Indianer zu sehen. Er geht mit. Die Indianer imponieren ihm gewaltig. Er tauscht die drei Mark gegen ein Fell ein. Da er sich ohne den Taler und ohne die Zigarren nicht nach Hause traut, so übernachtet er in einem Zelte. Am nächsten Tage hilft er und bleibt. Schon nach wenigen Tagen wirkt er bei den Vorstellungen mit. Er darf hinten auf der Kutsche sitzen, die von den Indianern überfallen wird. Sein Hinterteil ist zwar dreifach ausgepolstert. Aber die Peitschenhiebe der die Kutsche verfolgenden Indianer sind nicht von Pappe. – Nach drei Wochen wandert die Expedition, die inzwischen in anderen deutschen Städten war, nach Österreich[[1]]. Grenzkontrolle. Drei überzählige Knaben. Darunter er. Sie[[1]] werden zurückgehalten. Auf der Liste der von ihren Eltern Vermißten steht er nicht. Also zum Generalsammelplatz nach Berlin. Alexanderplatz. Drei Tage bleibt er da mit einer Reihe anderer Ausreißer eingesperrt. Am vierten Tage: Vorführung. Es erscheinen ein Kriminaloberwachtmeister und vermißte Kinder suchende Eltern. Voran sein Vater. Der besichtigt eingehend. Einen nach dem andern. Unser Freund, verlaust, verdreckt, eine Art mexikanischen Dreimaster auf dem Kopf, verstellt die Züge. Er spricht kein Wort Deutsch. Antwortet auf alles mit ein paar Brocken Englisch, deren Sinn er selbst nicht kennt. Das Auge des Vaters bleibt an ihm haften. Unser Freund verzieht das von Schmutz strotzende Gesicht zur Grimasse. »Komm mal her, mein Junge!« sagt der Vater. Der tut, als verstände er nicht. Aber ein Griff am Kragen – und er steht neben dem Alten. »Und nun nach Haus! Zwei Schritte hinter mir! Mit sowas zeigt man sich nicht. Und ich rat' dir, lauf nicht davon! Dreckskerl!« – Auf der Straße bleiben die Leute stehen. Auch die Mutter erkennt ihn zunächst nicht. Badewanne. Schwarze Seife. Friseur. Keile, nochmals Keile und zum drittenmal Keile! Bei der ersten Gelegenheit gegen Abend wieder aus dem Haus. Schräg gegenüber gibt's ein Theater. Hinein! Sitzen kann man nicht. Jeder Knochen schmerzt. Um halb zwölf nach Haus. In Vaters Zimmer Licht. Rauf auf den Boden. Da findet ihn am nächsten Morgen die Mutter. »Komm nicht! Vater schlägt dich tot! Da sind drei Mark! Fahr zur Großmutter nach Prenzlau {{[Prenz¬lau]}}.« – Und statt nach Prenzlau fuhr er nach Hamburg. Von dort mit einem Segler nach Südamerika. Kalt war's, und Keile gab's mehr als zu Haus. Und aus diesem Berliner Buffalo Bill, den wir aus tausend erlogenen Schwarten kennen, nun aber zum ersten Male in Wirklichkeit vor uns sehen, wurde einer der reichsten Deutsch-Chinesen, dessen Erlebnisse wert sind, in einem besonderen Buch geschildert zu werden. – &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Ein vorzüglicher Steward und eine ebenso vorzügliche Stewardesse sorgen vom ersten Tage an geradezu rührend für unsere Behaglichkeit. Um halb sieben nehmen wir das erste Frühstück in der Kabine, um sieben das Bad und bereits gegen acht Uhr treten wir zum Nichtstun an Bord an. Der Triumph der Faulheit setzt ein. Man wehrt sich anfangs. Moralischer Widerstand? Ich glaube, es ist mehr die Gewohnheit, die sich gegen das Nichtstun sträubt. Man hat die Kunst des Nichtstuns verlernt, die größer ist als die Kunst der Arbeit. In jedem Menschen steckt ein Stück Philister, das es ihm erschwert, den Alltag zu überwinden. Und nichts – sagt Goethe – ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Das empfindet selbst Andernfalls[[Asien]]; während wir an der Küste Griechenlands – also noch immer Europa! – entlangfahren, vertreibt sie sich die Zeit dadurch, den frommen Schwestern, die zu schwerem Dienst nach China fahren, Gesangstunden zu geben. Sie[[1]], die noch vor einer Woche von der Bühne herab: »Muß es denn, muß es denn gleich die große Liebe sein?« sang und tanzte, singt nun, wie mir scheint mit der gleichen Aufrichtigkeit und Innerlichkeit, katholische Kirchenlieder. – Abends zur Unterhaltung der Smokings und Dekolletées zu singen, lehnt sie ab. Auch sonst übt sie keinerlei Verstellung. Als der amerikanische Missionar sie heute früh mit den Worten begrüßt: »{{Well! Have you found Jésus?}}« erwidert sie: »{{Is that beg¬gar lost again?}}« Ich versuche den Eindruck zu dämpfen und sage: »Es macht ihr Freude, zu scherzen,« aber der gekränkte Amerikaner ist für keine Vermittlung. Beinahe herausfordernd sagt er: »Wie gehören Sie[[1]] eigentlich zusammen?« Andernfalls[[Asien]] erwidert: »Gefühlsmäßig.« Darauf er: »Sie[[1]] sind also nicht verheiratet?« »Sonderbare Logik!« erwidere ich, während Andernfalls[[Asien]] das Intermezzo sofort an eine neben uns stehende Gruppe von Passagieren weitergibt. Es löst große Heiterkeit aus, und auf den Zuruf eines englischen Regierungsmannes, der nach Hongkong fährt: »Sie[[1]] sind ein sonderbarer Heiliger!« zieht sich der Amerikaner zurück. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Am Abend, als wir an Kreta vorüberfahren, gibt's eine Überraschung, die für uns Deutsche an Bord leicht hätte unangenehm werden können. Unser zweiter Telegraphist hört via Nauen {{[Nau¬en]}} ein Violinkonzert in Berlin. Man drängt sich. Kreißler {{[Krei߬ler]}} ist es nicht. Und doch: die Damen sind begeistert. Der Lokalpatriotismus von Andernfalls[[Asien]] und mir feiert Triumphe. Oder …? die heruntergezogenen Mundwinkel der Amerikanerin veranlassen Andernfalls[[Asien]] zu der Frage: »Spielt er falsch?« – Und da das Gesicht immer länger wird, so fragt sie: »Oder gar Deutschland, Deutschland über alles?« »Er spielt überhaupt nicht mehr,« erwidert sie wütend. »Sondern …?« fragte ich. »Er redet!« »Wer?« »Das weiß ich nicht. Ludendorff {{[Lu¬den¬dorff]}} vermutlich.« »Allmächtiger!« ruft Andernfalls[[Asien]]. »Was hören Sie[[1]]?« fragen die Andern, und der Telegraphist, der die Amerikanerin ablöst, verkündet: »Eine politische Ansprache in Eberswalde {{[Ebers¬wal¬de]}}.« »Wo liegt das?« »In Polen,« ruft Andernfalls[[Asien]]. Aber der Telegraphist berichtigt: »Bei Berlin« – und fährt fort: »Verband Stahlhelm oder so ähnlich – von Ermannung ist die Rede – und von Juden – Nieder! ruft jemand – Laute Heilrufe – Lu...« »Lassen Sie[[1]] mich! Sie[[1]] verstehen nicht Deutsch,« sagt Andernfalls[[Asien]] und schiebt den Telegraphisten sanft zur Seite. Dem bleibt der Dame gegenüber keine Wahl. Er überläßt ihr die Hörer, und Andernfalls[[Asien]] überträgt – wohl nicht ganz wortgetreu – die Ansprache Ludendorffs oder eines seiner Helfer ins Englische: »… darum können wir nur auf dem Wege des Friedens wieder gesunden. Jeder, der zum Kriege hetzt, ist daher ein Verbrecher – was er weiter sagt, kann ich nicht verstehen.« »Wieso nicht?« »Der Beifall ist zu lärmend.« Außer dem Commissario und mir hatte sie alle geblufft. Weniger durch das, was sie sagte, als durch die Art, in der sie es vorbrachte. Als wir gleich darauf die Treppe hinunterstiegen, zur Linken Kreta, rechts die untergehende Sonne, sagte Andernfalls[[Asien]]: »Eine verheerende Erfindung, dies Radio!« Und ich erwiderte: »Ich sehe uns schon in Japan in einem Tee[[1]]haus sitzen und mitanhören, wie deine Nachfolgerin in Berlin: ›Muß es denn, muß es denn gleich die große Liebe sein‹ singt.« »Dazu fährt man nun nach Japan!« stöhnte Andernfalls[[Asien]]. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="3._Kapitel" &&fa Drittes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Port Said. {{[Port Said]}} Hier zeigt die Welt ein neues Gesicht. Endlich! Auch ehedem mag der Europäer, wenn er Port Said betrat, den Unterschied von Mensch zu Mensch empfunden haben. Die Erdenschwere, jenes wesentlichste Merkmal, das die sogenannte Kultur der Menschheit aufdrückte, fehlt diesen zum Teil noch unbewußten Menschen. Ein Gemisch von Arabern, Berbern und Negern. Freilich: noch drückt der Europäer dieser ägyptischen Stadt sein Merkmal auf. Doch nur für den Durchreisenden und oberflächlichen Beschauer. Das Boulevardtreiben, die dichtbesetzten Kaffeehäuser, die ihre Tische fast bis an den Bordrand des Fahrdamms schieben, die zahllosen Magazine, die flinken Fiaker mit geputzten Menschen – alles das wirkt puppenhaft wie eine Miniatur-Seinestadt. Dieses Städtchen mit etwa 60 000 Menschen feiert von Mittag ab bis in die kühlende Nacht hinein im Freien und lebt – scheint mir – vom Export und den Fremden. Zwar die Hotels entsprechen kaum der Bedeutung der geografischen Lage am Ausgang des Suezkanals. Und die Nähe von Kairo und dem neuerdings lebhaft bereisten Jerusalem böten bei geschickter Regie dieser Stadt große Möglichkeiten – meint Andernfalls[[Asien]]. Und ihr guter Instinkt trifft das Richtige. »Du bist kein Geschäftsmann,« schilt sie. »Laß uns hier bleiben und telegrafiere an August, der finanziert das.« Dabei erregt sie sich so lebhaft, daß der Kellner ihr den dritten Strohhalm für ihr Americano bringen muß. Ein Bild von einem Araberjungen hebt grinsend die beschädigten Halme auf. »Was machst du damit?« fragt Andernfalls[[Asien]] auf englisch – und statt einer Antwort zieht er behende unter seinem Rock ein Küken hervor, setzt es vor Andernfalls[[Asien]] auf den Tisch, nimmt ihre Hand, streicht mit ihr über den Rücken des kleinen Federviehs und siehe da: aus einem Küken werden zwei, aus zweien drei – – bis schließlich unser Tisch ein Hof von Küken, der Teller mit Kuchen aber ihre Beute ist. Andernfalls[[Asien]] ist entzückt. Aber sie öffnet eben den Mund, da greift der Araber schon nach ihrer Nase, singt ein paar Töne und zaubert an diesem Kunstwerk göttlicher Schöpfung – wirklich! Andernfalls[[Asien]]' Nase ist klassisch schön! – ein Silberstück nach dem andern heraus. Andernfalls[[Asien]] ist entzückt. Entzückter noch, als er auf ein Silberstück, das ich ihm reiche, unaufgefordert eine Handvoll Kupfer herausgibt. »Den sollten wir mitnehmen!« ruft sie begeistert. »Denke, was man mit dem an einem Abend im Zoo für Geld verdienen kann.« Ich widerspreche. Sie[[1]] ereifert sich. »Du hast keinen Geschäftssinn,« schilt sie. Und ich erwidere: »In einem halben Jahr. Auf der Rückreise. Was fangen wir mit dem Jungen in Japan an?« Sie[[1]] läßt sich Namen und Adresse geben. Zahlt an! Damit er sich nicht anderswohin verpflichtet. Er schwört. Gibt es schriftlich. In arabischen Schriftzeichen, da Andernfalls[[Asien]] gründlich ist, auch auf englisch. Er macht ihr ein Küken zum Geschenk. Andernfalls[[Asien]] nimmt es gerührt an. Aus Furcht, es werde die Seereise nicht vertragen, gibt sie es bei dem Araber in Pension und zahlt für die Verpflegung a conto ein Pfund. »Wirst du es denn herausfinden nach so langer Zeit?« frage ich. Andernfalls[[Asien]] stutzt. »Wenn ich ihm dies Platinkettchen umbinde,« fragt sie arglos. Der Araber ist von dem Gedanken entzückt. Ich erlaube mir zu bemerken: »Ich fürchte, es wird heranwachsen und ihm die Kehle zuschnüren.« »Es liegt ja dreifach und der Junge lockert es alle paar Tage.« Heilig verspricht er's. »Einen Namen muß es haben,« meint Andernfalls[[Asien]]. Der Junge findet es durchaus gehörig. – »Wie wäre Mohammed?« fragt sie. »Aber Kind,« erwidere ich. »Es ist doch ein Huhn.« »Du widersprichst immer.« Unbeirrt fahre ich fort: »Genau wie unsere Hühner!« Andernfalls[[Asien]] stutzt. »Du nimmst einem jede Freude.« »Wir werden Dinge finden, die es bei uns nicht gibt – in Hülle und Fülle.« Andernfalls[[Asien]] ist mißtrauisch geworden. »Wie der indische Schal, nicht wahr?« sagt sie. Aber die Ähnlichkeit des Kükens mit europäischen scheint ihr einzuleuchten. Sie[[1]] überlegt: »Du meinst, man sollte es lieber lassen?« »Es wird zu spät sein,« erwidere ich und weise an die Straßenecke, um die eben der Araber im Laufschritt biegt. Andernfalls[[Asien]] ist platt. »Und er hat das Küken mitgenommen?« fragt sie. Ich sehe sie an und staune. »Was ist?« fragt sie und fährt mit der Hand über ihre Taille, auf der mein Auge ruht. »Meine[[Besitz]] Perlennadel!« ruft sie. Ich springe auf und jage dem Jungen nach. Mir ist, als glotze er aus dem Fenster eines Hauses, das an der Ecke der Straße liegt. Aber nein, da steht er ja – mitten auf dem Damm – neben ihm drei andere Araberjungen – und ich stelle fest: jeder von ihnen kann es sein. Mit ihren dunklen Augen sehen sie mich treuherzig an und strecken die Hände aus. Andere kommen hinzu. Jetzt sind es zwölf. Ich werfe jedem ein Kupfer in die Hand. Sie[[1]] heulen auf. Vor[[Präpos]] Freude. Und ich denke: ob er wohl darunter ist? Ich eile zurück. Vor[[Präpos]] Andernfalls[[Asien]]' Tisch ein Auflauf. Laute Stimmen. Ein baumlanger Polizist, der die Taschen eines jungen Arabers durchsucht. Andernfalls[[Asien]] ruft in großer Erregung: »Er ist's!« Europäer, die an Nebentischen saßen, beteuern, daß sie sich irrt. Sie[[1]] bleibt dabei. Der Junge empört sich. Aus seinen Taschen zieht der Polizist Eidechsen, Zigaretten, Gummi, – nur das Huhn, die Platinkette und die Perle nicht. Ich kläre Andernfalls[[Asien]] auf, zeige ihr Araberjungen, die dem Gesuchten viel ähnlicher sehen. Sie[[1]] wird unsicher. Gibt die Möglichkeit zu. Lauter Lärm. Hunderte umlagern uns. Mit einem Schmerzensgeld von fünf Schilling[[1]] kaufe ich uns los. Auf dem Wege zum Schiff, verfolgt von einer Horde schwarzer und brauner Jungen, die hinter uns herschreien, sage ich zu Andernfalls[[Asien]]: »Nach dem Debüt werden wir uns, auch wenn August uns finanziert, hier kaum niederlassen können.« Andernfalls[[Asien]] erwidert: »Die Reise fängt doch erst an.« Und am Abend schreibt sie in ihr Reisetagebuch als Überschrift über das erste Kapitel: &&am »Das Küken von Port Said«. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="4._Kapitel" &&fa Viertes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Wieder an Bord im Hafen von Port Said. Was einem in der Stadt auffiel und einen beeindruckte: Engländer und wieder Engländer. Und auch draußen im Hafen nichts als englische Schiffe. Da kommt einem so recht zum Bewußtsein, daß Deutschland schlafen ging. Freilich: Die Ägypter sehen es anders. Strahlend, wenn auch aus kluger Vorsicht nur flüsternd, erzählen sie, daß die Engländer und Franzosen bei ihnen nichts mehr zu sagen hätten, daß sie endlich Herren im eignen Lande wären. Tatsächlich ist kein englischer Soldat, kein englischer Offizier mehr in Port Said zu sehen – während man ihnen noch vor zwei Jahren auf Schritt und Tritt begegnete. Schon die Paßkontrolle läßt das erkennen. Streng wurde sie von ägyptischen Soldaten und Beamten, die direkt unter englischer Aufsicht standen, geübt. Englische Offiziere kamen an Bord und visitierten die Pässe. Die Abstemplung war die Voraussetzung für die Passage durch das Stadtgitter. Deutschen wurde sie noch im vorigen Jahre verwehrt. Heute gibt es keinen englischen Offizier mehr. Die unabhängigen Ägypter lassen jeden passieren. Freilich: im Hintergrunde wacht auch noch heute, nur scheinbar schlummernd, das Auge Englands, das die Lider wohl ein wenig gesenkt hält, um weitere Massaker zu verhüten und die erregte Volksseele Ägyptens zu beruhigen. Die neue englische Regierung wird zweifellos alles tun, um in diesem gläubigen Volke den Glauben an die Unabhängigkeit zu befestigen – ohne daß in Wirklichkeit die englische Machtsphäre dadurch die geringste Einbuße erleidet. Und schließlich ist es von größerer Bedeutung, daß die englische Regierung der ägyptischen ihren Anteil der Aktien am Suezkanal abkaufte, als daß das vom verstorbenen Prinzen Heinrich der Niederlande erbaute Etablissement im {{Bas¬sin Che¬rif}} nicht mehr als eine englische Kaserne dient. – Am Spätnachmittag treten wir die Fahrt durch den Suezkanal an. Tief dunkelrot geht an den Ufern des Menzale-Sees {{[Men¬zale-See]}} die Sonne unter. Unbeschreiblich die Farben, in denen am Abhang des {{Dsche¬bel Dsche¬nef¬fe}} und {{Dsche¬bel Ahmed Taher}} das flache, pflanzenreiche Ufer schimmert. »Wie eine japanische Zeichnung«, meint der Commissario und erläutert in italienischem Redeschwall den Nonnen, was die viel tiefer mit Augen und Sinnen erfassen. Und der nicht nur geistig bewegliche Russe, der den halben Tag am Klavier sitzt, jubelt: »Die Landschaft möchte ich tanzen.« – Mich aber läßt letzte Erinnerung an die Heimat trotz allem noch immer nicht froh werden. Schon auf der ersten Strecke des Kanals setzt mit Untergang der Sonne erhebliche Kühle ein. Der Menzale-See, umschwärmt von Silberreihern und Pelikanen, liegt hinter uns, am Ende des Sees durchschneidet der Kanal die Landenge el-Kantara {{[el-Kan¬ta¬ra]}}, auf der seit Jahrhunderten die Karawanen von Syrien nach Ägypten ziehen. Die Versuche, das Rote Meer mit dem Nil zu verbinden, sind so alt wie die Menschheitsgeschichte und lassen sich bis in das sechste Jahrhundert vor Christi Geburt zurückführen. Aber ich will Leben und keine Geschichte schreiben. Leben gab's am nächsten Morgen in {{Port Tew¬fik}} hinter Suez nun zwar auch nicht gerade. Das Villenörtchen lag siedeheiß und schattenlos in der Morgensonne. Aber Andernfalls[[Asien]], die weiß, wie gut sie der in Port Said erworbene Tropenhut kleidet, drängt, an Land zu gehen. Ich mache sie auf die unzähligen, durch die milchige Färbung des Wassers kenntlichen Korallenriffe aufmerksam. Es macht keinen Eindruck. Da sie für alles, was Tier heißt, eine sehr viel größere Vorliebe als für die Gattung Mensch hat – ein Geschmack, den ich teile –, so erkläre ich ihr, daß diese Korallenriffe durch die kalkige Ausscheidung von Milliarden kleiner, gesellig lebender Weichtiere herrühren, die es nur in den Tropenmeeren gibt. Sie[[1]] sagt uninteressiert: »Korallen stehen mir nicht – und außerdem sind sie unmodern.« Also lassen wir uns von ein paar Arabern an Land rudern. Siedehitze, Staub, Menschenleere. Nackte Araber und Berber heben schwere Steine aus einer Grube und schleppen sie zu kleinen Wagen, die auf schmalspurigen Schienen laufen. Die dunkle Haut, meint Andernfalls[[Asien]], täuscht über die Nacktheit hinweg. Aber das gilt doch nur für uns Weiße. Und nicht für jene acht schöngebauten Araberinnen, da drüben, deren dunkle Augen hinter dem Jachmak {{[Jach¬mak]}}, der das Gesicht verbirgt, glutvoll hervorleuchten. Muß ich sagen, daß sich Andernfalls[[Asien]] sofort für nichts anderes mehr interessiert. Ihr erster Gedanke ist: »Wie schrecklich muß das sein für eine Frau, die hübsch ist.« – Gleich darauf zieht sie verächtlich den Mund und meint: »Aber freilich, da die meisten Frauen es nicht sind, so ist das sogenannte Schamgefühl eine famose Ausrede, hinter der man die Häßlichkeit verbirgt.« – Dann wendet sie sich ängstlich an mich: »Sage, besteht etwa Aussicht, daß diese Mode auch zu uns kommt?« Ich suche sie zu beruhigen. Aber sie meint: »Wo wir neuerdings den Amerikanern alles nachäffen.« »Was haben denn die damit zu tun?« frage ich. »Warum sollen sie nach dem Alkoholverbot und wo sie jetzt doch sogar das Rauchen verbieten wollen, schließlich nicht auch auf den Gedanken kommen.« »Das ist gar nicht ausgeschlossen,« erwidere ich. »Zumal die meisten von ihnen häßlich sind.« Aber Andernfalls[[Asien]]' noch eben sorgenvolles Gesicht heitert sich auf. »Ausgeschlossen!« ruft sie. »Jede Frau hält sich für hübsch. Also wird das nie kommen. Schon, weil hinter den Gardinen …« »Jachmak,« verbessere ich. »Ich spreche deutsch,« erwidert sie und wiederholt: »Weil sich hinter den Gardinen die Schminke nicht hält.« »Du hast recht! Denn eine Amerikanerin, die sich nicht schminkt …« »… ist wie ein Affe, der sich nicht laust,« fiel mir Andernfalls[[Asien]], während ich einen Vergleich suchte, ins Wort. Genau wie wir mit ihnen, beschäftigten sich die sechs Araberinnen mit uns. Es empörte sie offenbar, daß Andernfalls[[Asien]] unverschleiert war. »Sie[[1]] empfinden das so, wie du es empfändest, wenn bei uns eine Frau mit bloßen Brüsten am Kurfürstendamm spazierenginge.« »Dann muß man sie aufklären. Was sollen sie von mir denken?« »Das sollte dir gleich sein.« »Einer Frau darf nie gleich sein, was man von ihr denkt – du, der Satz stammt von dir. Also …« – und im selben Augenblick stand sie auch unter den Araberinnen. Da die kein Wort Deutsch oder Englisch verstanden, so suchte sie sich auf andere Art verständlich zu machen. Sie[[1]] nahm einer von ihnen den Schleier ab, was zur Folge hatte, daß alle sechs wie wilde Schwäne auf sie zustürzten … Das rief mich auf den Plan. Leider aber auch die nackten Arbeiter aus den Gruben. Da an eine Verständigung nicht zu denken war, spitzte sich die Situation zu. Der Lärm zog einen Policeman an, der weit unten am Hafen stand. Der stellte sich vor uns und ließ sich berichten. Da alle durcheinanderschrien, so verstand er kein Wort. Er wandte sich auf englisch an uns. Ich klärte den Sachverhalt auf. Aber Andernfalls[[Asien]] rief gereizt: »Über mein nacktes Gesicht regen sie sich auf. Ich glaube, viel mehr an den nackten Männern.« Der Polizist verstand und lachte so laut, daß sich die Wut der Männer und Frauen gegen ihn wandte. Obgleich er ein Araber war, wie sie, riefen sie: »Frecher Engländer!« – wenigstens klang es so, es kann auch anders geheißen haben. Jedenfalls nutzte ich die Gelegenheit, nahm Andernfalls[[Asien]] bei der Hand und lief mit ihr davon. – Sie[[1]] aber überschrieb das zweite Kapitel ihres Tagebuches: &&am »Im Kampf mit Kannibalen«. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="5._Kapitel" &&fa Fünftes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Unser Schiff lag so lange im Hafen, daß wir Zeit gehabt hätten, nach Jerusalem zu fahren. Andernfalls[[Asien]] verbindet damit eigenartige Vorstellungen: »Bei der Tüchtigkeit der Juden sieht es da gewiß schon aus wie in Paris,« meint sie. »Man hätte sich amüsieren und am Ende schon für den Herbst einkleiden können.« Ein paar jüdische Auswanderer mit ihren Familien klären sie auf. Das ist bösestes Polen. Und durch die Brille dieser Menschen gesehen, erscheint Jerusalem eher als eine Zufluchtsstätte für gehetzte Arme und Beladene als ein Pflaster, auf dem eine heitere sorglose Welt flaniert. Ich spreche von der Möglichkeit, auf der Rückreise für ein paar Tage nach Jerusalem zu gehen. Aber Andernfalls[[Asien]], die einem arabischen Händler das ganze Obst abkauft und es unter die Auswanderer verteilt, ist schon bekehrt. Wir entschließen uns für Kairo, das man in vier Stunden mit dem Expreß erreicht, nach dem, was man las und hörte, aber keinen tiefen Eindruck macht. Zwar ist Andernfalls[[Asien]]' Urteil: »ein englisch-amerikanischer Hotelbetrieb mit exotischer Aufmachung« nicht erschöpfend. Aber sie hat doch wieder das richtige Gefühl. Jeder Ägypter und jedes Kamel in Kairo macht den Eindruck, als seien sie nur zur Unterhaltung der Engländer und Amerikaner da. Für die paar Deutschen, die jetzt hier reisen, hat der vierbeinige Wüstensohn, hier lediglich Instrument der Fremdenindustrie, nur einen gelangweilt impertinenten Blick. Dabei heißt sein gefährlicher Gegner nicht German, sondern Ford. Zweiundzwanzig für Ägypten bestimmte Wagen setzte allein unser verhältnismäßig kleines Schiff an Land, und in dem kleinen Suez zählte ich in einer Viertelstunde mehr als ein Dutzend dieser kleinen, schnittigen Wagen. – Aber freilich, was versteht ein Kamel davon? Man muß bewundern, wie die Wagen von USA via Triest hierher transportiert werden. Man vermutet in den Kisten, die einander gleichen wie ein Ei dem andern, allenfalls ein Klavierchen. Vor[[Präpos]] dem Worte »Ford«, das breit auf jeder Kiste steht, bekreuzigen sich Engländer, Amerikaner und Italiener. Nur Andernfalls[[Asien]] und die Nonnen nicht. Das Wort »Ford« übt heute eine gewaltige Wirkung. Es verkörpert eine Weltanschauung. Ich möchte unseren mit allen Wassern gewaschenen, in allen Sätteln gerechten Russen, der zwar noch auf seine Chemnitzer Seidenwaren schwört, nicht mit der Parole »Ford« auf China loslassen. Er könnte den Missionaren gefährlich werden. Mit der Devise »Ford« kann man Berge versetzen. Oder …? Seit Suez haben wir ein jüdisches Ehepaar, das aus Syrien kommt, an Bord. Mit einem eigenen Koch und einer syrischen Sklavin als Dienerin. Sie[[1]] kehren von einer zweijährigen Weltreise nach Singapore zurück. Sie[[1]] stehen an der Reling und ihre Blicke schweifen sehnsuchtsvoll über das Meer nach der bis zu dreihundert Meter ansteigenden Wüste el-Kàa {{[el-Kàa]}}. Nicht den Hafenort Tor, die Quarantänestation für die Zeit der Wallfahrten nach Mekka, suchen sie. Es ist der {{Dsche¬bel Mûsa}}, der Mosesberg, dem ihre Sehnsucht gilt und der eben, kurz bevor die Sinaihalbinsel endet, emporsteigt. Dies Ehepaar Isaak, das weder im Dining room, noch in einem der Salons je sichtbar wird, und das man höchstens mal gegen Abend eng aneinandergeschmiegt an Bord stehen sieht, – pfeift auf Ford. Ich würde sein Alter auf fünftausend Jahre schätzen, wenn Andernfalls[[Asien]], deren gutes Herz sich zu der syrischen Sklavin hingezogen fühlt, mir nicht versichern würde, daß sie am 15. November Silberne Hochzeit feiern. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Daß die Seefahrt gesund macht, fühlt von uns jeder; daß sie die Frömmigkeit vertieft, ist eine Mär des Confucius, an die ich – ungern – auf dieser Reise den Glauben verlor. – Als wir ins Rote Meer einfuhren, – wie schön waren da die Abende an Deck! Die Nonnen, von der Natur stark beeindruckt, ihrem Gott sich hier noch näher fühlend, sangen religiöse Lieder. Wir ruhten in den tiefen Liegestühlen, lauschten, und es schien, als vereinige sich der Gesang der Nonnen mit dem Rauschen des Meeres, das ihn hinwegtrug, der Welt den Glauben zu verkünden. Als wir in der Mitte des Roten Meeres waren, sangen die Schwestern schon nicht mehr. Sie[[1]] sahen auch nicht mehr zu Boden, wenn sie an uns vorüberschwebten. Auch der italienische Pater war hier schon ein anderer geworden. Er hatte das Gebetbuch mit dem langen Holzstab vertauscht und wetteiferte an Leidenschaft mit einem italienischen Capitano beim {{Shuffle board}} ({{Shuffle board}} ist ein jedem Seereisenden bekanntes Spiel). Und als wir abermals ein paar Tage später Massaua verließen, kredenzte der Pater einer fröhlichen Tafelrunde den für China bestimmten Meßwein, während die Schwestern sich beim {{Shuffle board}} vergnügten. Zwar übertreibt der Russe, der in bezug auf die Nonnen meint, vom {{Shuffle board}} bis zur Reunion sei nur ein Schritt. Nein! diese Nonnen sind keine Wedekindgestalten, sind Kinder, die die Schüsseln mit den erlesenen Speisen ebenso harmlos bestaunen wie die nackten Araber, die sich in Massaua an das landende Schiff drängen. Bei dem Namen Massaua schlägt jedes Italieners Herz höher. Denn es ist der Eritreia {{[Eri¬treia]}} vorgelagerte Hafen. Und Eritreia ist eine italienische Kolonie. Ein Land mit Kolonien aber ist eine Großmacht. Des zum Zeichen man uns auch die Kolonien raubte. – Ich weiß nicht, ob die Italiener gute Kolonisten sind, aber die Betriebsamkeit im Hafen, die Heiterkeit und der Eifer, mit dem die schwarzen Eingeborenen arbeiten, die Furchtlosigkeit, mit der die unzähligen nackten Kinder sich an die Europäer hängen, läßt darauf schließen, daß sie Psychologen und gute Menschen sind. Wir trafen es gut. Denn gerade in der Nacht, in der wir im Hafen lagen, feierte die italienische Kolonie ihren Karneval. Ich habe nicht erst hier den bestimmten Eindruck gewonnen, daß die Einstellung der Italiener den Deutschen gegenüber im Lande selbst wie draußen (man kennt die Unterschiede) in gleichem Maße freundlich ist. Sie[[1]] haben den Glauben an Deutschland, an dem es, wie mir scheint, überhaupt nur – in Deutschland fehlt. Man glaube mir, daß das wochen- und monatelange Zusammenleben auf einem Schiff der beste Boden für die Gewinnung von Sympathien ist. Deutschland, das weiß, wie wichtig für seine Wiederaufrichtung die Entspannung der antideutschen Atmosphäre im Auslande ist, hält trotz seiner Finanznot überall Propagandisten – nur auf dem Meere nicht. Sehr unklug! Ich schlage vor, kluge, unterhaltende, gutangezogene Menschen mit Kinderstube, und zwar beiderlei Geschlechts, als harmlose Reisende auf die großen Schiffe der Weltlinien zu setzen. Sie[[1]] könnten Wunder wirken! Doch keine Politik! Zurück zu fröhlicheren Dingen. Ein Karneval in Massaua, das ein Erdbeben vor zwei Jahren niederriß, ist eine zahme Angelegenheit, derentwegen sich eine Reise nach Afrika nicht lohnt. Und von dem weniger zarten »Nachtisch« bei »Madame«, zu dem jedes schwarze Kind, das die Beine setzen kann, den Weg weiß, und zu der man der Wissenschaft wegen in platonischer Absicht pilgerte, wendet sich der europäische Gast mit Grausen. Er flüchtet spät in der Nacht auf das Schiff zurück, auf dem alles längst schlummert. Nur Andernfalls[[Asien]] ist noch wach. Sie[[1]] sitzt im Salon und liest. Vor[[Präpos]] ihr steht ein Kübel mit Eis und ein paar Flaschen Apollinaris. Daneben eine Flasche {{Irish Whis¬ky}} von {{John Gil¬lon}}. Bei vierzig Grad wacht Andernfalls[[Asien]] und lernt Japanisch. Ich bewundere das und setze mich zu ihr. Sie[[1]] klappt das Buch zu und lehnt jedes Lob ab. »Einer von uns beiden wird ja wohl sprechen müssen«, sagt sie und gießt mir ein Glas klaren Whisky ein. »Trink! Damit du einen anderen Geschmack bekommst.« Ich fahre mir ohne zu wollen mit der Hand über den Mund und gieße den Whisky herunter. »Du hast recht,« sage ich, »es war ekelhaft.« »Ich sehe es dir an.« »Du glaubst doch nicht etwa …?« »Würde[[werden]] ich mit dir reisen, wenn ich dich dazu für fähig hielte?« »Und woraus siehst du, daß ich da war?« »Daß du mir die Hand geben wolltest – überlegtest und es nicht tatst.« »Das konntest du doch nicht sehen.« »Gefühlt hab ich's.« – Ich sehe sie an. Sie[[1]] schüttelt den Kopf und sagt: »Daß dich das wundert.« »Man wird doch empfindsamer draußen auf dem Meer.« »Ich schon,« erwidert sie. »Wünschest du, daß ich es auch werde?« Sie[[1]] setzt ihr allerliebstes Lächeln auf, erhebt sich, tritt dicht an mich heran und sagt, während sie mir mit der Hand durchs Haar fährt: »Ich weiß nicht, ob ich es wünsche. – Gute Nacht!« Damit gab Andernfalls[[Asien]] mir das erste Rätsel auf dieser Reise auf. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Nach einer Stunde etwa kehrten die letzten Karnevalsgäste auf dem Umwege über Madame an Bord zurück. Ich hatte den bitteren Geschmack mit Whisky-Apollinaris grade hinuntergespült. Als ich sie sah und dies sogenannte Haus der Liebe wieder vor mir aufstieg, aus dem einem Brunstgeruch und Geschrei schon auf der Straße entgegenschlug, da ekelte ich alter Sünder mich vor diesen Menschen, die zu Haus, teilweis auch auf dem Schiff reizvolle weiße Frauen hatten. Sie[[1]] aber erzählten angeregt und noch lüstern und ohne Scham. Und während ich noch vor einer Stunde beim Anblick dieser Schwarzen schon den Gedanken einer Berührung als Sodomie empfand, erkannte ich nun, daß auch der Weiße ein Tier ist. Daß diese These in gleicher Weise für Mann und Frau gilt, belehrte mich ein Neger, den ich auf dem Wege zu meiner Kabine über den Flur schleichen und an der Treppe scheu nach einem Kimono sich umwenden sah, deren Trägerin bei meinem Anblick aufschrie und das Gesicht mit den Händen bedeckte. Ich mußte an die Worte meines Freundes aus Duala denken: »Die Etikette des Schiffes verlangt …« – und dann zählte er eine endlose Reihe mehr oder weniger äußerlicher Dinge auf, deren Beobachtung der strenge Code des internationalen gesellschaftlichen Verkehrs verlangte und die im Zusammenhang mit den Vorgängen dieser Nacht etwa wirkten, als wenn eine hohe Obrigkeit bestimmte: Personen, die ins Wasser fallen, haben im Interesse der öffentlichen Moral beim Ertrinken darauf zu achten, daß ihre Kleider nicht ins Rutschen kommen. Andernfalls[[Asien]] teilt meine[[Besitz]] Empörung nicht. Sie[[1]] will, was für sie und mich gilt, nicht unbedingt auch für alle Andern gelten lassen. Und während ich, was mich abschreckt, ästhetisches Empfinden nenne, bucht sie, auch auf die Gefahr hin, mich zu kränken, mein Unbehagen mehr auf Konto meines Alters. »In deinen Jahren liebt man eben mehr mit Verstand als mit den Sinnen. Und dann bedenke die Hitze und das Rote Meer! Die Wasserverdunstung und der hohe Feuchtigkeitsgehalt der Luft! Sind das für diese Art Menschen nicht mildernde Umstände?« »Wer hat dir das erzählt?« frage ich. Sie[[1]] erwidert böse: »Sobald ich etwas Gescheites sage, fragst du, von wem ich es habe.« »Liebes Kind, in Fragen des Geschmacks habe ich das noch nie getan. Aber wenn eine Berliner Soubrette Feststellungen über die Wasserverdunstung und den Feuchtigkeitsgehalt im Roten Meer anstellt, so ist das doch etwas ungewöhnlich.« »Wenn sie es in Berlin täte, vielleicht. Hier ist es nur natürlich, daß man sich informiert. Schon für dein Buch über Asien. Und da du es nicht tust, so muß ich eben.« Einer Fortsetzung des Gesprächs entzog sie sich, indem sie sich zur Seite legte und einschlief. Ich stellte, wie allabendlich, wenn sie eingeschlafen war, den elektrischen gesundheitschädlichen Ventilator ab, ohne den sie behauptete, nicht schlafen zu können. Dann legte auch ich mich in meine[[Besitz]] Kabine und schlief ein. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Am nächsten Tage setzten wir die Fahrt fort – nachdem das Schiff wohl eine Stunde lang nach halbwüchsigen Afrikanern abgesucht worden ist, die sich auf alle möglichen Arten trotz der Wachen an Bord geschlichen haben und sich dort versteckt halten, um, ahnungslos, wohin die Reise geht, die Fahrt mitzumachen. Sie[[1]] fühlen sich eben als Italiener! Der letzte wird in einem jener großen Kochbecken gesichtet, in denen ein paar auf Zwischendeck reisende Araber ihre Mahlzeit selbst bereiten. An einer Reihe wunderlicher vulkanischer Inseln, die bis zu 600 Meter emporragen, geht die Fahrt vorüber, abseits an der Küste entdeckt mein Zeiß die Hafenstadt Hodeida {{[Hodeida]}}, von der aus ein Handelsweg nach der Stadt Sana {{[Sana]}}, dem Hauptort des unter türkischer Oberherrschaft stehenden Gebirgslandes des Jemen, führt. Unser geografischer Ehrgeiz ist erwacht, wir wollen durchaus die Moscheen von Mokka {{[Mok¬ka]}}, der Heimat des guten Kaffees, sehen. Kurz vor dem {{Bab-el-Man¬deb}}, dem »Tor der Tränen«, erfüllt sich unsere Sehnsucht. Mokka liegt vor uns, eine der Moscheen ragt wie ein Schiffahrtssignal steil empor und wir fahren nach Passieren der verengten Meerstraße schließlich in den Golf von Aden {{[Aden]}} ein. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Etwas Lustiges bereitet sich unterdessen auf dem Schiffe vor, dessen {{Chro¬nique scan¬da¬leuse}} damit voraussichtlich eine Bereicherung erfährt. Ein, wie man mir versichert, und was Schmuck und Dienerschaft zu bestätigen scheinen, steinreicher Siamese, ein Graf S-M, führt seine in England ihm angetraute junge Frau mit, eine – ja, ich weiß nicht recht, sie ist schön, schlank, elegant und hat eine herrliche Stimme. Ihre Heimat ist Deutschland; aber ihr Wirkungskreis seit über zehn Jahren ist London – und eben über diesen Wirkungskreis zerreißen sich unsere Dekolletées die Mäuler. Das liegt wohl daran, daß sie schön, schlank und elegant und seit drei Wochen die angetraute Frau des steinreichen siamesischen Grafen S.-M. ist, mit dem sie nun über Penang {{[Pe¬nang]}} in ihre neue Heimat fährt. Wenn das keinen Neid erregen soll! Das Lustige, das sich vorbereitet, sich hoffentlich aber nicht erfüllt, hat natürlich Andernfalls[[Asien]] ausspioniert. Die syrische Sklavin steht längst nur noch nominell in Diensten des jüdischen Ehepaares aus Singapore. In Wirklichkeit bedient sie nur Andernfalls[[Asien]], und ich zittre dem Augenblick entgegen, in dem ihr Eigentümer die Konsequenzen daraus zieht und sie mir zum Geschenk macht. – Also, diese syrische Sklavin ist die einzige, die sich mit der Dienerschaft des Grafen S.-M. verständigen kann. Und die hat ihr verraten, daß der Graf daheim noch elf andere ehelich ihm angetraute Frauen sitzen hat, so daß mit dieser nun das Dutzend voll würde. Der Graf will die junge Gräfin mit der schönen Stimme erst auf siamesischem Boden »aufklären«. Aber Andernfalls[[Asien]] ist entschlossen, das nicht zuzulassen. Da ich mich nicht für berechtigt halte, ihre edle Regung zu unterdrücken, so werden wir vielleicht sehr bald ein Schauspiel an Bord erleben. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="6._Kapitel" &&fa Sechstes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Aden erwies sich als eine in jeder Hinsicht freudige Überraschung. »Nichts los,« hatte man mir in Berlin gesagt und mich zum soundsovielten Male vor dem Deutschenhaß der Engländer »draußen« gewarnt. Aden sei besonders gefährlich. Die Mitnahme eines fotografischen Apparates würde unabsehbare Folgen nach sich ziehen. Schade, denkt man, wenn man des Morgens erwacht und die Aden vorgelagerte Hafenstadt Steamer Point {{[Stea¬mer Point]}} in malerischer Pracht vor sich liegen sieht. – Stärkeren Eindruck als dieses, nach Wüste und Vulkan förmlich duftende Panorama hat auf mich weder der Anblick Neapels noch irgendein Landschaftsbild der Schweiz gemacht. – An Bord wimmelt's, kaum, daß das Schiff Anker warf, von Händlern. Araber, Somalis, Neger, Perser, Juden, die von der Ansichtskarte bis zum Löwenfell und Haifischrachen alles anbieten, was der Osten besitzt. Für hundert besonders große ägyptische Zigaretten werden sechseinhalb Schilling[[1]] gefordert und man erhält sie – armer deutscher Raucher! – mühelos für zwei Schilling[[1]]. Ein prächtiges Löwenfell ersteht man für zwei Pfund und für einen Haifischrachen mit beneidenswertem Gebiß braucht man gar nur sieben Rupien (gleich neuneinhalb Goldmark) anzulegen. Freilich, wenn man beobachtet, wie leicht man hier die Haifische fängt, während ein paar Meter davon entfernt ein Taucher furchtlos arbeitet, wundert man sich über nichts mehr. (Bild 1) Die Händler hatten hier den Bogen überspannt, die Fremden reingelegt und ausgebeutet. Ihre jahrzehntelange Gewohnheit, Preise zu fordern, die fünf- bis zehnfach höher waren als der Wert der Ware, hatte zur Folge, daß die Reisenden jetzt Preise bieten, die weit hinter dem wirklichen Wert der Waren zurückbleiben. Diese Tatsache und das Verbot, nach sechs Uhr auf den Schiffen zu handeln, haben eine katastrofale Situation für die Hunderte von Händlern geschaffen, aus der niemand – auch nicht die Reisenden – Nutzen ziehen. (Bild 2) Selbst in Aden, dem strategisch so wichtigen Punkt, erschien kein englischer Offizier oder Soldat an Bord. Bei Betreten der Hafenstadt trug man sich in eine Liste ein, und der englische Staatsbeamte, der sah, daß man Deutscher war, mühte sich in deutscher Sprache, uns bei dem Mieten eines Autos nach Aden behilflich zu sein. Er sagte uns freundlich-höfliche Worte über Hamburg, das er aus der Zeit vor dem Kriege kannte, und war uns auch beim Einschiffen wieder behilflich. Ganz im stillen – denn der Russe war mit uns – dachte ich, ob wohl bei uns in ähnlicher Lage ein deutscher Beamter … – und Andernfalls[[Asien]], die meine[[Besitz]] Gedanken erriet, rief laut: »I[[Steno]] Gott bewahre!« Die Autofahrt nach Aden, auf der wir an Hunderten mit Kamelen bespannten Wägelchen vorüberrasten, bot Reize besonderer Art. Durch schmutzige Araberstraßen, in denen wir langsam fahren lassen, um Einblicke in die offenliegenden Wohnräume zu bekommen, führt der Weg durch Felsspalte und Tunnels hindurch, hinter denen plötzlich auf einem zerrissenen riesigen Kraterkessel die Stadt Aden sichtbar wird. Niedrige, weiß getünchte arabische Häuser, englische Kasernen mit exerzierenden Soldaten, ein großer Lagerplatz für Kamelkarawanen und als Ziel der Fahrt die berühmten in den Fels gehauenen Zisternen zur Sammlung des Regenwassers. Seit Jahren hat es hier nicht mehr geregnet. Die Riesenbassins sind leer. Wir steigen aus und bummeln durch die belebten Arabergassen, ehe wir die Rückfahrt antreten. Lebhafter Handel. Vornehmlich mit Straußenfedern. Aber auch mit Perlen, Tabak, Kaffee, Häuten, Fellen, Gummi und Aloe. Den Verkehr mit den Küstenländern Arabiens und Afrikas besorgen kleine Dampfer, die man wieder außerhalb der Stadt, von der großartig angelegten Felsstraße her zu Dutzenden auf dem Meere sieht. Pyramiden von Salz, das aus dem Meerwasser gewonnen wird, dazwischen kleine Windmühlen zum Pumpen des Wassers in die Verdunstungsbassins, beleben das Bild da unten, während das Auto den Berg hinuntersaust. In einem vierhundert Meter langen Tunnel karamboliert es mit einem Kamelfuhrwerk. Das Kamel stürzt, blutet. Das Auto ist beschädigt. Araber, Inder, Perser versammeln sich um uns und nehmen unter lautem Geschrei Partei für und wider. Ein junger, schwarzer Polizist steht ratlos. Die Situation spitzt sich zu. Ein englischer Offizier erscheint. Er fragt höflich beide Parteien, läßt zu Worte kommen, wer reden will – und lächelt. Die Araber, Perser, Inder blicken schon freundlicher. Der englische Offizier müht sich um das blutende Kamel – oder er tut doch so, gibt ein paar Ratschläge und ein paar Rupien und bewirkt, daß beide Parteien mit dem Gefühle, zu ihrem Recht gekommen zu sein, weiterziehen. – Muß man wirklich bis Aden reisen, um zu erkennen, daß es auch andere Mittel gibt, um Streitigkeiten zu schlichten, als rohe Gewalt? Mir scheint: nein! – es sei denn, daß beide Teile Kamele sind. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Von Aden nach Ceylon ist eine weite Reise. Zehn Tage und Nächte ohne Unterbrechung auf dem Meer. Also schnell noch einmal mit dem Motorboot an Land. Der Commandante ist ein viel zu großer Menschenfreund, um uns in Aden zurückzulassen. Unser Eifer hat seine Gründe. In Aden ist Fischmarkt. Wer weiß, was das bedeutet, kommt – wenn auch nur, um zu schauen! Ich kann nicht prüfen, ob es wirklich über zweihundert Arten Fische sind – wie man uns versichert –, die hier feilgeboten werden. Vier kapitale Haifische, von denen einer schon zur Hälfte verkauft ist, sind etwas Alltägliches, und man versteht nicht, was wir daran bestaunen. Wer gab all diesen Fischen Namen? Wie ist es möglich, sie dem Gedächtnis einzuprägen? – Unser China-Deutscher verblüfft von neuem. Er kennt nicht nur die Namen, er weiß auch die Preise, die Zubereitung und Bekömmlichkeit. Ich empfehle ihn der Aufmerksamkeit Karl Baedekers {{[Bae¬de¬kers]}}, der sich hoffentlich doch bald entschließt, seinem Indien ein China und Japan folgen zu lassen. – Der Geschmacksunterschied selbst in Größe und Aussehen sich ähnelnder Fische scheint groß zu sein. Wozu sonst die leidenschaftlichen Debatten einkaufender Eingeborenenfamilien vor dem Verkaufsstand von Fischen, die sich ähneln wie ein Hering dem andern? – Hingegen will mir die Ähnlichkeit eines weiblichen Menschen mit dem Meerwunder, der »Seejungfrau«, nicht eingehen, obschon Andernfalls[[Asien]] vor einem besonders gelungenen Exemplar begeistert ausruft: »Genau wie unsere Portiersfrau!« – Mir scheint, daß unsere prächtigen Seehunde der Nordsee denn doch mehr Anspruch auf die zweifelhafte Ehre haben, als Menschen angesprochen zu werden. Vom Wasser tönende Signale mahnen uns zur Rückkehr – und zehn Minuten später geleitet der Lotse unser Schiff aus dem Hafen. Fliegende Fische, die bis zu fünf Metern Höhe aus dem Meere emporschießen, am Tage, prachtvolle Sonnenuntergänge und ein leuchtender Sternenhimmel am Abend sind nun zehn Tage lang die einzige Abwechslung, die uns die Natur bietet. Andernfalls[[Asien]] und der junge Russe sind sich klar, daß Zerstreuung auf dem Schiff über dies Gleichmaß hinweghelfen muß. Sie[[1]] sinnen auf Unterhaltung. »Ihre für Indien bestimmten Seidenschals,« meint Andernfalls[[Asien]]. »Was ist damit?« fragt der Russe. »Wir veranstalten eine Ausstellung.« »Hier an Bord?« »Selbstverständlich!« Und am nächsten Tage gleicht der Salon an Bord einem indischen Märchen. Den kostbarsten Schal hatte Andernfalls[[Asien]] selbst umgelegt. Jeder begehrt ihn. Und der Umstand, daß er käuflich ist, erhöht den Reiz. – Der siamesische Graf kann sich nicht satt sehen. »Sie[[1]] können bestellen,« sagt Andernfalls[[Asien]], »die Chemnitzer Firma liefert in sechs Monaten.« Beatrice {{[Bea¬trice]}}, seine schöne schlanke Frau, steht neben ihm. Sie[[1]] wählt mit viel Geschmack und bestellt. »Ein Dutzend von jedem?« fragt Andernfalls[[Asien]] und tut arglos. Beatrice sieht sie erstaunt an. Der Graf erblaßt. »Sie[[1]] werden vermutlich doch für jede Ihrer Gattinnen …« fährt Andernfalls[[Asien]] fort. Der Russe pfeift irgendeine Melodie. »Und gesondert verpackt?« fragt sie weiter. »Was hat das zu bedeuten?« fragt Beatrice. Der Russe pfeift durch die Zähne. »Oder wünschen Sie[[1]] für die übrigen elf Gattinnen andere Muster?« wendet sich Andernfalls[[Asien]] an den Grafen. Beatrice begreift. Sie[[1]] benimmt sich wie eine Romanfigur, geht ein paar Schritte auf den Grafen zu, brüllt: »Du Lump!« und verschwindet in ihrer Kabine. Durch Andernfalls[[Asien]], die allein Zutritt hat, läßt sie dem Grafen, der scheinbar alles tut, sie zu versöhnen, bestellen, daß sie erst hinter Penang, also wenn der Graf ausgestiegen ist, wieder an Deck kommen wird. Noch ist der Übergang der syrischen Sklavin in Andernfalls[[Asien]]' Dienste nicht vollzogen, da steigt mit Beatrice eine neue Gefahr auf. Andernfalls[[Asien]] erklärt nämlich, daß wir die Pflicht hätten, uns Beatrices anzunehmen. – Beatrice gefällt mir zwar ausgezeichnet – aber alles hat seine Grenzen. Der Graf, der sieht, daß Beatrice für ihn verloren ist, weicht nicht von meiner Seite. Er spricht fortgesetzt von »Allenfalls« – womit er »Andernfalls[[Asien]]« meint – und versucht, mir klarzumachen, daß er unmöglich ohne Frau, zu deren Empfang alles in der Heimat vorbereitet sei, heimkehren könne. Ich verstehe! Aber meine[[Besitz]] Einwände, die er »kleinlich« und »echt europäisch« nennt, bleiben ohne Eindruck. Um so überzeugender wirkte der Bescheid, den ihm Andernfalls[[Asien]] auf seine Werbung hin gab – und zu dem der Russe wieder seine Melodie pfiff. – »Na,« sagt gegen Abend der Commissario, der nächst dem China-Deutschen hellste Kopf an Bord, »auf so einer Seereise erlebt man doch was.« »Das wäre alles sehr schön,« erwidere ich, »wenn dieser ›man‹ nicht gerade ich wäre.« »Erlauben Sie[[1]],« widerspricht er, »der leidende Teil ist doch der Graf aus Siam.« Mir, der ich weiter sehe, erscheint das zweifelhaft, und nachts träume ich, obschon der Indische Ozean spiegelglatt liegt: es war Herbst und ein Schiff lief in den Hafen von Triest ein. Ein Mann entstieg ihm, der mir zum Verwechseln ähnlich sah. Und diesem Manne folgten zwölf Frauen. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Wenngleich, was im Innenraum des Schiffes geschieht, dank dem vollendeten Takt des Maestro, nicht an die große Glocke kommt, so spürt doch jeder, daß die Luft schwül ist – und daß diese Schwüle nicht allein von den Tropen kommt. Das hat zur Folge, daß der Pater wieder zum Gebetbuch greift und die Nonnen täglich wieder fromme Lieder singen. – Das Zwischendeck, auf dem ein buntes Volk von Indern, Syriern, Persern, Ägyptern, Arabern, Somalis kampiert, gleicht weniger einer Wohnstätte als einem Jahrmarkt. Zur Zeit wird um einen Buchara {{[Buch¬ara]}} gehandelt. Fünfundzwanzig Pfund Sterling sind gefordert, zehn Pfund geboten; ein lächerlicher Preis für dies schöne Stück, das man in Deutschland mit zwölfhundert Mark bezahlt. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Colombo. »Der wichtigste Platz an der Welthandelsstraße nach Ostasien und Australien. Die Hauptstadt von Ceylon. Der Sitz des Großhandels. Die Residenz des Gouverneurs.« – Das alles schreibe ich aus dem Baedeker ab. Jedenfalls also eine von den ganz großen Begebenheiten. So etwas, was drei Sterne bekäme, wenn es eine Sehenswürdigkeit »an sich«, ein Absolutivum wäre. Betrachtet man es als solches, so wirkt es wie ein indisches Märchen mit {{Aperçus}} von {{Oscar Wilde}}. Oder wie eine Litanei, bespickt mit Paradoxen. Also widersinnig. Und trotzdem anziehend. Etwa eine Viertelmillion Einwohner. In der Hauptsache Singhalesen; ferner Indo-Araber. Talmilen, Malaien, Parsen. Alles das lebt in niederen, unsauberen Häusern nach seinen Gebräuchen und Gesetzen. – Und auf diese dunkle bewegliche Masse sind ein paar tausend steife Engländer gestreut, die nun wie selbstverständlich darauf herumtrampeln. Der sogenannte »englische Bluff«, den wir vor neunzehnhundertvierzehn überlegen bewitzelten, sieht – genau wie der »amerikanische Barnumrummel {{[Bar¬num¬rum¬mel]}}« (ich zitiere den großen Völkerpsychologen Ludendorff, den Gott aller Ungeistigen) – außerhalb Deutschlands doch verteufelt nach {{the fact}} aus. Vor[[Präpos]] dem Kriege besaß Colombo eine deutsche Fremdenkolonie von nur fünfzig Köpfen. Aber diese fünfzig standen in hohem Ansehen. Heute noch erzählen die Europäer, denen der Krieg nicht das Gehirn restlos vergiftete, daß – ruft es euch in Erinnerung, Söhne Albions! {{[Albions]}} – selbst die englische Kolonie in Colombo mehr Wert darauf legte, zu dem Ball des deutschen Konsuls Freudenberg (die anerkannt beste deutsche Marke des Ostens vor dem Kriege) geladen zu werden als zum Ball des englischen Gouverneurs. Der Ball Freudenberg war das Ereignis der Saison. Und heute? Zwar raten die von London geschickt inspirierten Zeitungsartikel (nicht nur des »Colombo Observer«), die Atmosphäre endlich zu entgiften (nicht Deutschland zuliebe; sondern, wie an langen Zahlenreihen nachgewiesen wird, im englischen Handelsinteresse), aber in Wirklichkeit ist der Deutsche hier – und zwar in Ceylon mehr als anderswo – Paria. Selbst die rein sportlichen Klubs ohne gesellschaftlichen Verkehr sind und bleiben ihm, auch als Gast, verschlossen. – Schweizer suchen mit Geschick in die Lücke, die Deutschland hinterließ, einzurücken. Wir müssen fürs erste froh sein, daß sie das Erbe mit Würde[[würdig]] verwalten. – Ceylon ist beinahe so groß wie das Königreich Bayern. Also enthüllt man alle paar Monate mit aus London entlehntem Pomp bald hier bald da ein Kriegerdenkmal, »um die Erinnerung wach zu halten«. – Man liest die hiesigen Blätter und staunt, wie die Engländer es verstehen, zu diesem Volk in seiner Sprache zu reden. Gewiß: es geht in den englischen Kolonien – nicht nur in Indien – wieder allerlei vor, was sich gegen England richtet. Die Bolschewisten, fast gleichwertige Gegner, schüren. Auch sie stellen sich um und sind nicht versessen auf ihr System. (Ich muß immer daran denken, wie wir es im Kriege anstellten, die Sympathien der Schweiz zu gewinnen, indem wir diesem so ganz anders als wir fühlenden Volk die »Marke Preußen« als das alleinseligmachende Lebenselixier aufzudrängen suchten. Das Resultat war danach.) – Während ich diese Zeilen schreibe, urteilt man in Ceylon einen Singhalesen ab, der, um einen angeblich bei den Festungswerken vergrabenen Schatz zu heben, einer Frau den Kopf abschlug, in dem Glauben, dadurch werde ihm höhere Eingebung die richtige Stelle weisen. Wie liebevoll, um das religiöse Gefühl der Eingeborenen, die leidenschaftlich dem Prozeß folgen, zu streicheln, vertieft sich hier der Richter in die Psyche des Angeklagten! Die Bevölkerung billigt das harte Urteil, das auf Tod lautet. – Ich kann mir nicht helfen, aber ich mußte die ganze Zeit über daran denken, wie aus dem Handgelenk ein königlich preußischer Regierungsassessor, L d R und Alter Herr des Kösener {{[Kö¬se¬ner]}} S C (denn diese Befähigungsnachweise waren Voraussetzung derartiger Posten), »die Sache geschmissen« hätte. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x In Colombo reicht die Zeit nicht annähernd zur Besichtigung des Sehenswertesten. Andernfalls[[Asien]] drängt über Kandy {{[Kan¬dy]}} hinaus. Der siamesische Graf (ich bin darin vorsichtiger) hat ihr von den Perlen Ceylons erzählt, deren »paars« vor der Nordwestküste Ceylons liegen. Der Russe, der mit seinen Chemnitzer Waren – noch haben sie den englischen Zoll nicht passiert – gerührt Abschied nimmt, will uns auf Panther, Bären, Wildschweine, Affen, Hirsche, Büffel, Krokodile, Schlangen und Elefanten hetzen. Der China-Deutsche rät, ein Automobil zu nehmen und in aller Behaglichkeit auf der {{Galle Face Road}}, der wunderbarsten Korsostraße der Welt, spazierenzufahren. Mich zieht's nach Kandy. Zwar ist die Zeit knapp. Aber mit Übernachten reicht sie gerade, um einen Blick in die Hauptstadt des Singhalesenreiches zu werfen. – Die Fülle der Gesichte blendet. Da liegt Dalada Maligana {{[Da¬la¬da Ma¬li¬ga¬na]}}, einer der heiligsten Wallfahrtsorte des Buddhismus. Hier wird der Zahn Buddhas aufbewahrt. – Über einen Hof gelangt man in die Eingangshalle, wo herrliche Blumen zur Opferung vor dem Zahn angeboten werden. Man betritt die heilige Kammer. Auf einem silbernen Tisch steht die Karanduwa {{[Ka¬ran¬du¬wa]}}, in der der heilige Zahn aufbewahrt wird. Andernfalls[[Asien]] fällt – zum ersten Male – aus der Rolle. Statt in die Knie zu sinken und mit der schönen Stirn den Boden zu berühren, bricht sie angesichts der mit schimmernden Rubinen, Saphiren und Smaragden bedeckten Hüllen, unter denen der Zahn ruht, in laute Rufe der Begeisterung aus. Der Priester hält es glücklicherweise für den Ausdruck religiöser Leidenschaft. Die Ernüchterung folgt sehr schnell. Denn das braune Stückchen Elfenbein, Buddhas linker oberer Augenzahn, enttäuscht sie sichtlich. Sie[[1]] hatte eine taubeneigroße, gelblich schimmernde Perle erwartet und will nicht glauben, daß der große Buddha so ordinäre Zähne hatte. Auch die Fahrt durch den Botanischen Garten von {{Pera¬déniya}}, in dem Lianen und Orchideen wachsen wie bei uns der Hafer, vermag nicht, ihr über diese Enttäuschung hinwegzuhelfen. Und im Elefantengarten, dessen nicht überragende Tiere sich zur Schau stellen, als fühlten sie sich als die berufensten Versuchsobjekte für fotografische Kameras, meint sie, auf den übrigens nicht eben imposanten Zahn des größten Elefanten weisend: »Wenn Buddhas Zahn wenigstens so aussähe!« – Erst als wir statt weiterer Sehenswürdigkeiten die Pferderennen von Kandy aufsuchen, auf denen gutgewachsene Engländerinnen neueste Modeschöpfungen spazierenführen, ruft sie befriedigt: »Himmlisch! Endlich wieder ein Tropfen Kultur!« Die Lianen und Orchideen senken die Köpfe – und ich schlage mich seitwärts in die Palmen. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="7._Kapitel" &&fa Siebentes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Einen Tag länger in Colombo! Das hätte man wissen sollen! – »Auf Tiger hätte ich gern mal wieder gejagt,« sagt ein Holländer. Der China-Deutsche belehrt ihn. Der Tiger ist so ziemlich das einzige Raubtier, das auf Ceylon nicht vorkommt. Aber Elefanten, Panther, Bären, Wildschweine, Affen, Viverren {{[Viver¬ren]}}, Mungo, Hirsche, Büffel, Krokodile und Schlangen gibt's in Fülle. »Davon interessieren mich höchstens die Affen,« erklärt Andernfalls[[Asien]]. »Mit den anderen Tieren kann man nichts anfangen.« »Erlauben Sie[[1]],« widerspricht der Amerikaner, »an einem Wildschwein kann man sich delektieren.« »Aber man kann kein Kleid damit besetzen.« »Empfinden Sie[[1]] es nicht als grausam,« fragt der amerikanische Missionar, »auf unschuldige Tiere zu jagen, nur um sich zu putzen?« »Wer sagt Ihnen, daß sie unschuldig sind?« fragt Andernfalls[[Asien]]. »Sie[[1]] leben in der freien Natur nach den Gesetzen Gottes und verlangen nichts weiter von uns Menschen, als daß wir sie in Frieden lassen.« »Und Ihre Chinesen? Verlangen die mehr?« fragt Andernfalls[[Asien]]. »Ist der Chinese ein Tier?« »Nach Ihrer Ansicht &&c=8 ja. &&c=0 Denn Sie[[1]] haben mir selbst erklärt, Sie[[1]] wollen Menschen aus ihnen machen.« »Wir werden uns nie verstehen,« sagt der Amerikaner und wendet sich ab. Ich mache Andernfalls[[Asien]] Vorwürfe. Aber sie wehrt ab und sagt: »Heuchelei ist mir zuwider. Daher stoße ich auch überall an, weil ich nicht heucheln kann.« »Bleiben Sie[[1]] so,« meint der Graf aus Siam. »Es steht Ihnen vorzüglich.« »Sind alle amerikanischen Missionare so?« fragt Andernfalls[[Asien]], und der belgische erwidert: »Aber nein! Sie[[1]] tun ihr Bestes. Wie auch er zum mindesten glaubt, es zu tun.« »So &&c=8 müssen &&c=0 Sie[[1]] sagen, lieber {{père}},« meint sie. »Aber Ihnen lese ich aus den Augen, was Sie[[1]] denken.« »Was wollen Sie[[1]] damit sagen?« »Daß Sie[[1]] nicht heucheln können.« »So wenig wie Sie[[1]].« – Er reicht ihr die Hand und meint: »So ein Mensch wie Sie[[1]] könnte viel Gutes tun in China.« »In Siam auch,« sagt der Graf. »Als was?« fragt Andernfalls[[Asien]]. Der belgische Priester erwidert: »Sie[[1]] brauchen nur &&c=8 da &&c=0 zu sein – so wie Sie[[1]] hier unter uns sind.« »Das wäre keine ausreichende Beschäftigung für mich.« »Als Atmosphäre, als reine Luft, die man in Ihrer Umgebung atmet.« »Ich muß auch sagen,« meint der Graf aus Siam, »daß die Qualitäten von Madame nicht genügend ausgenutzt wären.« »Zunächst sollten wir mal die Stunden in Colombo ausnutzen«, sage ich und dringe mit dem Vorschlag durch, in einem Motor Car ins Innere von Ceylon zu fahren. Hundert englische Meilen, also etwa hundertfünfzig Kilometer, rechnet man für eine Tagestour. Der Belgier will nach {{An¬wrad¬ha¬pu¬ra}}, dem ältesten Königssitz der Singhalesen und die zugleich sehenswerteste Ruinenstadt der Welt. Aber wir fahren in drei Motor Cars ohne festes Ziel die Westküste entlang. Im ersten der Graf, ein Engländer, Andernfalls[[Asien]] und ich. Der Belgier, ein paar Amerikaner mit ihren Frauen im zweiten. Im dritten, das eigentlich nur zur Vorsicht dient und in dem wir Essen, Getränke und Decken untergebracht haben, der China-Deutsche mit dem {{Dottore di bordo}}. Nach etwa dreißig Kilometern hält es uns nicht mehr in unseren Wagen. Vor[[Präpos]] allem die Damen hören und sehen tausenderlei, was wir Männer als geborene Skeptiker anders deuten. Wir sollen überzeugt werden, daß dies Brüllen von Büffeln kam, daß hinter den Kitul-Palmen {{[Kitul-Palmen]}} dort eine Horde von Wildschweinen hauste, daß dort durch die Talipots {{[Tali¬pots]}} fliegende Füchse jagten und unten an dem silbergrauen See, der von weitem wie eine Bucht des Meeres anmutet, Riesenkrokodile lagern. Aber durch dies Gras und die Dschungeln zu gehen, ist kein Vergnügen. Der Dottore hat für Gamaschen gesorgt zum Schutz gegen die Landblutegel und Zuhen {{[Zuhen]}} – wohl auch gegen die giftigen Schlangen, obschon die, wo sie menschliche Tritte hören, fortgleiten. Als wir am Wasser anlangen, sichten wir an Stelle der Riesenkrokodile unzählige Kletterfische, die sich mit Hilfe der Dornen am Kiemendeckel so graziös wie tanzende Dackel auf dem Lande bewegen. »Hilfe!« schreit die Amerikanerin und weist auf das Südende des Teiches, der unmittelbar an das Meer grenzt. Den Zeiß heraus! Tatsächlich, es sind Krokodile. Zwar in weiter Entfernung. Doch die Damen sind gerechtfertigt. Den Augen der Amerikanerin häufen sich jetzt die Gesichte: sie sieht Delphine, Dugongs {{[Du¬gongs]}} und Haie. »Und dort links – was ist das?« »Ein Büffel im Kampf mit einer Kobra,« sagt der Engländer. »Allmächtiger!« schreit Andernfalls[[Asien]] und entfärbt sich. Die Amerikanerin wird unsicher: »Es kann auch ein Mungo sein. – Schreit ein Mungo?« fragt sie gleich darauf. »Hören Sie[[1]] es denn schreien?« sage ich. »Ich sehe es!« ruft sie. »Ganz deutlich. Es hat einen braunen Schwanz und ein grünes Maul, das sich hin und her bewegt. Und davor?« »Und was ist davor?« fragt Andernfalls[[Asien]] erregt. »Die Schlange! Jetzt …!« »Was ist jetzt?« »Jetzt sind sie dicht aneinander. Ganz dicht. – Hu! schrecklich!« »Entsetzlich!« schreit die Freundin und sieht weg. »Hat ein Büffel Stacheln?« fragt die Amerikanerin. »Nein!« entgegnet Andernfalls[[Asien]]. »Aber ich sehe es doch deutlich.« »Dann ist es kein Büffel,« meint der Engländer. »Aber warum soll auch ein Ceyloner Büffel keine Stacheln haben?« fragt Andernfalls[[Asien]]. »Das ist doch ein anderes als bei uns im Zoo.« »Es ist wie ein Fächer,« sagt die Amerikanerin. »Und bewegt sich.« »Wer siegt?« fragt die Freundin. »Ich weiß nicht. – Es wird ganz grün.« »Wer?« »Kann das Blut sein? Hat der Mungo grünes Blut?« »Ich weiß nicht.« »Oder die Schlange?« »Schon möglich.« Andernfalls[[Asien]] sagt: »So gib schon!« Zieht mir den Zeiß vor den Augen weg und stellt ihn ein. »Das eine,« sagt sie, »und zwar das Grüne, ist eine Palme.« »Ravenala {{[Ra¬ve¬na¬la]}}, die Fächerpalme,« ergänzt der China-Deutsche. »Und das Andere … Hochaufgerichtete, Gerade …« »Die Kobra.« »… die der Wind hin und her bewegt … ist …« »… ist eine Palmyrapalme, die hier häufig vorkommt.« »Aber da!« ruft Andernfalls[[Asien]] und weist hinter uns auf die Bäume. Tatsächlich, da saßen Affen, mittelgroß, gar nicht scheu – und mir schien, als machten sie sich über uns lustig. Die Amerikanerin lenkte ein: »Wenn es keine Kobra ist, dann ist es eine Kokospalme – aber nie im Leben eine Palmyra.« Wir gestanden ihr die Möglichkeit zu, fanden aber, daß nach diesem nervenerregenden Abenteuer Zeit zu einem Picknick war. Wir lagerten uns in prachtvoller Landschaft. Das Auto Nr 3 gab seinen kostbaren Inhalt her: Salate, Sardinen, Langusten, kaltes Fleisch, gebratene Hühner, Mehlspeise, Obst, 1889er {{Mon¬tra¬chet}} und 1906er {{Veuve Clic¬quot}}. Die Affen hinter uns auf den Bäumen leisteten uns angeregt Gesellschaft. Wir warfen ihnen die Nüsse hinauf und sie knackten sie uns. Aber sie verstanden uns falsch, denn sie aßen die Kerne und warfen uns die Schalen vor die Füße. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="8._Kapitel" &&fa Achtes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Hereinspaziert, meine[[Besitz]] Herrschaften! Wir haben jetzt richtiggehende Affen an Bord!« Und sie sind sehr schnell die ausgesprochenen Lieblinge sämtlicher an Bord befindlichen Nationen geworden. Das besagt viel, wo allein auf dem Zwischendeck mehr als elf verschiedene schwarze, braune, gelbe und weiße Rassen hausen. Wir haben nämlich in Colombo den Zirkus Harmstrong {{[Harm¬strong]}} an Bord bekommen. Etwa siebzig Personen und ebensoviel Tiere (Löwen, Tiger, Leoparden, Bären, Affen und erstaunlich viele und gute Pferde). Die Einschiffung vollzog sich reibungslos. Die Zwischendecker wurden höflichst gebeten, etwas zusammenzurücken, um den Raubtieren Platz zu machen – etwa wie bei uns die Fahrgäste in der überfüllten Straßenbahn. – Das durch die vielen dunklen Rassen an sich bunte Bild bekam dadurch eine neue Nuance. Dies Bild in seiner bewegten Buntheit festhalten – und man braucht fünfhundert Seiten, über »Die Völker des Ostens« nicht zu schreiben. Hier kitzelt ein splitternackter Malaienjunge, der an Hand- und Fußgelenken goldene Spangen und um den Hals eine goldene Kette mit Raubtierzähnen trägt, mit einem Bambusrohr den Rüssel eines der großen Elefanten; daneben frisiert eine siebzehnjährige graziöse Javanerin mit liebevoller Hingabe ihre vier Kinder; da spucken zwei halbwüchsige Tamilen um die Wette in den Tigerkäfig; ein paar Schritte davon liegen ein paar baumlange Araber in andächtigem Gebet; seitwärts davon belustigt sich eine schokoladefarbige Familie, deren Nationalität ich nicht kenne, damit, zwei kleine Affen des Zirkus mit Rum betrunken zu machen. Hier stillt eine Hindumutter ihren Säugling; dort auf dem Bretterverschlag mühen sich halbwüchsige Singhalesen vergeblich ab, die krausen Haare zu einem Scheitel zu glätten; dort zählt ein alter Siamese seine Silbermünzen, während neben ihm zwei Chinesen ihre Wäsche zum Trocknen seilen. Die Schauspiele im Zwischendeck genießen die Erste-Klasse-Passagiere wie ein Ausstattungsstück ohne innere Teilnahme. Andernfalls[[Asien]] und mich interessieren die Schicksale jedes dieser Menschen. Mit Hilfe des China-Deutschen knüpfen wir Beziehungen an. Es zeigt sich bald, daß diese Menschen eigentlich gar keine Schicksale haben. Weder denken sie nach, noch teilt sich ihnen äußeres Geschehen gefühlsmäßig mit. Wenn die schokoladefarbene Familie, die seit vierzig Jahren in Badulla {{[Ba¬dul¬la]}} auf Ceylon lebte, nach Singapore fährt, um die einträgliche Plantage eines verstorbenen Verwandten zu übernehmen, so vollzieht sich dieser Wechsel mechanisch. Das aber nenne ich nicht Schicksal und berufe mich auf Dehmel {{[Deh¬mel]}}, der irgendwo einmal sagt: &&rl=10 »Nehmen wir Geschehen für Leben, Haben wir's nicht recht verstanden; &&c=8 Menschenleben &&c=0 ist das Leben So nur, wie wir es empfanden.« &&rl=0 Alle diese Menschen haben ein primitives Gefühlsleben, nehmen Geschehen, wie wir etwa das Wetter nehmen, sind gedankenarm, steril – mögen sie nun Tamilen, Malaien oder sonstwie heißen. Andernfalls[[Asien]] bereitet mit dem jugendlichen Mr. Harmstrong eine Zirkusvorstellung an Bord vor. Ich muß ihnen helfen, das Programm entwerfen. Der Direktor, ein Zirkuskind, dauernd auf der Reise um die halbe Welt – Europa liebt er nicht –, stellt seinen gesamten, auf dem Schiff verwendbaren Apparat zur Verfügung, mit allem toten und lebenden Inventar, wenn Andernfalls[[Asien]] – Hohe Schule reitet. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, und was ein Zirkusdirektor will, setzt er durch. Fragt sich nur, ob auch bei Andernfalls[[Asien]]. – Ich muß gestehen, er operiert geschickt. Er wirbt um die Stimmen der Passagiere. Andernfalls[[Asien]] ist nun dank ihrer Eigenart, ihres guten Geschmacks und ihres Temperaments nicht wie die meisten andern einfach »der Passagier aus Kabine Nr 13«, vielmehr eine ganz bestimmte Persönlichkeit, ja, man kann ruhig sagen: eine Angelegenheit, um die sich jeder kümmert. Sie[[1]] hat Freunde und Feinde. Gleichgültig ist sie niemandem. Wer es nicht gut mit ihr meint – das sind unter der Führung des amerikanischen Missionars die meisten Amerikaner und ein paar Franzosen –, rät ihr leidenschaftlich zu, den Wunsch des Direktors zu erfüllen. Einmal, weil sie dann, mit dem etwas bitteren Beigeschmack einer Artistin behaftet, gesellschaftlich endlich abrutscht. Darauf warten die schon lange. Aber Andernfalls[[Asien]] tat ihnen bisher nicht den Gefallen. Dann aber – ich bin boshaft genug, es zu glauben – ist mit der Hohen Schule an Bord doch immerhin eine Gefahr verbunden. Und mir scheint, sie hätten nichts dagegen, wenn der Abrutsch recht gründlich, wenn möglich gleich bis in das viertausend Meter tiefe Meer hinab erfolgte. – Das Gros der Passagiere, das ihr wohlwill, wünscht ihre Teilnahme lediglich aus einer heiteren Stimmung heraus. Der eine und andere freilich freut sich auf den Anblick, gönnt &&c=8 ihr &&c=0 den Triumph und den anderen den Ärger darüber. Andernfalls[[Asien]] – ich wiederhole: dumme, deutsche Regierung! schickt Frauen wie diese in die Welt! Es gibt keine bessere Propaganda! auch in gehobener Stellung. Als Botschaftsrätin in Paris, Tokio oder London würde sie Wunder wirken und Berge verrücken, die Kriegs- und Nachkriegsjahre zwischen Deutschland und der übrigen Welt errichtet haben. Andernfalls[[Asien]] also ist Realpolitikerin. Was gilt ihr Gunst oder Mißgunst dieser Menschen? Ja, wenn Sinn und Zweck der Reise wäre, Sympathien für Deutschland zu werben! Aber aus Zeitvertreib? Nein! Da ist sie nicht Propagandistin. Ist nur Mensch. Und darf es sein. Andernfalls[[Asien]] also stellt Bedingungen. »Aha!« denkt der Amerikaner. »Sie[[1]] will verdienen,« und die schicke Französin, die innerlich mit ihr sympathisiert, flüstert ihrem Manne zu: »Du wirst sehen, sie verlangt das Pferd als Gegenleistung.« Aber Andernfalls[[Asien]] erklärt: »Ich will, um die Vorstellung zugunsten des italienischen Roten Kreuzes zu ermöglichen, singen – meinetwegen von einem Pferde oder Elefanten herab –, mit dem bißchen Hohe Schule aber, das Sie[[1]] mir in den fünf Tagen hier beigebracht haben, blamieren &&c=8 Sie[[2]] &&c=0 sich, nicht mich.« Dann zieht sie einen großen Zettel aus der Tasche und verlangt als Gegenleistung: a) Der hellgraue Elefant ist um mindestens einen Meter nach links zu rücken, da er mit seinem Rüssel ununterbrochen über die Matratze fegt, auf der die junge Malaienmutter mit ihren Kindern liegt. Die Kinder schweben dauernd in Angst und die junge Malaiin ist Tag und Nacht damit beschäftigt, mit einem Klotz den Rüssel des Elefanten zurückzuschlagen. b) Den Tamilenjungens ist unter Androhung von Prügeln zu verbieten, die Tiger anzuspucken. c) Die Affen dürfen nicht mehr betrunken gemacht werden. d) Die Käfige der wilden Tiere sind der Windrichtung folgend, so umzustellen, daß der Geruch nicht gerade in die Küche schlägt. e) Die Passagiere der ersten Klasse haben bis Singapore beim Lunch und Diner auf je einen Gang zugunsten der Zwischendecker zu verzichten. f) Die Passagiere der ersten Klasse verpflichten sich, das Zwischendeck nicht mehr als Schaubelustigung zu betrachten. Das gilt vornehmlich für die Zeit der Verdauungsstunde in großen Abendtoiletten nach dem Diner. »Sie[[1]] schätzen sich aber hoch ein,« sagt eine Amerikanerin. »Ich finde,« pariert die Pariserin, »daß in dem, was sie fordert, viel eher eine Kritik für uns liegt.« Sicher ist, daß Andernfalls[[Asien]] von diesem Tage an bei den Passagieren erster Klasse nicht beliebter war. Zwar fanden ihre Bedingungen einmütige Annahme. Aber die Heiterkeit, mit der man den Forderungen a–d zustimmte, wich trotz des Ja, das man sich abrang, doch sichtbarer Verstimmung. Die Stimmung bei der Vorstellung selbst war um so angeregter. Sie[[1]] fand erst Tage nach dieser Auseinandersetzung statt. Andernfalls[[Asien]] hatte – wovon nur ich und der Direktor wußten – die Zeit genützt. Sie[[1]] hielt ihr Wort. Am Abend, als das Hinterdeck in eine Zirkusarena und ein Teil des Promenadendecks durch Bänke, auf denen Kissen lagen, zum Zuschauerraum umgewandelt war, stand als vorletzte Nummer auf dem Programm: &&am »Andernfalls[[Asien]] … Hohe Schule.« &&ax Niemandem fiel auf, daß im Gegensatz zu den anderen Nummern das Pferd nicht genannt war. Der Grund zeigte sich bald, indem dies Pferd natürlich – ein Elefant war. Es war eine groteske Nummer. Die Hohe Schule des Elefanten. Andernfalls[[Asien]] selbst hatte sich aus den Fahnentüchern des Schiffes ein groteskes Kostüm gezimmert und sah wie ein weiblicher Bajazzo {{[Ba¬jaz¬zo]}} aus. Die groteske Wirkung – dies zierlich puppenhafte Persönchen auf dem breiten Rücken des Riesenelefanten war überwältigend. Die Art, in der sie jede Bewegung, die das gut dressierte Tier machte, glossierte – als einziges Hilfsmittel ein aus Pappe hergestellter Rüssel –, war einzig. Ihr Erfolg war so groß, daß der Direktor noch am selben Abend den Versuch machte, sie zum Herbst für San Francisco, Chicago und New York zu engagieren. Wirklich, dieser Beifall war ehrlich. Auch von der Seite, die sonst zurückhielt. Vor[[Präpos]] allem die Engländer und ihre Damen, die aus den Kabinen ihre sorgsam behüteten Orchideen holten und sie ihr mit artigsten Worten überreichten, schlossen sich nach diesem Abend freundschaftlich an sie an. Nur eine kleine Gruppe von Amerikanern blieb kalt. Ja, eine Amerikanerin konnte sich nicht beherrschen und sagte mit verkniffenem Munde so laut zu Andernfalls[[Asien]], daß jeder es hören mußte: »Die geborene Artistin!« »Schon möglich,« erwiderte Andernfalls[[Asien]] noch lauter: »Der Urgroßvater meiner Mutter war zur Zeit Friedrich Wilhelms III. der beste Reiteroffizier im Regiment.« – Und nach einer Pause, während der sie die Verdutztheit der Amerikanerin genießt, fährt sie fort: »Was war denn Ihrer? – Aus einem guten Stall zu stammen, ist viel wert.« – Und lächelnd fügt sie hinzu: »Man muß ihn aber auch kehren.« Ich nehme sie unter den Arm und führe sie fort. »Es war gut,« sage ich. »Aber es ist genug.« »Ich hätte es auch mit einem Wort machen können.« »Nämlich?« »Parvenü.« Auf dem Schiff herrscht buntes Leben. Es gibt Tage, an denen einem gar nicht zum Bewußtsein kommt, daß man sich auf dem Meer befindet. Man glaubt sich noch in der Nähe des Bengalischen Meerbusens und sucht nach den Nikobaren {{[Ni¬ko¬ba¬ren]}} und Andamanen {{[An¬da¬ma¬nen]}}, auf denen die Engländer eine Kolonie für Verbrecher errichtet haben, muß sich aber sagen lassen, daß das, was man sieht, das Nordende von Sumatra ist. Zu fragen, wem gehört dies oder jenes, hat man sich längst abgewöhnt. Es ist auch durchaus überflüssig. Ein Blick in den Baedeker, das noch immer zuverlässigste Reisebuch nicht nur in deutscher Sprache, genügt, um sich zu überzeugen, daß alles, was man sieht und nicht sieht, von dem man aber weiß, daß es in der Nähe liegt, England gehört, zum mindesten aber in irgendeinem festen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm steht. Das gilt für Penang, Malakka {{[Ma¬lak¬ka]}} und Singapore ebenso wie für die Malaiischen Schutzstaaten. Mögen noch soviel Sultanate sich zu einem Staatenbund zusammenschließen, die Macht hat der britische Generalresident, der dem Gouverneur der {{Straits}} untergeordnet ist, in Händen. Und so oder ähnlich ist es überall. Der Weltreisende erkennt sehr bald, daß trotz des überall sich laut hervordrängenden amerikanischen Elements und trotz der Versicherung unzähliger Staaten, autonom zu sein, England die Welt beherrscht. Er merkt aber auch, daß überall, wo England letzten Endes das entscheidende Wort spricht, Ordnung, Wohlstand und Freizügigkeit, also Kultur im guten alten Sinne, herrschen. Er bewundert den Takt, die Zurückhaltung und Klugheit, mit der, äußerlich unsichtbar, England das Regiment führt, und er bedauert, sofern er ein deutscher Patriot ist, daß wir diese uns angetragene Bundesgenossenschaft ablehnten. Sie[[1]] war gleichbedeutend mit der Herrschaft über die Welt; die Welt aber war groß genug zur völligen Entfaltung der Kräfte zweier Staaten. Nun werden England, Amerika und Japan unter Deutschlands Ausschluß um die Hegemonie ringen. In dem scheinbar friedlichen Ringen um China hat der große Kampf ohne Waffen schon begonnen. Eins steht, unabhängig von dem Ausgang, fest: Europa hat dabei nichts zu gewinnen. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x »Bitte, keine Politik!« mahnt Andernfalls[[Asien]]. Und sie hat recht. Zurück zu fröhlicheren Dingen! Beatrice, Gräfin S-M, ist ein Charakter, und es ist dem Grafen nicht gelungen, die diplomatischen Beziehungen zu seiner Gattin wiederherzustellen. So sehr sie unter der Tropenglut in der Kabine leidet – sie bleibt fest und unten. Andernfalls[[Asien]] vermittelt. Der Graf soll bereit sein, sich von einem Vierteldutzend Gattinnen scheiden zu lassen. Das genügt aber Beatricen nicht. Sie[[1]] stößt sich an dem System und sieht voraus, daß die drei Ausscheidenden eines Tages durch sechs Neue ersetzt werden. Andernfalls[[Asien]], die täglich stundenlang mit dem Grafen verhandelt, zeigt plötzlich Verständnis für dessen prekäre Lage. »Er wäre eine komische Figur und bei Hofe unmöglich, wenn er ohne Gattin nach Bangkok käme.« – Dasselbe versichert der Graf mir täglich ein halbes dutzendmal. »Der Graf hat in Colombo Perlen gekauft,« warnt mich der China-Deutsche, der in guten Beziehungen zu dem Sekretär steht. Da eine Gattin für mich etwas Ganzes darstellt und ich mit einem Zwölftel davon keinen Begriff verbinden kann, so vermag ich auch nicht zu beurteilen, ob für Andernfalls[[Asien]] in der Ehe mit dem Grafen eine Chance liegt. Ich halte mich also neutral. Im übrigen besitzt Andernfalls[[Asien]] mehr Geschäftssinn als ich, wird also schon das für sie Richtige treffen. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Stimmungsbild: Im Hafen von Colombo liegen acht englische, ein halbes Dutzend japanische, je zwei französische und italienische und ein holländischer Dampfer. Wir sind nach dem Diner. Ein deutsches Schiff fährt in den Hafen. Es ist die »Koblenz« des Norddeutschen Lloyd[[1]], die ihre erste Fahrt, und zwar nach Japan, macht. Der Engländer an Bord, ein höherer Beamter für Singapore, ruft: »Nanu – ein deutsches Schiff!« Ich erlaube mir zu fragen: »Was finden Sie[[1]] daran so sonderbar?« – Und die Amerikanerin vermittelt: »Es kommt gewiß nicht in böser Absicht.« Der Engländer lächelt, als wollte er sagen: Und wenn es schon in böser Absicht käme. »Ich kann mich noch erinnern,« meint ein alter Italiener, »es ist noch gar nicht so lange her, da sah man in Colombo genau soviel deutsche wie englische Schiffe.« Der englische Beamte widerspricht. Der Italiener überhört es. Die einlaufende »Koblenz« tutet, als habe sie die Absicht, von dem ganzen Hafen Besitz zu ergreifen. »Warum nur gleich wieder so großschnäuzig,« meint Andernfalls[[Asien]]. Ich sage zu der Amerikanerin: »Die Engländer fuhren vor dem Kriege mit Vorliebe auf deutschen Schiffen.« Ein Blick des vorübergehend tauben Engländers will mich vernichten. Der Italiener stützt meine[[Besitz]] Behauptung und nennt Zahlen. »Ein tüchtiges Volk,« sagt die Amerikanerin. Und einer der italienischen Offiziere berichtet, daß die Ankunft eines Schiffs des Norddeutschen Lloyd[[1]] für Colombo ehemals so etwas wie ein {{half holy¬day}} gewesen sei. Die »Koblenz« wirft eben Anker, da nähert sich der etwa zwölf tausend Tonnen fassende Koloß »Angers« {{[An¬gers]}} dem Hafen. Er tutet noch lauter als die »Koblenz«. »Ein Franzose!« belehrt uns der Offizier, noch ehe wir die Flagge erkennen. Der Engländer, der noch immer neben mir steht, kneift die Lippen zusammen, flucht so etwas wie »Gott verdamm mich!« – und stürzt in seine Kabine. Der Amerikaner lächelt breit und sagt: »Ein zweites deutsches Schiff hätte er am Ende noch vertragen – aber einen Franzosen …!« &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Intermezzo: Im Gang zum Maschinenraum hat ein Maschinist das Bild {{Ga¬briele d'An¬nun¬zios}} befestigt. Der erste Maschinist erzählt mir: »Jeder italienische Matrose besitzt sein Bild,« und der Ingenieur versichert: »Er ist ihr Gott!« – Ich weiß nicht, ob ich schon sagte: Ich fahre auf einem italienischen Schiff. Wir sind bald zwei Monate unterwegs nach Japan. Wenn man es bei 35 Grad des Nachts in der Kabine nicht aushält, geht man an Bord. Da erschließt man sich seinem Gott – aber auch von Mensch zu Mensch wird man mitteilsamer. – Ich ahnte nicht, daß {{d'An¬nun¬zio}} heute noch diese Rolle in Italien spielt. Ein Kaufmann aus Genua versichert: »Mussolini, gewiß! Wer weiß, ob wir ohne ihn nicht den Bolschewismus hätten. Er ist Politiker und Opportunist, der sich und seinem Lande genützt hat. Er ist ein reicher Mann geworden. Der nach ihm kommt, wird auch ein reicher Mann werden. Wird er aber auch Italien nützen? Aber {{d'An¬nun¬zio}}! Er ist die Seele Italiens! Wissen Sie[[1]], daß seine Sprache schöner ist als die Dantes? Er ist sechzehnmal verwundet worden und hat ein Auge verloren. Und in Frankreich« – der Italiener ist höflich; er meint vermutlich Deutschland – »wagen Leute, die ihn nie sprechen hörten, zu sagen, er sei ein Komödiant.« Ein Arzt aus Bologna {{[Bolo¬gna]}}, der nach Penang fährt und die ganzen Wochen über der Politiker an Bord war, erklärt, von mir über {{d'An¬nun¬zio}} befragt: »Mussolini tut nichts, was {{d'An¬nun¬zio}} nicht weiß,« – und er beruft sich als Zeugen auf den Deputierten Martini. – Also abermals {{d'An¬nun¬zio}} ist der gesteigerte Mussolini. – Eine italienische Pianistin von Ruf erzählt: »Ich hatte ihn in Rom gesehen. Ich fand ihn scheußlich. Im bürgerlichen Leben ein Lump. Äußerlich ein Affe. Glotzäugig, kahlköpfig, klein, so daß sein Dandytum grotesk wirkt. Eines Tages ließ er mich bitten, an einem Konzert für die Armen {{Fiu¬mes}} mitzuwirken. Ich trat ihm voller Vorurteile entgegen. Er sprach. Im selben Augenblick war ich in seinem Bann. Er sagte etwas von der Not der Armen und daß man helfen müsse. Ja, wie sagte er es nur? Er schuf ein Gemälde aus Musik. Ob es das gibt oder nicht – es wirkte so. Ich ergriff seine Hand, küßte sie und wäre bis ans Ende der Welt für ihn gereist.« Also, Herrschaften in Germany! Hinsichtlich dieses {{d'An¬nun¬zio}} lernt gefälligst um! Dieser »literarische Dandy« der »Lust« hat den göttlichen Funken. So leidenschaftlich ich Deutscher bin, ich kenne zur Zeit keinen deutschen Dichter, der ihn hat. Der ihn hatte, Frank Wedekind, starb vor sechs Jahren. Was hätte er darum gegeben, auf diesem Schiff, zusammen mit Nonnen und einem Zirkus, zu fahren! Die Weltliteratur wäre heute vielleicht um ein Schauspiel reicher. Die Atmosphäre auf dem Schiff ist förmlich von Wedekindschem Geist geschwängert. Man hat das Gefühl, jeden Augenblick muß einer seiner Geistesblitze aufzucken. Der Boxmeister des Zirkus trainiert sich morgens an Bord mit den halbwüchsigen Malaien. Nötig, zu sagen, daß Malaien bei 30 Grad Wärme keine Überzieher tragen? Ahnungslos und andächtig kommen von der anderen Seite die Nonnen gewandelt. Der China-Deutsche verhindert den Zusammenprall, indem er laut ruft: »Da liegt Sumatra!« und aufs Meer weist. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x »Doch die Natur, sie ist ewig gerecht.« – Der Dichter, der dies schrieb, irrt sich. (Dichter irren immer, wenn sie Werturteile fällen. Sie[[1]] sollen Profeten, nicht Kritiker sein.) Wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn man über Sumatra und Java allen Segen der Natur ausstreut, so daß man glaubt, man gehe im Garten Eden spazieren, während in Aden und Massaua und anderswo kein grünes Blatt den Boden ziert? Aber der Dichter meint es wohl anders. (Dichter meinen[[Meinung]] es immer anders. Wie sie es meinen[[Meinung]], erraten meist erst die Kommentatoren fünfzig Jahre nach des Dichters Tode. So daß sie selbst nie erfahren, wie sie es eigentlich gemeint haben.) Gestern abend hatte der Zirkus Harmstrong nach dem Diner zu einem Konzert geladen. Nur so – ohne Wohlfahrtskomitee und Ehrenausschuß. Auch so etwas gibt es – freilich nur außerhalb der deutschen Landesgrenzen. Das Besondere des Abends kam schon beim Diner zum Ausdruck. Auf den italienischen und holländischen Schiffen gibt es keinen Toilettenzwang. Man bleibt in den Tropen auch des Abends im weißen Kleid und weißen Jackett. Das führt dann bei besonderen Gelegenheiten zu einem Tohuwabohu {{[To¬hu¬wa¬bo¬hu]}}. Die Amerikanerin zwischen fünfzig und sechzig erscheint tief dekolletiert, perlenübersät, mit dreifachem Anstrich. Daneben der Holländer mit Schillerhemd und weißem Tagesanzug, der noch dazu von gestern ist. Ihm gegenüber der Ingenieur aus Toskana, der nicht recht weiß, soll er oder soll er nicht und die mittlere Linie wählt: weißer Smoking und schwarze Hose. Nur Andernfalls[[Asien]] ist korrekt. Sie[[1]] trägt ihr schlichtestes Abendkleid – und einen schimmernden Smaragd, den ich nicht kenne. Der schaut mich so herausfordernd an, während Andernfalls[[Asien]]' Augen so unsicher blicken, daß ich sofort begreife. »Du sprichst in Brillanten,« sage ich zu ihr, und sie erwidert: »Ich opfere mich!« – Ich küsse ihr die Hand und sage: »Ich gratuliere, Gräfin!« »Du wirst dich Beatrices und der syrischen Sklavin annehmen?« »Soweit sie meinen[[Besitz]] Rat gebrauchen, selbstverständlich!« »Wenn du wüßtest, wie schwer mir ist.« Ich erspare ihr den Gefühlsausbruch, indem ich ihr ein paar Ratschläge für Siam gebe, die ich dem China-Deutschen verdanke. Das Konzert beginnt. Andernfalls[[Asien]] sitzt zwischen dem Grafen und mir. Wir halten uns alle drei vorzüglich. Die Zirkusleute spielen und singen. Ganz neue Lieder: »{{O sole mio}}« – »Santa Lucia« und schließlich »{{Quand l'amour meurt}}«. Andernfalls[[Asien]] sieht mich an. Ich gebe ihr zu verstehen, daß durchaus kein Grund vorliegt, und so unterläßt sie es, sentimental zu werden und ihre Tränen zu vergießen. Plötzlich stürzt alles zur Reling. Auf dem Meer, gar nicht weit vom Schiff, liegt regungslos ein – Walfisch und schläft. Ich halte es für ein Wrack. Aber die Amerikaner, die durchaus ihre Sensation haben wollen, bleiben dabei, daß es ein Walfisch ist. Den Streit beendet eine Italienerin, die meint, daß weder ein Wrack noch ein Walfisch Grund genug sei, das Konzert zu unterbrechen. Die Musik setzt wieder ein, wo sie aufgehört hatte, und die Liebe fährt fort zu sterben. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="9._Kapitel" &&fa Neuntes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Unmittelbar vor Penang. Der Graf aus Siam fühlt sich bemüßigt mit mir zu plaudern – so {{en pas¬sant}} – zwischen zweitem Frühstück und Lunch – während ich der Fütterung der Raubtiere des Zirkus zuschaue – im Plaudertönchen – so wie man vom Wetter spricht – oder von den Chancen des nächsten Rennens: man berührt nur die Tasten, ohne sie anzuschlagen – »{{glisser}}« nennt es der Franzose – so mit dem Empfinden: »eigentlich müßte man«, aber da die Chance, gut abzuschneiden, gering ist, so weicht man so elegant wie möglich den Hindernissen aus, statt den Versuch zu machen, sie zu nehmen. Übersehen kann man sie nicht. Dazu sind sie zu augenfällig. Und darüber stolpern möchte man auch nicht. »Wie das so alles kommt,« beginnt er in einem Englisch, das noch schlechter ist als meins. (Aber Andernfalls[[Asien]] wird es ihm schon beibringen.) »Immer so, wie man denkt,« erwidere ich. »Selten anders.« »Es kommt mir vor wie ein Traum.« »Das kann ich von mir nicht behaupten.« »Wenn ich sagen sollte, wie es gekommen ist – ich käme in Verlegenheit.« »Es liegt mir fern, Sie[[1]] in Verlegenheit zu bringen.« »Sie[[1]] sind nachsichtig und gütig.« »Ich bin vorurteilslos.« »Über die deutsche Frau geht nichts.« »Man merkt, daß sie Ihr Geschmack ist.« »Wenn man mich heute vor die Wahl stellte – ich wüßte nicht, ob ich mich für Beatrice oder Andernfalls[[Asien]] entscheiden würde.« »Vermutlich für Beide.« »Kaum.« »Wegen der Zahl dreizehn?« »Nein. Aber den Europäerinnen, so sehr ich sie liebe, fehlt die Großzügigkeit der Asiatin.« »Wie meinen[[Meinung]] Sie[[1]] das?« »Sie[[1]] sehen ja Beatrice. – Wenn alle Frauen so dächten, wo blieben wir Männer?« »Sie[[1]] hätten es ihr vor der Ehe sagen müssen.« »Aber nein! Sie[[1]] haben doch den Beweis des Gegenteils.« »Sie[[1]] meinen[[Meinung]], daß sie dann nie Ihre Frau geworden wäre?« »Natürlich.« »Und nun?« frage ich. »War sie doch mein.« »Darauf allein kommt's Ihnen an?« »Ja, worauf denn?« »Auf Liebe und Kameradschaft.« »Eben von der Liebe spreche ich ja.« »Es gibt doch auch noch eine andere Liebe.« »Nein! Nicht bei uns. Wir sind gesund. Europa geht an seiner Sentimentalität zugrunde.« »Möglich, daß wir dem Gefühl zuviel Platz einräumen, aber dann bleibt doch immer noch die Kameradschaft.« »Zwischen Mann und Frau? – Ist das Ihr Ernst?« »Vollkommen.« »Das kann dann doch nur auf Kosten der Liebe geschehen.« »Im Gegenteil, es vertieft sie.« »Die Frau darf keinen anderen Gedanken haben als den Mann an sich.« »Sie[[1]] muß an den Gedanken des Mannes teilnehmen.« »Am Ende auch an seinen Sorgen und Geschäften?« »Durchaus.« »Und Sie[[1]] verlangen, daß sie dabei heiter bleibt und hübsch und an ihre Pflege denkt, um dem Mann zu gefallen?« »Ja,« sagte ich – nicht ganz aus Überzeugung. »Solche Frau gibt es nicht. – Nie wird sie geboren werden. – Sie[[1]] nehmen der Liebe, also der Frau das Beste, was sie uns geben kann. Sie[[1]] mischen Ingredienzien in die Liebe, die ihr einen säuerlichen Geschmack geben und vielleicht dem Magen, vorübergehend also auch der Stimmung, zuträglich sind. Aber Sie[[1]] verwässern damit die Liebe, Sie[[1]] ernüchtern sie. Das verträgt sie nicht. Sie[[1]] verliert das Aroma, damit das Wesentliche. Sie[[1]] wird eine Alltagssache, während sie dazu da ist, uns den Alltag erträglich zu machen und auf Stunden von ihm abzulenken. So wird sie eine, ich möchte sagen, häusliche Angelegenheit, wird nüchtern, wird Gewohnheit. Schade um Ihre Frauen, Doktor! Schade um die Männer, die bewußt sich um das Beste bringen, was ihnen der Himmel beschert.« »Haben wir nicht alle einmal so gedacht?« fragte ich mich, hütete mich jedoch es auszusprechen. Aber sympathisch wurde mir der Graf. »Haben Sie[[1]] das alles auch Andernfalls[[Asien]] erzählt?« fragte ich. Er sah mich mit vergnügten Augen an und sagte: »Ich habe mich gehütet!« »Sie[[1]] werden da vermutlich manches anders finden.« »Ich weiß. – Aber das reizt mich ja. Sie[[1]] ist ein Wunder.« »Sie[[1]] meinen[[Meinung]], daß Geist und Aufgeklärtheit das Frauliche in ihr nicht zerstört hat?« »Eben haben Sie[[1]] noch behauptet: die Frau wird nie geboren werden.« »Ja.« »Daß sie mit mir geht – aus Neugier, nicht aus Liebe – beweist, beweist, daß es nicht ganz so ist.« Ich hatte nicht geglaubt, daß er so scharf und nüchtern beobachtet. »Sie[[1]] werden ihr volle Freiheit lassen?« »Mein Wort darauf.« Er reichte mir die Hand, in die ich einschlug. »Wann wird sie Ihre Frau?« »Am gleichen Tage, an dem wir den Boden von Siam betreten.« »Ich wünsche Ihnen Beiden Glück,« sagte ich. »Danke! – Und sind Sie[[1]] beruhigt?« »Vollkommen.« Abends fand ich in meiner Kabine einen Smaragd, wie ich ihn ähnlich rein noch niemals sah. Ich nenne die Zahl der Karate nicht. Man würde sie mir nicht glauben. Eine Karte des Grafen lag dabei, auf der stand: &&am Sie[[1]] überließen mir einen Edelstein, für den ich keinen gleichwertigen zu vergeben habe. Um den guten Willen zu zeigen, machen Sie[[1]] mir die Freude und bewahren Sie[[1]] diesen Stein als Erinnerung an unsere gemeinsame Reise. &&ax Das war takt-, wenn nicht geschmacklos. »Ich hatte Sie[[1]] für feinfühliger gehalten, Graf!« erwiderte ich. »Bitte leiten Sie[[1]] den Stein an die Frau weiter, der er zukommt.« »Ich glaube Sie[[1]] richtig verstanden zu haben,« schrieb er mir noch in derselben Nacht, »und ließ den Stein in Ihrem Namen der Gräfin Beatrice überreichen.« »Sie[[1]] fallen immer mehr aus der Rolle,« gab ich zur Antwort. »Stein und Gräfin mögen zusammen gehören. Aber für Ihre Tauschgeschäfte fehlt mir jeder Geschäftssinn. Ich muß Sie[[1]] also ersuchen, die Gräfin zu berichtigen.« Folgende Zeilen des Grafen beendeten diese nächtliche Korrespondenz: »Ich habe die Gräfin Ihrem Wunsche gemäß berichtigt. Zum ersten Male in meinem Leben glaubte ich, es bei Ihnen Beiden mit Europäern zu tun zu haben, die nicht kleinlich sind. Mit Bedauern muß ich erkennen, daß ich mich in bezug auf Sie[[1]] irrte. Bleibt als einzige großzügige Europäerin Andernfalls[[Asien]]. – Das Wort, das ich Ihnen hinsichtlich Andernfalls[[Asien]]' gab, ist unverbindlich. Ich würde mich freuen, wenn Sie[[1]] sich selbst einmal davon überzeugten. Mein Haus mit allem, was es birgt, steht Ihnen jederzeit offen. –« Nun hätte eigentlich noch eine Auseinandersetzung zwischen Andernfalls[[Asien]] und mir stattfinden müssen. Das empfand auch Andernfalls[[Asien]]. Denn als ich nach drei Uhr hinunterging, stand sie wohl nicht zufällig auf dem kleinen Flur, an dem meine[[Besitz]] Kabine lag. Ich tat überrascht und fragte: »Nanu?« »Ich dachte, du schläfst.« »Ich hatte eine Unterredung mit dem Grafen.« »Wie findest du ihn?« »Gescheit.« »Nicht wahr?« »Ich habe auch den Eindruck, daß er alles tun wird, um dich glücklich zu machen.« »Trotzdem wirst du mir fehlen. – Mehr als ich dir.« »Möglich, da ich in meiner Welt bleibe, du in eine neue gehst.« »Ich bin so neugierig.« »Das warst du doch sonst nicht.« »Weil es sich nie lohnte. Aber diesmal …« »Gewiß, bei elf Frauen lohnt es sich schon.« »Das ist das wenigste. Ob es außer mir eine gibt oder elf. Das macht keinen Unterschied. Die gleichen sich. Zwei ist nie sieben und fünf nie elf. Wie ich ist keine.« »Da magst du recht haben.« »Aber das ganze Leben. Die Aufmachung und Fülle. Die Elefanten und Sklavinnen. Denke dir, ich allein habe zweiundachtzig.« »Sklavinnen oder Elefanten?« Sie[[1]] dachte nach und sagte: »Zusammen, glaube ich.« »Das macht dir Freude?« »Ich werde nett sein – und Neues sehen. Ich bin schon ganz ungeduldig. – Nur um dich tat es mir leid.« »Alles beisammen, das ist eben selten.« »Aber es könnte doch sein …« »In diesem Falle? – ich wüßte nicht.« »Bei all dem Neuen, da vergißt man – glaubst du nicht?« »Ich bin überzeugt.« »Denn das wäre gräßlich.« »Was?« »Wenn ich bei allem immer an dich denken müßte.« »Sieh vorwärts – nicht zurück.« »Wie meinst du das?« »Vom Grafen zum König – vielleicht ist das nur ein Schritt.« »Daß ich Königin von Siam …? Du, daran habe ich noch gar nicht gedacht.« »Es ist ja auch nur so eine Idee von mir.« »Aber eine gute! – eine ausgezeichnete! Wenn schon, denn schon. Ich war nie für halbe Sachen.« »Jetzt kommt mir das Ganze bald wie eine Operette vor.« »Aber mir nicht! Der Graf ist ja sehr nett. – Aber immerhin, was ist das schon, siamesische Gräfin? – Königin, das klingt ganz anders.« »Es tut mir leid, daß ich das angeregt habe.« »Verlaß dich drauf, darauf wäre ich auch von selbst gekommen.« »Setz' dir doch nicht solchen Unsinn in den Kopf.« »Jetzt hat das ganze Unternehmen für mich überhaupt erst einen Sinn. Irgendwas fehlte – das fühlte ich. Nun weiß ich's. Du bist doch klüger als ich.« »Ich sage dir, das ist Unsinn.« »Und ich erkläre dir, es wird gemacht.« »Du kennst weder die Sprache noch die Gesetze.« »Aber ich weiß, wie man Männer behandelt.« »Ich möchte dich vor einer Enttäuschung schützen.« »Wirklich, du traust mir nichts zu.« »Der Graf ist ein feiner und kluger Mann.« »Feine und kluge Männer gibt es in Europa auch. Dazu wandere ich nicht nach Asien aus.« »Aber davon war doch bis zu diesem Augenblick nicht die Rede.« »Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken, sagt Schiller, – es kann auch Goethe sein –. Jedenfalls soll er recht behalten.« Übermütig wirft sie sich mir an den Hals: »Deine Königin nimmt von dir Abschied. – Leb wohl, Lieber!« Ein paar Küsse und – wie ich deutlich fühle – auch ein paar Tränen – und sie eilt den Gang hinunter zu ihrer Kabine. In dieser Nacht schlief ich nicht mehr. Nicht, daß ich sie verlor, bedrückte mich. Zum ersten Male kam mir der Gedanke, sie könne sich selbst verlieren. – Es war zu spät Es ließ sich nicht mehr ändern. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="10._Kapitel" &&fa Zehntes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Am Mittag des nächsten Tages erreichen wir Penang. Der siamesische Graf mit Gefolge verläßt das Schiff. Andernfalls[[Asien]] mit langem indischen Schleier und in einem Kostüm aus weißer Kunstseide sieht bezaubernd aus. – Obgleich ich fühle, daß ich in diesem Augenblick eine etwas komische Figur bin, verschweige ich, daß ich mit der Lösung einverstanden bin. Glauben würde es doch keiner. Das Motorboot des Grafen verschwindet. Unzählige Sampans ({{[Sam¬pans]}} bunte, hinten offene chinesische Ruderboote) umschwärmen das Schiff. Ein buntes Volk von Händlern aller Art kommt an Bord. Ein Fakir zeigt seine Künste. Erstaunliches. Freilich: erinnert man sich der Wunderdinge aus den »Märchen«-büchern deutscher Reisedichter, so staunt man über das Fehlen alles Übersinnlichen. Wenn der Fakir Menschen vor unseren Augen auf rätselhafte Weise verschwinden und ebenso rätselhaft wieder erscheinen läßt, so läuft das, wie alle die anderen heiligen Wunder, auf meist sehr primitive Tricks hinaus. – Ein Wahrsager, der trotz seiner orientalischen Tracht und dunklen Hautfarbe aussieht wie ein deutscher Universitätsprofessor, sagt wahr. Sechs Wochen Fahrt trennen mich von Berlin und dieser Mann weiß alles, was ich in den letzten Jahren erlebt habe. »Sie[[1]] haben Ihr Vermögen verloren!« – »Herr!« erwidere ich, »um daran nicht zu denken, mache ich eine Reise um die Welt!« – »Das Geld wird wiederkommen,« behauptet er so felsenfest, daß ich noch in derselben Nacht die Träume eines Maharadschas hatte. – Am nächsten Morgen erscheint in meiner Kabine ein fescher, dunkler Penanger und behauptet, von mir an Bord bestellt zu sein, um mir – die Hühneraugen zu schneiden. Ich protestiere. Er holt Dutzende von Empfehlungen heraus. Auch deutsche: »Niemand schneidet so vorzüglich Hühneraugen wie Mr. Maladie.« – Da ich mir so schnell keine Hühneraugen wachsen lassen kann, so kaufe ich mich durch ein Empfehlungsschreiben frei: »Ich empfehle Mr. Maladie gern. Ich habe nicht das mindeste gespürt.« – Wie ich später erfahre, sind ihm allein auf unserem Schiff sieben Personen zum Opfer gefallen. Jedoch: das sind »Äußerlichkeiten«. Mehr Bedauern als diese Opfer verdienen alle, die nach Indien, China und Japan reisen, ohne Penang Hills zu sehen. Die Perle Hinterindiens. Sechshundert Meter über dem Meeresspiegel. Mit einer Aussicht, von der nicht nur die Penanger behaupten, daß sie die schönste der Welt sei. Hier fällt letzte Erdenschwere von einem ab. Man möchte niedersinken und danken – wüßte man nur, wem – für diese Wonnen. Vermessen, wer versuchte, für diese Schönheit Worte zu finden. – Kerr? {{[Kerr]}} – Nun ja! Er brächte am Ende auch dieses Wunder dem Verstande seiner Leser näher. Aber wohl dem, der hier nur mit dem Herzen fühlt, dessen Verstand gegenüber dieser Schöpfung seine Ohnmacht empfindet und von Sehnsucht nach der großen Liebe – mag sie nun Gott, Weib oder Mutter heißen – ergriffen, schweigt. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Während die syrische Sklavin tatsächlich mit Andernfalls[[Asien]] nach Siam geht, ist die Londoner Zofe bei Beatrice geblieben. Takt und Mitgefühl lassen mich fragen, ob ich der Gräfin meine[[Besitz]] Aufwartung machen dürfe. – Der Graf weiß, was sich schickt, er hat sämtliche Räume, die er mit seinem Gefolge bewohnte, mit Rücksicht auf Beatrices Pläne, die er nicht kennt, für die ganze Fahrt und Rückfahrt gemietet. – Beatrice läßt bitten. Beatrice sieht blaß aus. Das schwarzseidene Kleid schmiegt sich fest an den schlanken Körper. Sie[[1]] trägt um den Hals eine Kette taubeneigroßer Perlen. Eine lange Kette gelblich-weißer Perlen reicht ihr vom Hals bis zu den Hüften. Die schmale weiße Hand ziert nur der goldene Reif, den ihr der Graf in der Londoner Kirche auf den Finger zog. Sie[[1]] hat nicht Tragödie gespielt. Sie[[1]] hat gelitten. Man braucht nur die Augen zu sehen – und die tiefen Schatten. »Ich habe Sie[[1]] erwartet,« empfängt sie mich und reicht mir die Hand. »Wir haben das gleiche Schicksal.« Ich versuche klug zu reden und sage: »Nicht das, was uns trifft, ist Schicksal; sondern wie wir es aufnehmen.« »Da das aber auch in den seltensten Fällen von uns abhängt, so läuft es auf dasselbe hinaus.« »Vom Willen hängt alles ab.« »Was soll ich wohl wollen?« »Der Graf hat Sie[[1]], wie ich weiß, sichergestellt. Also haben Sie[[1]] es jetzt in der Hand, sich Ihr Leben zu gestalten.« »Gerade das glaubte ich, als wir London verließen, getan zu haben.« »Sie[[1]] sind enttäuscht worden.« »Das kann ich wohl sagen.« »Es wird nicht das erste und nicht das letzte Mal sein.« »Sie[[1]] haben eine Art zu trösten.« »Und Sie[[1]] eine Art, sich gehen zu lassen.« »Konnte ich mir das vielleicht bieten lassen.« »O ja.« »Ist das Ihr Ernst?« »Es kommt doch nur darauf an, was für ein Leben Sie[[1]] erwartet hat.« »Und wieviel Frauen meinen[[Besitz]] Mann erwartet haben, soll mir gleichgültig sein?« »Als Frau von Welt, ja. – Denn ob er neben Ihnen nun zehn Frauen oder zehn Geliebte hat – wo liegt da der Unterschied?« »Erstens ist das ein gewaltiger Unterschied – und dann: warum muß er zehn Geliebte haben?« »Vermutlich aus Gründen des Prestiges – oder der Konstitution.« »Möglich! Ich wäre dann eben seine Frau gewesen und die Anderen hätten eine untergeordnete Rolle gespielt.« »Die Geliebten? das glauben Sie[[1]] ja nicht! Die spielen immer die erste Rolle. – Die Frau hingegen, das ist ganz was anderes. Der ist man sicher. Der Geliebten nie. Das macht ja gerade das Verhältnis so reizvoll. Und da die eigene Frau die Freundin nicht kennt, welche Mittel hat sie da, sie auszustechen? Sie[[1]] aber hätten Glück, die Möglichkeit zu haben, die elf Frauen zu studieren. Sie[[1]] hätten sehr bald ihre Schwächen erkannt und herausgefunden, was an jeder einzelnen den Grafen reizt. Frauen, die man kennt, auszustechen, ist eine Kleinigkeit.« Beatrice wurde nachdenklich. »Er hätte es mir sagen müssen.« »Er fürchtete, Sie[[1]] zu verlieren.« »Darauf mußte er es ankommen lassen.« »Er hat sich vielleicht gesagt, daß Dinge, die in einem bestimmten Milieu, in diesem Falle also in London, ausgesprochen, abstoßend wirken, sich in der Nähe und in einer anderen Umgebung oft ganz harmlos ausnehmen.« »Elf Frauen bleiben immer elf Frauen.« »Nein! Elf Frauen in Siam sind weniger als zwei Frauen in Deutschland. – Und ganz allgemein ist für eine Frau eine Geliebte gefährlicher als drei Nebenfrauen. Die können bei geschickter Behandlung ihre Verbündete werden. Die Geliebte kann es nie.« »Da haben Sie[[1]] recht.« »Die Gefahr, daß der Graf sich neben zwölf Frauen noch eine Geliebte hielt, bestand für Sie[[1]] nicht.« »Ihrer Meinung nach hätte ich es also ruhig hinnehmen sollen?« »Hinnehmen schon – ob ruhig, ist eine andere Frage.« »Was hätte ich als Äquivalent fordern sollen?« Ich nahm ihre Perlenkette in die Hand und hob sie, als ob ich ihr Gewicht bestimmen wollte. »Perlen meinen[[Meinung]] Sie[[1]]? Wie hätte das auf ihn gewirkt?« »Für jede Frau, die er Ihnen unterschlug – es sind ja wohl elf – eine solche Kette. Sie[[1]] wären im Wert höher gestiegen als sein teuerster Elefant.« »Was für Vergleiche.« »Der Elefant ist ein heiliges Tier! Vor[[Präpos]] allem der sogenannte Weiße! Weil er selten, also kostbar, also teuer ist. Auf seine unbefugte Berührung steht der Tod. Sie[[1]] wären eine Heilige geworden! Ja, Sie[[1]] hätten die Gleichstellung mit dem Weißen Elefanten erreicht.« »Das hätte ich mir nie träumen lassen,« sagte sie etwas benommen. »Ich – eine Heilige!« »Sie[[1]] waren der Situation nicht gewachsen.« »Was hätten meine[[Besitz]] Bekannten in London und Berlin gesagt!« »Sie[[1]] hätten vermutlich Wallfahrten zu Ihnen unternommen.« »Die Ahnungen meiner Mutter hätten sich erfüllt.« »Wie – bitte?« »Sie[[1]] hat mich nie anders als ›kleine Heilige‹ genannt. Ich weiß nicht, ob Sie[[1]] wissen, daß ich mütterlicherseits von Gottfried von Bouillon {{[Gott¬fried von Bouil¬lon]}} abstamme.« »Kreuzfahrerin also?« »Ja! So hatte ich mir diese Ehe gedacht.« »Als einen Kreuzzug? – Hätten doch alle Frauen diese Auffassung von der Ehe! Es gäbe weniger Enttäuschte.« »So meine[[Meinung]] ich es nicht.« »Sie[[1]] wollten eine zweite Jeanne d'Arc {{[Jeanne d'Arc]}} werden. Schön genug dazu sind Sie[[1]].« »Aber nein! Ich wollte die Siamesen zum Christentum bekehren.« Ich sah sie an, um festzustellen, ob es ihr Ernst war. Es machte durchaus den Eindruck. »In wessen Auftrag?« fragte ich. »Im Namen Christi!« »Gewiß! – Aber wer gab Ihnen den Gedanken?« Beatrice zögerte. – Aber mein Interesse war erwacht. Da ich selbst zu den Jesuiten nach Japan ging, so mußte ich wissen, was dahinter war. Der Gedanke war – Beatrice hielt nicht lange damit hinter dem Berge und ich hätte es mir auch selber sagen können – amerikanischen Ursprungs. Aber – und das merkte sie erst, als ich auf Grund ihrer Erzählungen die Vermutung aussprach – auch diese Ehe war {{made in USA}}, war amerikanische Missionsarbeit. – Beatrices Frömmigkeit, die sich während der freiwilligen Gefangenschaft in der Kabine noch vertieft hatte, verlor in dieser Stunde an Innerlichkeit. »Diese Leute«, sagte ich, »kannten natürlich die Eheverhältnisse des Grafen und waren verpflichtet, Sie[[1]] aufzuklären. Viel eher als der Graf. Aber sie fürchteten diese Belastungsprobe.« »Sie[[1]] haben mich wie eine Königin ausgestattet und im Buddhismus unterrichtet. Sie[[1]] wollten, daß ich mir die Zähne emaillieren lasse. Na, so weit, daß ich meinen[[Besitz]] Körper verschandele, geht meine[[Besitz]] Frömmigkeit nicht. Koffer voll Panungs {{[Panungs]}} und Packanas {{[Packa¬nas]}}, Dutzende von goldgestickten Jacken und Seidenschärpen haben sie mir mitgegeben. Sie[[1]] haben mich in die Sitten und Gebräuche des Volkes, in die Klostersitten der buddhistischen Mönche eingeweiht und mir alle möglichen Methoden verraten, wie man ihnen beikommt.« »Die Leute haben eine gute Sache unwürdig geführt. Sie[[1]], Gräfin, sind frei von jeder moralischen Bindung. Sie[[1]] wollten sich für eine gute Sache opfern und haben das Recht und die Pflicht, jetzt an sich zu denken.« Das sagte ich, weil ich fühlte, daß sie es hören wollte. Viel richtiger wäre natürlich gewesen, ich hätte ihr klargemacht, daß in der Verheimlichung des Zwecks der Ehe dem Grafen gegenüber ein sehr viel größeres Unrecht lag als in der Verheimlichung von elf Frauen seinerseits. Jedenfalls erschien Beatrice im Glanz ihrer Schönheit und Perlen an diesem Abend zum ersten Male wieder beim Diner. Und ich fand, sie sah schon erheblich wohler aus. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Singapore, die Stadt der Rikschas. Man gewinnt den Eindruck, daß auf jeden der etwa zweihundertfünfzigtausend Einwohner mindestens ein Rikscha kommt. Außerdem auf je ein Dutzend etwa ein Autokar. Fußgänger sind in den meisten Straßen nur geduldet. Denn die Straße dient dem Verkehr und Fußgänger sind hier Verkehrshindernisse. Wenn ein Chinese oder Tamile einen bei fünfunddreißig Grad im Schatten eine Stunde lang im Trab durch die sonnigen Straßen gezogen hat, so verlangt er fünf Cents. Hat er Glück, so gelingt ihm dies einmal am Tage. Da es für den Reis reicht, der ihm den ärgsten Hunger stillt, so rechnet er das zu seinen guten Tagen. Genau so anspruchslos wie er sind die Malaien, Anamiten {{[Ana¬mi¬ten]}}, Siamesen, Birmanen. Missionare und Bolschewisten haben hier also noch ein weites Feld für sogenannte Aufklärungsarbeit in diesem, wie in jenem Sinne. Glücklicher werden diese Menschen, die kein Fleisch essen, nicht rauchen, nicht trinken, weder durch die Verleihung der Menschheitsrechte von Moskaus Gnaden, noch durch die Bekehrung zu Jesum Christum werden – es sei denn, daß die christlichen Europäer, zu denen sie in direkter oder indirekter Abhängigkeit stehen, sich nicht nur des Sonntags in der Kirche zur Bergpredigt bekennen. Auf &&c=8 sie &&c=0 sollte man die Missionare loslassen. Gelingt ihnen die Bekehrung der Christen zum wahren Christentum, so werden Hunderte von Millionen Chinesen – und nicht nur diese! – ganz von selbst die Taufe nehmen. – So! das mußte in dieser von Missionaren geschwängerten Atmosphäre einmal ausgesprochen werden. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Das weitaus Schönste an Singapore ist die Einfahrt in den Hafen. Auf den unzähligen, von herrlichsten Tropenpflanzen bewachsenen Hügeln liegen die geschmackvollen Villen der Europäer. Denn die auf Sümpfen aufgebaute Stadt ist ein Herd für Malaria. Eine Fahrt durch das Chinesenviertel versetzt einen in Staunen, daß hier Menschen wohnen. Und dabei wimmelt es von diesem bunten Volk, das ja dem Tode ganz anders gegenübersteht als wir. So erklärt es sich, daß auch die reichen Chinesen ihre Villen in nächster Nähe dieses Viertels haben, in dem natürlich auch der Tempel liegt. – Der erste chinesische Tempel, den ich betrat! Programmwidrig. Denn diesen großen Augenblick, auf den ich mich monatelang vorbereitet hatte, wollte ich in Hangchou {{[Hang¬chou]}} erleben. Nun traf es mich etwas unerwartet. Ich stand plötzlich mitten im Tempel vor den chinesischen Göttern, hörte Bonzen singen, beten und die Instrumente schlagen, beteiligte mich eigenhändig an dem Feuerwerk und fand – nein! ich will nach diesem ersten Eindruck nicht urteilen. Wesentlichstes: ob die Götter aus ihrer Starrheit sich lösten und in irgendeiner, wenn auch äußerlich nicht wahrnehmbaren Form in Kontakt zu den Bonzen traten, die wiederum die Verbindung zu den Betenden herstellten – dies Wesentliche vermochte ich nicht festzustellen. Auch die chinesische Beerdigung, die wir auf der Rückfahrt in respektvoller Entfernung miterlebten, brachte mir die Gefühle der Teilnehmer nicht näher. Dies meistverkannte Volk der Erde, mit dem die sogenannten Kulturnationen seit Jahrhunderten Schindluder treiben, wird vermutlich – und diese Erkenntnis dämmert neuerdings nicht nur den Japanern – einmal die Entscheidung über das Schicksal der Welt in seiner Hand halten. Bitte, keine Politik! – Als ich, lange, lange vor dem Kriege, die Ehre hatte, im Baden-Badener »Stephanie« {{[Ste¬pha¬nie]}} mit Seiner Fröhlichen Hoheit dem Sultan von Johore {{[Jo¬ho¬re]}} zusammen zu sein, ahnte ich nicht, daß ich zwanzig Jahre später meinen[[Besitz]] Geburtstag – &&c=8 vor &&c=0 seinem Palais feiern würde. Damals – ja! damals!! – jagten Seine Fröhliche Hoheit statt auf Elefanten noch auf junge Europäerinnen – und man war selbst ein Prinz Leichtsinn, der sich für drei große Wochen in Baden-Baden gern auf drei Monate in ein Schweizer Dorf bei Käse und Brot zurückzog. Damals – ja, damals! – kamen wir uns durch manches Band, das zarte Frauenhände knüpften, näher. – Heute – ach heute! – herrscht der Sultan unter Englands Protektorat zwar über den ganzen Süden der Malaiischen Halbinsel, darf an der Seite seiner englischen Gattin aber keinen Abstecher mehr nach Baden-Baden machen. Ich aber bin unterwegs nach Japan, unbekümmert, ob ich diesen Ausflug mit drei oder sechs Monaten bei Käse und Brot begleichen muß. – Wohl stand ich bewundernd vor dem Palais, wohl bestaunte ich deinen Botanischen Garten, der an Pracht beinahe an den von Singapore heranreicht. Wenn du mich aber fragst, ob ich mit dir tausche, so sage ich: nein! Denn du bist, ähnlich deinen berühmten Tigern, vor deren Zwinger ich lange stand, unter dem Protektorat deiner englischen Gattin an dein Palais gekettet, während ich, wenn auch schon etwas flügellahm, flattre, wohin Lust und Laune mich treiben. Immerhin bin ich auch an mein Schiff gebunden, das länger als mir lieb vor Singapore ankert. Aber ich tröste mich damit, daß selbst die Haie und Krokodile nicht immer können wie sie gern möchten. Der Eingang in die Privatbäder vor den Villen im Hafen ist ihnen durch dicke Drahtgitter, die bis auf den Grund reichen, versperrt. Wenn sie also Appetit auf Menschenfleisch haben, sind sie gezwungen, es sich wo anders zu suchen. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Im Hafen von Singapore treffen wir wieder mit der »Coblenz« {{[Co¬blenz]}} zusammen, die, statt wie wir in Penang, in Sabang {{[Sa¬bang]}} und Belabang {{[Be¬la¬bang]}} anlegte. Man musiziert und tanzt auf der »Coblenz« trotz der Gluthitze unentwegt weiter. Stewards, die die Blasinstrumente besser als das Servierbrett zu handhaben wissen, blasen drei- bis viermal am Tage: Mein Deutschland, was willst du noch mehr? – Die »Coblenz« ist kaum wieder in See, da fährt die »Münsterland« des Norddeutschen Lloyd[[1]] in den Hafen und wirft neben einem der Riesendampfer der {{Pen¬in¬su¬lar}} und {{Orien¬tal Com¬pag¬nie}} Anker. Ungern erinnert man sich des handgreiflichen Konflikts, den der Direktor dieser größten englischen Dampfschiffahrtsgesellschaft mit Wilhelm II. hatte. Wie unangenehm das gute Gedächtnis der Seefahrer, wenn es sich um Dinge handelt, die wir gern vergessen wüßten! – Überhaupt: während es in Deutschland um Wilhelm II. endlich still zu werden beginnt, tut man hier, als wenn er noch im Brennpunkt deutscher Interessen stände. – Jedenfalls stellte ich bei Engländern, Amerikanern, Italienern und Japanern fest, daß der Begriff »Deutschland« bei ihnen sofort die Vorstellung von Wilhelm II. und Ludendorff erweckt. Das wird so lange der Fall sein, bis der Himmel uns einen Staatsmann beschert. Bis dahin wird man uns – sehr zu unserem Schaden – unter diesem falschen Gesichtspunkt betrachten. – Daß ich immer wieder in die leidige Politik verfalle! Aber hier draußen gewonnene Eindrücke scheinen mir für die Heimat beachtenswert. (Bild 3) (Bild 4) &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="11._Kapitel" &&fa Elftes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Wir sind bereits sechs Tage von Singapore unterwegs, und die lila Orchideen, die wir dort im Botanischen Garten pflückten, sind noch so frisch wie am ersten Tage. Weniger wohl befindet sich die junge rotstämmige Palme ({{Cyr¬tos ta¬chys Lak¬ka}}), die der China-Deutsche nach Schanghai verpflanzen will. Sie[[1]], wie die wilde Äffin, die der Amerikaner mit großer Mühe von einer {{Am¬herstie}} für seine Frau herunterholen ließ, lassen die Köpfe hängen und scheinen mit dem Klimawechsel, unter dem auch ich leide, unzufrieden. Wir stehen eine Stunde vor Hongkong in dichtem Nebel. Es regnet, und die Temperatur sinkt innerhalb einer Stunde um vierzehn Grad. Man braucht bei Gott kein Affe zu sein, um das höchst unliebsam zu empfinden. – Nicht weit von der Stelle, an der wir liegen, überfielen vor ein paar Wochen chinesische Piraten ein Postschiff mit Passagieren und raubten es aus. Sie[[1]] standen unter Führung einer resoluten Chinesin, die sich als Passagier erster Klasse an Bord befand. Die Dame und ihre Begleiter benahmen sich tadellos. Zwar verschafften sie sich durch vorgehaltene Revolver Autorität. Aber sie entschuldigten sich, als sie das Schiff verließen, und begründeten ihre Maßnahmen mit den schlechten Zeiten, an denen nicht sie, sondern die durch die Engländer geschaffene Ordnung und Sicherheit schuld seien. Und die Chinesin wies mit feiner Ironie auf die an Bord des überfallenen Schiffes befindlichen Geschütze, die sie für den Fall, daß es dem Telegraphisten eingefallen sein sollte, um Hilfe zu funken, sehr zu ihrem Bedauern gegen ein etwa sich näherndes Polizeischiff in Tätigkeit setzen würde. In ganz Hongkong spricht man seit Wochen von nichts anderem als von diesem Räuberstückchen – die Europäer ängstlich, die Chinesen, die darauf warten, daß die Dame bald wieder von sich hören läßt, schmunzelnd. – Seeräuberei in der Hongkonger Gegend ist eine liebe Gewohnheit, über die man sich gelegentlich im sicheren Port des englischen Parlaments »ausspricht«. Man weiß, ändern kann man nichts. Diese Chinesin aber, die europäische Steamer überfällt, hat den Reiz der Originalität. Chinesen – Seeräuber! Man hüte sich, diese Hongkonger Episode zu verallgemeinern und aus ihr Schlüsse auf den Charakter der Chinesen zu ziehen. Die sogenannten Kulturmächte treiben in China seit Jahrzehnten den Raubbau so offiziell, und so ungeniert, daß daneben dies Privatunternehmen von einer Handvoll Chinesen, die Kopf und Kragen dabei riskieren, beinahe harmlos wirkt. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Am nächsten Vormittag Hongkong! Ich glaube, es ist einer der größten Häfen der Welt. Nicht möglich, auch nur die Schiffe von viertausend Tons an zu zählen. Dazu Tausende von chinesischen Barken und Ladeschiffen. Und dementsprechend das Leben in den Docks und um sie herum. Tag und Nacht. Ohne Unterbrechung. Dabei nicht ein Policeman weit und breit, und ohne Paß und Zollkontrolle geht man, ohne eine Uniform zu sehen, an Land – wie man gleich unbehelligt von der Stadt aus wieder auf die Schiffe kommt. Das Leben auf den chinesischen Ladebooten ist eine Sehenswürdigkeit für sich. Schon hier kann man einen Eindruck von Seele und Charakter des chinesischen Volkes gewinnen. Ich meine[[Meinung]] nicht die Äußerlichkeiten, obschon man stundenlang vor solch einem Boote stehen und die Lebensgewohnheiten einer chinesischen Familie beobachten kann. Was in die Augen fällt und gegensätzlich zu sein scheint zu unseren unter ähnlichen Bedingungen lebenden deutschen Familien, ist: die Lebensfreude. Selbst die neben dem Hunde angebundenen Kinder von zwei und drei Jahren – erstaunlich übrigens die Selbständigkeit chinesischer Kinder! – scheinen nicht wie europäische Kinder das Prinzip zu haben, zu plärren. Ich habe – kann das Zufall sein? – unter Tausenden von Kindern nicht eins weinen sehen. Sie[[1]] sind fröhlich, immer angeregt und beschäftigt von den älteren Geschwistern; sie dürfen, kaum daß sie laufen können, mit den älteren Kindern spielen, während sich die europäische Kindheit – wie später nach sozialer Stellung und Vermögen – streng nach Jahren trennt und es unter ihrer Würde[[würdig]] hält, mit Kindern zu spielen, die jünger sind als sie. Erstaunlicher als dies die Sauberkeit. Mag sein, daß der Schmutz der schwarzen und braunen Rassen, die man erlebte, die Begriffe verwirrt hat. Von Berlin ohne Übergang nach Hongkong versetzt, würden mir die sauberen Füße der chinesischen Kinder am Ende gar nicht auffallen – ja, möglich, daß ich finden würde, sie könnten noch sauberer sein. Aber nach dem, was ich in letzter Zeit sah, erscheint mir China wie bestes Europa. Aus der Art, wie die Kinder gehalten werden, kann man ja mit einiger Sicherheit schließen, wie die Haltung der Familie, des Hauses, der Küche ist. Ich gestehe beschämt, daß eine Zählung nach Rotznäschen unter den Kindern Europas und Chinas eine ganz gewaltige Mehrheit zugunsten des Abendlandes bringen würde. – Noch eins, was mir wesentlich scheint: ich glaube, die Erklärung dafür zu haben, daß in China alle Kinder gerade Beine haben und nach außen gehen. Es ist ja kein Geheimnis und der Untergang des Abendlandes damit noch nicht bewiesen, daß in Mitteleuropa von zehn Menschen sechs krumme Beine haben. Ich gehe nicht so weit wie Peter Altenberg, der Kultur und Charakter eines Menschen aus seinem Gang erkannte. Aber ich glaube, daß kein Mann von Kultur eine Frau mit schlechtem Gang lieben kann. Und da ihr doch geliebt sein wollt, Frauen Europas, und verlangt, daß man auch eure Töchter liebt, so seht, wie chinesische Mütter es machen. Sie[[1]] tragen ihre Kinder vom zartesten Alter an angebunden auf dem Rücken – und zwar so, daß sie die Beine auseinandergespreizt halten müssen. Schädlich und lästig kann es weder für das Kind noch für die Mutter sein, denn es ist allgemein, die Mütter verrichten dabei schwere Arbeit, achtjährige Kinder, die ihre Geschwister so tragen, spielen behend alle möglichen Spiele, ohne daß die Babys auch nur einen Quietschton von sich geben. Und, wie gesagt, die Ausgewachsenen, arm und reich, bestechen durch ihre gutgewachsenen Beine, ihren elastischen Gang und – was natürlich nicht damit zusammenhängt – ihre schlanken Gelenke an Füßen und Händen. Dies letzte ist wohl das Zeichen einer jahrtausendelang durchgezüchteten Kulturnation. Und wer da lacht, wird sehr bald umlernen. Es herrscht nämlich in Europa, vornehmlich aber in Deutschland, der Irrglaube, China sei so eine halbe Hottentottenangelegenheit. Gewiß, wenn mitten in einer belebten Geschäftsstraße plötzlich ein Lärm sich erhebt, daß man glaubt, sämtliche Jahrmärkte der Welt haben ihre musikalischen Lockinstrumente in Bewegung gesetzt, um ganz Hongkong aus dem Takt zu bringen, wenn man den ungeordneten Zug von Hunderten von Chinesen mit den unmöglichsten Lärmapparaten durch die Straße ziehen sieht, darunter unzählige Kinder – und wenn dann im Zuge statt des erwarteten Elefanten, auf dem ein Affe tanzt, ein mit buntem Papier geschmückter – Sarg erscheint, dann freilich fragt man sich, wie dieser Hokuspokus – und es ist nicht der einzige! – zu dem Bild paßt, das man sich von diesem Volk macht. – Natürlich stehen diese Gebräuche in engem Zusammenhang mit der Religion. Und über Religionen soll man nicht streiten. Mit der Vernunft ihnen beizukommen, ist schon ganz unmöglich. Vielleicht, wenn es erlaubt ist, nicht danach zu forschen, was ein bestimmter Glaube &&c=8 lehrt, &&c=0 sondern was er &&c=8 bewirkt, &&c=0 daß man dann zu sehr erstaunlichen Resultaten gelangen wird. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Ich kann die Ansicht unseres Commandante, Hongkong sei »englisch abgestempelt«, nicht teilen. Wohl wird man bei Betreten der Stadt durch Denkmäler der alten Queen, ihres klugen Sohnes Eduard und eines Kriegerdenkmals, das der Deutsche trotz seiner schlichten Schönheit nur mit bitterem Gefühl betrachtet, freundlich und nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß hier – wie überall – England Trumpf ist. Ein paar Straßenzüge lang besteht dieser Glaube fort, um dann plötzlich radikal zu enden. Denn nun tritt China in Reinkultur in die Erscheinung, und im selben Augenblick ist England, ist Europa tot. Man braucht nur Gehalt und Atmosphäre von ein paar Straßenzügen in sich aufzunehmen und man weiß: hier ist jede Assimilation ausgeschlossen. Anders als in jeder dieser Straßen kann es auch in einem Ort im tiefsten Innern von China, den nie ein Europäer betritt, nicht aussehen. Ein Nicht-Chinese wirkt in solcher Straße grotesk. Man hat das bestimmte Gefühl: hier ist nichts wandlungsfähig. Man studiere eine dieser Gassen und ihre Bewohner – und man hat das Volk von vierhundert Millionen studiert. Wenn der Zopf und der verkrüppelte Fuß fast durchweg eine Angelegenheit von gestern wurde, so liegt die Erklärung hierfür anderswo. Ureigentliches Wesen des Chinesen, das in jeder seiner Millionen Ausstrahlungen im Ahnenkult wurzelt, wird davon nicht berührt. Wenn hingegen die Begrüßungsformel des Chinesen nicht wie bei uns »Guten Tag!«, »Grüß Gott!« oder »Küß die Hand!« lautet, sondern: »Hast[[Besitz]] du deinen Reis schon gegessen?«, so liegt darin ein wesentlicher Zug seiner Religion und seines Charakters – etwa wie bei uns in der neubayrischen Begrüßungsformel: »Schlagt den Juden tot!« – Gehe durch ein chinesisches Dorf, du wirst an keinem Haus, an keiner Hütte vorüberkommen, dessen Bewohner dich nicht einlädt, sein Mahl mit ihm zu teilen. Fragt unsere nach China verschlagenen Krieger, ob auch nur einer von ihnen jemals Hunger litt. Obschon sie Fremde und nicht eben beliebte Europäer waren, so gab man ihnen doch überall zu essen! Nicht etwa draußen vor der Tür, wie man Bettler speist, sondern an der gemeinsamen Tafel, obschon die Verschiedenheit der Sprache keine Verständigungsmöglichkeit zuließ. (Also auch nicht aus Neugier.) Gibt auch das nicht zu bedenken, liebwerte Missionare? &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Erst nach Tagen, als ich fast erdrückt von der Fülle des Geschauten und Empfundenen wieder an Bord kam, lernte ich Hongkong bei Nacht kennen. Denn, was war das nächtliche Treiben auf den Straßen, in den privaten und öffentlichen Häusern, in der Villa des reichen Chinesen, dessen Gastfreundschaft ich der Einführung eines hohen Würdenträgers danke, im Vergleich zu dem, was sich nun vom Schiff aus meinem Auge bot? So mag ein Kind, das Phantasie hat, sich den Himmel träumen! – Man denke sich die terrassenmäßig aufgebaute Stadt, deren letzte Häuser bis auf die Gipfel der den Hafen kreisförmig umschließenden Bergesrücken ragen. Und nun, da die Sonne untergeht, strahlen Sternen gleich die Lichter von vielen tausend Häusern vom Meer beginnend, in dem sie sich wiederspiegeln, bis hoch hinauf in die Gipfel, wo sie sich in seliger Harmonie mit den Sternen zu vereinigen scheinen. – Meer – Erde – Himmel! Welche Dreieinigkeit! Hier ist der Ort, aus dessen Stimmung heraus der neue Glaube geboren werden kann. – Der Himmel scheint sich in voller Pracht über die Erde gewölbt und den Hafen in ein strahlendes Märchen aus Tausendundeiner Nacht verwandelt zu haben. Neben soviel Pracht verblaßt alles, was das Auge und die Phantasie eines aufnahmefähigen Menschen jemals im Westen, Süden und Osten sah. Von Berlin nach Hongkong reist man etwa zweiundvierzig Tage. Aber die Reise von zweiundvierzig Tagen hat sich gelohnt, wenn ihr Ertrag nichts weiter als eine sternklare Nacht im Hafen von Hongkong ist. Sehr viel hübscher als ich drückt es die achtjährige Tochter eines deutschen, nach Tokio fahrenden Diplomaten aus, den man dieser Tochter wegen zum Nachfolger Solfs {{[Solfs]}} ernennen sollte. Sie[[1]] sagt: »Der liebe Gott hat Geburtstag!« – Und sie trifft damit das Richtige. Der wahrhaft gläubige Mensch aber sinkt hier in die Knie und faltet die Hände zu dem Gebet: »Ehre, dem Ehre gebührt.« &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Wir haben uns aus der Markthalle in Hongkong, bevor unser Schiff die Weiterreise nach Schanghai antrat, schnell noch einen Korb mit Mangos gekauft. Die Feinheit dieser äußerlich birnenartigen, nach feinster Melone schmeckenden Frucht haben schon die alten Römer erkannt und versucht, die Frucht nach Italien zu verpflanzen. Leider ohne Erfolg. Ich wünschte, man wiederholte diesen Versuch. Auf Jahre hinaus wäre Mango die große Mode in Europa – und zwar nicht der schlechtesten eine. Allerliebst das »{{Adieu des sacrées soeurs}}« am Vorabend von Schanghai. Sie[[1]] müssen nun wochenlang den chinesischen Fluß hinauf, in einem Kahn ohne jeden Komfort, müssen ihr Essen selbst beschaffen und kochen und auf hartem Boden schlafen, ehe sie an ihren neuen, freudlosen Wirkungskreis gelangen. – Man kann mit den Chinesen sympathisieren und braucht doch nicht zu billigen, daß diese Jugend der Welt – o nein! das nicht! – wohl aber, daß die Welt dieser Jugend verlorengeht. Wenn es aber sein muß, gibt es denn nicht arme Kinder in Italien genug, denen die Liebe und Pflege dieser Nonnen zugute kommen könnte? – Auf diese meine[[Besitz]] Frage schweigen Pater und Nonnen. Also ist wohl die Bekehrung zum Christentum das leitende Moment für sie. – Sehr feierlich, als kurz vor Schanghai die Stewards die Gläser sämtlicher Passagiere mit Meßwein füllen, der Pater ans Glas schlug und für die Nonnen und sich die Abschiedsrede – {{Ad¬dio Ita¬lia! Ad¬dio pa¬tria!}} – sang. Denn dies in Rührung vorgetragene neapolitanische Italienisch war kein Sprechen mehr. Kein Wunder, daß sich die Augen der Damen – vornehmlich derer, die kein Wort verstanden – mit Tränen füllten. (Bild 5) (Bild 6) Schon nach vier Tagen in Schanghai erkannte ich, daß, wie alles, so auch die Sauberkeit der Chinesen, die mich anfangs verblüffte, relativ ist. – In Hongkong hat unbedingt der englische Einfluß »reinigend« gewirkt. Denn was ich in Schanghai, in nahen Städten und – verdecke dein Antlitz! – auf Dörfern sah, war beinahe Orient. Das sind die Ärmsten natürlich. Und da chinesische Genügsamkeit nicht mit europäischem Maßstab zu messen ist, so kann man sich von &&c=8 dieser &&c=0 Armut auch keine Vorstellung machen. Dank dem Entgegenkommen des Gouverneurs sah ich in großen Städten Chinas Schulen, Arsenale, Gerichte und alles, was damit zusammenhängt, – kurzum: so ziemlich alle sozialen Einrichtungen. – Eins ist klar: Besitzerwerb und Steuerung der Armut ist nicht ihr Grundprinzip – wie sonst überall in der Welt. In einem Lande wie China, in dem Armut nicht nur nicht schändet, sondern organisiert ist wie jedes andere Handwerk – die Gilde mit ihrem Armenvogt an der Spitze hält durchaus auf Ordnung –, steigt der Mensch auch nicht wie in der übrigen Welt in der Achtung seiner Mitmenschen im Verhältnis, in dem sich sein Geldsack füllt. Bei diesem Volke der Heiden, an dem die Missionare der ganzen Welt ihre Kräfte üben, spielt Leben und Reichtum nicht annähernd die Rolle wie bei allen anderen Völkern, und es müßte demnach leicht sein, sie dem Christentum zu gewinnen, wenn nur die Christenvölker ein etwas besseres Beispiel gäben. Religiös sind die Chinesen gewiß. Ich sah im großen Tempel zu Lung[[Asien]]-Wa {{[Lung-Wa]}} dies Volk einen hohen Festtag, der nur alle zehn Jahre wiederkehrt, feiern. Von allen umliegenden Orten waren sie gekommen, um ihren Göttern zu huldigen. Zu Dutzenden standen die frischgestrichenen und geschmückten Götzen da und ließen regungslos Gebete, Wohlgerüche und Opfer über sich ergehen. – Und wie man sie betrog! Statt echten Goldes und Silbers schütteten die Gläubigen wahre Berge von Papier in Gold- und Silberfarben über ihre Götter aus. Und die Götter glotzten und duldeten den Betrug, über dessen Gelingen – wie mir schien – die Betenden eine stille Freude empfanden. Die Götter hatten es nicht bemerkt, glaubten sie und hofften nun bestimmt, daß sie sie erhören, ihre Bitten erfüllen würden. So – glaubt mir! sieht es in den Seelen der gläubigen Chinesen aus. – Ob auch in denen der reichen chinesischen Damen, die, selbst am Steuer ihrer Autos, an dem Tempel vorfuhren? – Sonderbar! Sobald sie europäisch wirken, glaubt man ihnen nicht mehr. Und ich fürchte, bei ihnen werden auch die Götter den Schwindel merken. Aber nur, weil sie wissen, daß diese Reichen auch echtes Gold und Silber opfern könnten. Jedenfalls sind die amerikanischen Missionare bessere Geschäftsleute als die chinesischen Götter. In der »{{New World}}«, dem Lunapark {{[Lu¬na¬park]}} von Schanghai, sang ein chinesischer Otto Reutter von einem solchen Missionar, der mit einem Handköfferchen aus San Francisco gekommen, ins Innere gewandert und schon nach zwei Jahren mit einem Berg von Koffern im eigenen Auto nach Schanghai zurückgekehrt sei. Und unter dem Schmunzeln der chinesischen Zuhörer versichert er, daß er nicht etwa einen Bestimmten damit treffen wolle. – In der »{{New World}}« sind die Chinesen unter sich. Die Art ihrer Belustigungen ist naiv genug. In jedem zweiten Saale ein Theater. Hier ein Ausstattungsstück, das bis auf die kostbaren Kostüme nicht viel höher steht als die Belustigungen wilder Volksstämme oder unsere Revuen. Nur hier und da ein paar Szenen, in denen die Anfänge choreografischen Fühlens stecken. Der Mangel an Rhythmus wird am sinnfälligsten bei den Soubretten, deren monotone Art der Gesten den Vortrag nirgends unterstützt. Endlose {{Cou¬plets}} naivsten Inhalts werden in monotoner Gesangsform vorgetragen, die, ohne unserem musikalischen Empfinden Konzession zu machen, im Vergleich zu den alten chinesischen Opern doch beinahe melodisch wirkt. – Daß die Chinesin im öffentlichen Leben auch heute noch nicht hervortritt, wirkt natürlich besonders auf Stätten wie diese. Zwei reizende chinesische Koköttchen, die meine[[Besitz]] Begleiter auf vierzehn bis fünfzehn Jahre schätzen, und deren höchste Freude es ist, auf altersschwachen Eseln im Hippodrom herumzuhopsen, sind die einzigen Chinesinnen ohne männliche Begleitung in diesem Riesenetablissement. Trotzdem finden sie – ich nehme uns aus – keinerlei Beachtung. Im übrigen wimmelt es von Männern jeden Alters, alten Frauen, Müttern und Kindern bis zum Säuglingsalter. Aber es fehlt jede Ausgelassenheit; es ist ein stumpfes Sich-unterhalten-lassen, bei dem man sich selbst nicht einen Augenblick lang echauffiert. Für dies Volk scheint tatsächlich nur die Hochzeit und die Beerdigung einen ausreichenden Grund für lärmende Feierlichkeit abzugeben. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Im Vergleich zu Schanghai ist Berlin eine tote Stadt. Mit der üblichen Bezeichnung »Klein-Paris« schätzt man es falsch ein. Am Broadway erinnert es in bezug auf Verkehr und Gebäude viel eher an London. Die Atmosphäre aber – und die allein charakterisiert eine Stadt – ist eine völlig eigene. Der Pulsschlag von New York, London, Paris, man mag ihn im Norden, Süden, Osten oder Westen spüren – er ist doch überall charakteristisch für die ganze Stadt. »Das Herz von New York« ist eben doch mehr als nur ein Roman oder Filmtitel. Es ist da, es lebt. Und die hunderttausend Adern der Stadt werden von ihm gespeist. Gewiß sonderbar und unerklärlich: New Yorks Chinesenstadt ähnelt äußerlich ganz gewiß mehr jeder beliebigen Stadt in China als der »{{Fifth ave¬nue}}«. Und doch hat man nicht einen Augenblick lang das Gefühl, wo anders als in New York zu sein. Dies gilt für alle großen Städte, die ich sah. Schanghai ist die erste, für die es nicht gilt. Diese Stadt ist kein Ganzes. Sie[[1]] hat so viel Herzen wie sie Gesichte hat. Das gilt nicht nur von dem Europäerviertel im Verhältnis zur Chinesenstadt; es gilt auch für die europäischen Viertel untereinander. Genau wie es für die chinesischen Viertel gilt. Das Herz in dem französischen Stadtteil schlägt anders als in dem englischen. Und wo in der {{Nan¬king Road}} plötzlich die europäischen Geschäfte enden und das moderne chinesische Geschäftsviertel beginnt, da ist im selben Augenblick auch schon der Pulsschlag ein anderer. Genau wie in der alten Chinesenstadt der Atem anders geht als in der modernen. Der Weltreisende freilich wird das nicht spüren. Sowohl der aus dem Innern Chinas Kommende, wie der auf dem Meer Reisende wird als erstes die langentbehrte Wohltat europäischer Kultur genießen wollen. Ein Blick auf {{the Bund}} und eine Nacht im Astor-Haus – und er träumt sich im siebenten Himmel. Er ruft: »Endlich wieder europäische Kultur«, und der Schanghaier, mag er Engländer, Amerikaner, Deutscher, Italiener oder Jude sein, erwidert stolz: »Was London, Paris, New York und Berlin an Kultur bieten, das alles finden Sie[[1]] zusammengefaßt in unserem Schanghai.« (Sic! wörtliche Wiedergabe eines Gesprächs mit einer sehr prominenten Italienerin, deren Gatte ein hohes chinesisches Amt bekleidet und deren Haus eins der ersten in Schanghai ist.) Auf meine[[Besitz]] Frage: Wie äußert sich das? wie stellt man dies fest? erwidert die älteste Tochter: »Verleben Sie[[1]] einen Tag und eine Nacht mit uns.« – Um sieben Uhr morgens holte sie mich in ihrem Autocar, das sie wie alle Schanghaierinnen von Distinktion selbst lenkt, im Astor-Hotel ab. Reitdreß. Zigarette im Mund. Wir fahren etwa zwanzig Minuten durch die Stadt. An einer Allee steht ein halbes Dutzend Kulis mit einer kleinen Ponyherde. Wir reiten. Erst ein, zweimal die Allee rauf und runter und probieren die Pferdchen, die wie Spielzeug ausschauen, es aber in sich haben. Sie[[1]] haben Nerven und reagieren auf jeden leichten Druck des Schenkels. »Wie wir Frauen,« sagt meine[[Besitz]] schicke Begleiterin und will sich totlachen über mein Gesicht, das mehr ihrer burschikosen Antwort als dem Nervensystem dieser schnittigen Pferde gilt. – »Idiot!« brüllt sie einen der Kulis an und schlägt ihm mit der Reitpeitsche über den Kopf. Denn es gehört zur Kultur von Schanghai – und der Kuli nimmt kein Ärgernis daran. – »Sie[[1]] sollten der Ewis {{[Ewis]}} doch einen Herrensattel auflegen,« fährt sie ihn an und stößt ihn zur Seite. – Links von der Allee spielen Europäer Polo. Und wie! »Das sind noch lange nicht unsere Besten!« beteuert meine[[Besitz]] Begleiterin. »Die Engländer sind um Pfunde besser.« – Wir galoppieren durch die Gegend. Die Kulis mit der Ponymeute hinter uns her. Wir schonen keinen Halm und keine Pflanzung. Auch wo wir dicht an den Gehöften der Chinesen vorüberkommen, geht es rücksichtslos drauflos – drüberweg – ein Chinesenkind schlägt vor Schreck hin – eine Handbreit weiter und es kugelt in den künstlichen Bach hinter dem Hause, in dem der Chinese seine Hechte mästet. Fragt mich nur nicht wie; ich müßte Antwort geben und ihr rührtet zeitlebens keinen Fisch mehr an. Einer alten Chinesin, die nicht acht gibt, flitzt die Gerte über den Rücken. »Nicht doch!« sage ich empört. Meine[[Besitz]] Begleiterin lacht und sagt: »Die Schweine! Nur eins darf man nicht, aber ich tue es doch!« – und sie setzt mit dem Pony über eins der vielen hinter dem Hause ein bis zwei Meter aufgeschaufelten Gräber – über ein zweites, drittes – während die Kulis die Mäuler verzerren, ihre Ponys zurückreißen und im Schritt an den Gräbern vorüberreiten. – Kultur von Schanghai! – Zwei Stunden später im Astorgrill {{[Astor¬grill]}} zum Lunch. Sehr laut. Sehr ungeniert. Unterhaltung: Pariser Mode, Pferde, Sport, wieder Mode und nochmals Mode und dann mit Gesichtern, als gälte es die Relativitätstheorie zu widerlegen, eine Stunde lang ganz ernsthaft Kritik über den letzten amerikanischen Wildwest-Film. Nach dem Lunch wieder ins Auto. Meine[[Besitz]] Begleiterin steuert. Ich sitze neben ihr, stecke ihr alle zwei Minuten eine neue Zigarette in den Mund, die Zigaretten, die sie – wie sie behauptet – so nötig hat wie der Wagen das Benzin. Wir machen Besuche. In jeder Villa förmliche Siedlungen von Kulis. Man hat den Eindruck, daß Europäer sich das ganze Jahr nicht einmal bücken. Und man begreift, daß niemand von ihnen sich in europäische Verhältnisse zurücksehnt. – Schon so um drei Uhr herum wird das europäische Jung-Schanghai unruhig. Der Tag erreicht seinen Höhepunkt. Die Tee[[1]][[Variante1]]- und Tanzstunde rückt näher. Man beginnt zu überlegen, ob man ins {{Astor}} oder {{Carl¬ton}} geht. Man entscheidet sich fürs Astor. Nun wird man nachdenklich, zieht die Stirn in Falten, denn jetzt heißt es, sich entscheiden – die große Frage, die sich jeden Nachmittag wiederholt – »was ziehe ich an?« – Zwei Stunden später tanzt »{{tout}} Schanghai« – das sind die Europäertöchter, auch {{half-casts}} – jedenfalls alles, was Gesellschaft ist oder sich dafür hält. Es ist kein Tanz im Geiste eines Johann Strauß. Nicht der körperliche Ausdruck einer leicht beschwingten Phantasie. Kein Sichlösen für Augenblicke von der Erdenschwere. Es ist im besten Falle eine schwere, nüchtern ernste Zelebration ohne jede seelische Beschwingtheit. Es ist Arbeit! bei gesteigertem Bewußtsein, während höchster Ausdruck des Tanzes unbewußtes Aufgehen in rhythmischer Bewegung ist. Hier geht alles bewußt auf Wirkung. – Diese für Schanghai eigentümlichen Tanztees, von denen der ganze Osten spricht – Japan natürlich ausgenommen –, gelten als der höchste Ausdruck Schanghaier Kultur. – In der Tat kann man von Schanghai sagen: an ihren Tanztees kann man sie erkennen. – Es ist eine Talmikultur {{[Tal¬mi¬kul¬tur]}} schlimmster Art. Eine gehirnlose Masse mit einer ganz dünnen Schicht europäischer Kultur überzogen. Ohne jeden inneren Gehalt. Ohne Bildung. Ohne Seele. Ganz nur auf Äußeres gestellt. Ganz nur darauf gestellt, zu scheinen. – Das ist der Schanghaier in Reinkultur. Die junge Welt beiderlei Geschlechts, die den Ton angibt. Denn die Frau Mama gesteht, daß sie machtlos gegenüber ihren Kindern ist und der Herr Papa ist von früh bis spät auf den Beinen, um das für den Schanghaier {{Stan¬dard of life}} seiner Kinder das nötige Geld zu verdienen. – Mit den Tanztees beginnt der eigentliche Tag. Ist er zu Ende, sieht man in das Hotel {{Ka¬lee}}, {{Bur¬ling¬ton}} und {{Pa¬lace}} hinein. Oft tiefer, als es der gute Geschmack erlaubt. Es folgt die Toilette für den Abend, die Stunde der Bildung im – Kino (nur größter Kitsch) mit anschließendem Tanz im {{Carl¬ton}}, {{Pa¬ri¬sien}} und {{Tro¬ca¬de¬ro}}. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x China hat zwei Köpfe. Einen chinesischen und einen europäischen. Der europäische ist Schanghai. Und obgleich der nur für ein paarmal Hunderttausend, der chinesische für beinahe vierhundert Millionen denkt, ist er es doch, der die Entscheidung vorbereitet. Über das Schicksal der Welt. Denn das wird nicht durch, wohl aber mit China entschieden werden. Ist die Jahrtausende alte Kultur Chinas auch verfallen, so verspürt man doch noch hier und da ihres Geistes Hauch. Man braucht nur nach Hangchou und Souchou {{[Sou¬chou]}} hinauszugehen. Falsch, hinterlistig, grausam ist der Chinese. Gewiß! Aber er ist außerdem – und das ist letzter Ausdruck alter Kultur – feinfühlig bis in die Fingerspitzen. (Auch diese Fingerspitzen, die feinen Knöchel und Gelenke sind vielleicht mehr als nur physiologische Merkmale; sie muten oft an wie der äußere Ausdruck feinnerviger Empfindsamkeit.) – Der Chinese fühlt den Europäer viel deutlicher als der Europäer ihn. Wohlverstanden: er fühlt ihn; er durchschaut ihn nicht. Aber vom Fühlen bis zum Durchschauen ist nur ein Schritt. Und was der Schanghaier als europäische Kultur aufrichtet, empfindet er als unendlich dumm und leer. Ich habe mit ganz prominenten Chinesen, deren Mittel und Einfluß Millionen von Chinesen Richtung im Denken und Handeln weist, gesprochen – sie sind mit mir der Meinung, daß Schanghai das europäische Hauptquartier für die Verchristlichung und Vereuropäisierung Chinas ist. Aber sie glauben weder an das eine noch an das andere, weil sie fühlen, daß das Europa Schanghais schlechtestes Europa ist. Sie[[1]] kennen die Welt und wissen, daß es ein besseres Europa gibt. Sie[[1]] freuen sich, daß das zu Hause bleibt. Amerika fürchten sie gar nicht. Denn – sagen sie – das ist an sich schlechtestes Europa. Wer aber glaubt, daß der Materialismus die Geschicke der Welt bestimmt, der irrt. Es war noch immer der Geist – der, Gott sei gedankt, nicht käuflich ist. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Nur wer China nicht kennt, kann Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten nennen. Amerika mag das Land der unbegrenzten Zahlen sein, aber psychologisch ist dort nichts zu holen, da ein Amerikaner dem anderen gleicht, wie eine Rechenmaschine der anderen – nur ein Unterschied besteht im »System«. So muß er sich in China noch unbeliebter machen als in Japan. Dies China Jahrtausende alter Kultur ist heute vielleicht – Indien mit einbegriffen – das einzige Land, das noch nicht vom Kapitalismus besessen ist – in des Wortes doppelter Bedeutung. Dabei ist der Aufwand beispiellos, mit dem Amerika um China wirbt. Im Innersten wimmelt es von Chinesenschulen, die von amerikanischen Missionaren geleitet werden – nicht, um die kleinen Heiden zum Christentum zu bekehren – vielmehr um sie den Haß gegen Japan zu lehren und ihnen zu predigen, daß aller Lebensweisheit letzter Schluß sich in »{{busi¬ness}}« erschöpft. Wäre der Amerikaner ein klein wenig Psychologe, so wüßte er, daß die chinesische Volksseele seinen Maximen völlig verständnislos gegenübersteht, und er wüßte auch, daß er der Hauptschuldige ist, wenn das nächste Christenmassaker Formen annimmt, im Vergleich zu denen der letzte Boxeraufstand ein Kinderspiel war. Jeder, der ein paar Jahre in China lebt, weiß, daß wir vor solchen Massakers stehen – jeder weiß aber auch, wer der Hauptschuldige ist. Volksstimmungen lernt man am besten an Volksbelustigungen kennen. Das {{Cou¬plet}} vom amerikanischen Missionar, von dem ich schon sprach, habe ich an einundzwanzig verschiedenen Stellen innerhalb kurzer Zeit von chinesischen Sängern und Soubretten, vom Volke stürmisch beklatscht, singen hören. Unvergleichlich viel klüger ist die Art, in der England und Japan um China werben; bezeichnend aber ist, daß Deutschland, seitdem es nicht mehr die Möglichkeit hat, mit diesen Staaten in Wettbewerb zu treten, in der Gunst der Chinesen voransteht. Sie[[1]] fühlen die Gleichheit des Schicksals. Zwei große, tüchtige Nationen der Willkür anderer ausgeliefert, nachdem diese sie unfähig zum Widerstand gemacht haben. Den Deutschen aber muß man immer wieder predigen und ihnen China als Schulbeispiel vor Augen halten, wie ein Volk ohne Nationalgefühl ein Spielball in den Händen der anderen und schließlich ein Volk von Kulis wird. Es ist kaum glaubhaft und doch wahr, daß die drei Millionen Schweizer ein weit gewichtigeres Wort im Rat der Völker mitzureden haben als dies Riesenland mit seinen fast vierhundert Millionen Bewohnern. Dem Chinesen ist sein Land Hekuba {{[He¬ku¬ba]}}, sofern er nur den nötigen Reis hat, um seinen Hunger zu stillen. Er kennt über sich hinaus nur die Familie, durch die er mit dem Himmel, also mit der Ewigkeit, verknüpft ist. Der Ausgangspunkt, von dem aus Nationalgefühl zu züchten wäre, ist also gegeben. Und es scheint, daß ein paar Generale auf dem richtigen Wege sind. Freilich: den Boden bereitet haben die Europäer. Die Autorität der weißen Rasse – sie waren in den Augen der Chinesen noch vor zehn Jahren mehr als nur die sittlich und geistig Überlegenen – ist erschüttert. Kein Wunder! Denn was jahrhundertelange Missionarsarbeit schuf, haben Engländer und Amerikaner zerstört. Wie war Chinas Lehre: Liebe deine Feinde! vereinbar mit den haßerfüllten »Gesängen« (in Wort, Schrift und Film), mit denen England und Amerika die Chinesen in den Krieg gegen die Deutschen hetzten? Und die blutrünstige Schauermär über deutsche Greuel, die in den buntesten Farben den Chinesen zum Frühstück, Mittag und Abend monatelang in den englischen und chinesischen Zeitungen serviert wurde, ließ den Chinesen glauben, daß sie, die Wilden, doch bessere Menschen seien. Welcher Chinese wagte früher einen Europäer anzurühren? Heute schlagen sie englische Polizisten nieder, und ganze Distrikte, ja die Schiffahrt nach der Millionenstadt Kanton {{[Kan¬ton]}} ist gefährdet, weil chinesische Seeräuber europäische Steamer überfallen. Am meisten ins eigene Fleisch aber schnitten sich die Engländer und Amerikaner, als sie die Exterritorialität der Deutschen aufhoben und diese den chinesischen Gerichten unterstellten. Richter, die gestern noch die berüchtigte Todesstrafe der hundert Schnitte verhängten (dem Verurteilten werden kunstgerecht, ohne daß er das Bewußtsein verliert oder verblutet, die Brüste abgeschnitten, die Arme ausgerenkt, die Kniekehlen ausgeschnitten usw.), urteilen morgen deutsche Kaufleute ab. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Deutschen seit Aufhebung der Exterritorialität so gut wie rechtlos in China sind. Oder was anderes ist es, wenn in Harbin {{[Har¬bin]}} ein deutscher Greis, der seit vierzig Jahren in China lebt, monatelang wegen Mordverdachts in menschenunwürdiger Haft gehalten wird, weil man in seinem Garten, den er umbauen ließ, das Skelett eines prähistorischen Tieres fand? – Oder ein Mr. Str wird in einem chinesischen Hotel von einem Kuli bestohlen. Er zeigt ihn an und er – nicht etwa der Chinese – wird verhaftet und erst nach Zusage, gegen den Kuli nichts zu unternehmen, auf freien Fuß gesetzt. – Diese zwei Beispiele für hundert. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Man hat's in Deutschland eine Farce genannt, als die Alliierten gelegentlich des Todesurteils, das die Chinesen über einen, des mehrfachen Mordes überführten Bayern verhängten, die aufgehobene deutsche Exterritorialität dahin interpretierten, daß das Urteil zwar zu Recht erfolgt sei, der Delinquent aber zwecks Vollstreckung den exterritorialen Mächten auszuliefern sei. Wer die Arten der Hinrichtung in China kennt, wird das Einschreiten der Mächte durchaus berechtigt finden. Der Tod in den Riesenkesseln, zur Gewinnung von Öl aus kochendem Samen, in denen zur Zeit des Boxeraufstandes Missionare und Krankenschwestern verbrannt wurden, mutet fast harmlos an neben der Todesstrafe der hundert Schnitte, die in der Republik offiziell abgeschafft, im Innern Chinas aber heute noch vollstreckt wird. Hauptsächlich an Ehebrecherinnen und Kindern, die sich an ihren Eltern vergangen haben. Grausameres läßt sich nicht erdenken als diese in Gegenwart des Volkes vollzogene Hinrichtung. Noch als ich drüben war, berichtete ein englisches Blatt über die noch qualvollere Todesart eines Chinesen, der seinen Vater getötet und den die Familie, wie in vielen Provinzen heute üblich, den Soldaten zur Bestrafung übergeben hatte. Die setzten den Mörder in eine Art fest um den Leib schließenden Kessel, nachdem sie den Körper bis zum Nabel mit Honig bestrichen hatten. Unten in den Kessel hinein aber setzten sie eine Ratte, die sich in den lebendigen Leib des Delinquenten fraß. Ich weiß, mit welchem Eifer gerade in Europa lebende Chinesen Reformen in ihrem Land erstreben, weiß, daß sie mit demselben Schauergefühl diesen Dingen gegenüberstehen wie wir. Das kann aber uns nicht hindern, mit allen Mitteln danach zu streben, die Exterritorialität in China wiederzuerlangen. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="12._Kapitel" &&fa Zwölftes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Man verliert in diesem Lande die Begriffe für Entfernungen. Erzählt einem in Schanghai jemand: Sie[[1]] müssen Hankau {{[Han¬kau]}} gesehen haben, so stößt man sich keinen Augenblick daran, daß die Reise vier Tage dauert. Erkennt man dann, daß Hankau nichts Besonderes bietet, so bereut man weder Zeit noch Kosten und folgt dem Rat des nächsten, der Sutschau {{[Sut¬schau]}} lautet. Freilich, dieser Tip stammt von Sachverständigen, dem Schamschu{{[Scham¬schu]}}-Klub. Den gibt's nur einmal in der Welt. Verkommene – pardon! das ist zuviel gesagt; also: verkommende ehemalige Seefahrer aus aller Welt, die irgendwo und irgendwie einmal strandeten. Ein ehemals norwegischer Offizier an der Spitze, der angibt, wohin die Fahrt geht. Es ist immer das gleiche Ziel. Denn Schamschu, Chinas gemeinster Fusel, ist das Wrack, dem allein sich diese verlorenen Existenzen anvertrauen. Ein Viertelliter genügt, und sie befinden sich in voller Fahrt, auf hoher See – und sie erzählen, wie nur ein unter Alkohol stehender alter Seebär erzählen kann. Eigenes und Fremdes. Aber man erlebt Länder und stürmische See und die tausend anderen Dinge, als säße man vor einem Film, wie man noch keinen sah. Da »Entlehnen« unter Berufung auf große Vorgänger (die angeblich auch entlehnten) längst Mode unter den Literaten wurde, so empfehle ich als unerschöpfliche Quelle die Mitgliedschaft dieses Klubs. An die Stelle »stilisierter Gedanken« (ich zitiere einen Wiener Poeten) würde endlich wieder Phantasie treten und die blutleere Dichtkunst unserer Tage beleben. – Also die Schamschus, wohlbemerkt Seeratten, erzählten von der Stadt Sutschau – und vor meinen[[Besitz]] Augen erstand ein chinesisches Venedig. Und als es am nächsten Tage vor mir lag, da war mir, als kehrte ich an einen Ort zurück, den ich längst kannte und zu dem Sehnsucht mich nun zurücktrieb. – Wäre ich ein Dichter, könnte ich schildern wie die Schamschuer, vor euch erstände jetzt ein Paradies. Aber ich armseliger Schriftsteller spüre, daß angesichts von soviel Lieblichkeit mein Mund verstummt und kein Gott die Kraft mir gab, zu sagen, was ich fühle. – Engländer und Franzosen haben ja nach Möglichkeit alle Kunstschätze in China zerstört, deren wahre Bedeutung erst heute richtig erkannt wird. Werte, die in der Welt nicht ihresgleichen haben, fielen europäischem Vandalismus im Namen der Kultur zum Opfer. Die Schönheit Sutschaus freilich ist selbst vor der Zerstörungswut der Europäer sicher. – Die Chinesen – besser: ihre Generale, denn das Soldatenhandwerk gehört zu einem der vier verächtlichen Berufe in China (o diese Barbaren!) – führen seit Jahrhunderten Kriege untereinander. Die zerstörten Stadtteile Hankaus sind Dokumente jüngeren Datums. Der verachtete chinesische Soldat machte halt nicht nur vor seinen Tempeln (das ist Tierinstinkt), nein, auch vor Städten der Kunst, weil man ihm sagte, daß sie »von höheren Menschen« stammten. Das bezeugt der Gelehrte {{Shi¬ki¬da}}, der mehr weiß und erzählte, als ich hier schildern kann. – Der verbrecherische Vandalismus, den Engländer und Franzosen 1860 unter Lord {{El¬gins}} Führung begingen, als sie den {{Yüan ming yüan}} zerstörten, stellt selbst die sinnlosen Zerstörungen von 1900 in den Schatten, da die europäischen Soldaten kostbare chinesische Bildrollen ihrer Holzteile wegen dazu benutzten, Feuer zu machen. – Und je weiter man kommt, um so größer wird angesichts des bereits Zerstörten und des Noch-zu-zerstörenden – denn Sturmzeichen findet man allerorten – der Wunsch, die großen Militärmächte, die sich doch sonst um alles kümmern, was sie nicht angeht, mögen die Kunstschätze Chinas »garantieren«. – Nach Hangchon {{[Hang¬chon]}} trieb mich Perzynskis {{[Per¬zyns¬kis]}} Werk: »Von Chinas Göttern«, das längst in alle Sprachen übersetzt sein sollte. Etwas beschämt gestehe ich heute, was mich neben Perzynski in erster Linie nach Hangchon zog. Es hat die schönsten Frauen Chinas! – Ob die Chinesen diesen Geschmack teilen, ist eine andere Frage. Denn wie die Chinesin, die einen Europäer heiratet, in der Wertung ihres Volkes zur {{second-class}}-Chinesin herabsinkt, so wird wohl auch die Mischung mit den arabischen Kolonisten, die sich so um 800 nach Christus in Hangchon ansiedelten, und die diesen prachtvollen Frauentyp schuf, nicht nach dem Geschmack des Chinesen sein. – Aber schon im {{Ling-Ying}}-Kloster kommt man auf andere Gedanken und fühlt die Wahrheit des alten chinesischen Wortes: »Oben ist der Himmel; unten sind Suchon {{[Su¬chon]}} und Hangchon.« &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Als ich in Schanghai zum ersten Male ein chinesisches Theater betrat, glaubte ich, ich würde es – schon des ohrenbetäubenden Lärms der sogenannten Musik wegen – keine Viertelstunde lang ertragen. Und ich hab es doch ertragen. Und wie! Ich habe die naivsten Vorgänge mit größerer Teilnahme miterlebt als Strindbergs {{[Strind¬bergs]}} raffinierteste Psychoanalysen. Dabei: wieviel innerlich verwandter bin ich dem dekadenten Fräulein Julie als den in ihrem Gefühl primitiven Darstellern der Ham {{[Ham]}}-Dynastie? Aber ich erlebte ihr Schicksal mit, und es ließ mich nicht los, bis ich von jedem wußte, was aus ihm wurde. Dabei vermieden die Schauspieler, durch Mätzchen und Tricks, also unkünstlerische Mittel, das Publikum zu fesseln. Sie[[1]] gingen in ihrer Natürlichkeit so weit, daß der Held mitten in einem tragischen Dialog, der freilich sehr lang war, sich vom Theaterdiener ein Glas Wasser bringen ließ und mit zum Publikum gewandten Rücken, aber doch so, daß jeder es sehen mußte, sich auf offener Szene den Mund ausspülte, um dann in seiner Rede fortzufahren. Fürwahr eine arge Belastungsprobe! Man stelle sich vor, {{Moissi}} als Hamlet oder {{Kay߬ler}} als Wallenstein wagten das. Ohrenbetäubender Lärm des Publikums wäre die Folge. Hier reichte der Bann, unter dem die Hörer standen, über die kurze Unterbrechung hinweg. Niemand nahm Anstoß und auch ich, im ersten Augenblick entsetzt, hatte schon, ehe der Vorhang dieses Aktes sich senkte, das eigentümliche Zwischenspiel vergessen. Bei späteren Theaterbesuchen empfand ich diesen Vorgang, der sich wiederholte, und ähnliche überhaupt nicht mehr als störend. Die Chinesen sind die geborenen Schauspieler. Ihr Erleben ist so unmittelbar, daß es sich auf die Umgebung überträgt, die alle Vorgänge gefühlsmäßig miterlebt. Es ist ja kein technischer Einfall und geschieht auch nicht zur Hebung des Bildhaften, für das der Chinese sonst viel Gefühl hat, daß der Schauspieler in China so gut wie überhaupt nicht redet. Er gibt Inneres, ja selbst äußerliche Vorgänge durch Miene, während seitwärts der Bühne der Chor die Handlung den Empfindungsarmen durch Worte näherbringt. Das chinesische Theater brachte mir den Gedanken nahe, daß die Menschen, wenn sie noch so naiv wie zu Evas Zeiten wären, sich am Ende ganz gut auch ohne Sprache verständigen würden. Nicht auszudenken, wie schön die Welt dann wäre. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Was während des Spiels im Zuschauerraum vor sich geht, ist ein Spiel für sich. Die Logen, in denen die geputzten, mit Schmuck behängten Chinesinnen den ganzen Abend über Tee[[1]][[Variante1]] trinken, Obst essen und Süßigkeiten naschen (das alles ist im Billettpreis von einem mexikanischen Dollar gleich zwei Mark vierzig einbegriffen! glückliches China!), stören weniger als die ihre Kinder säugenden Chinesenmütter und die alle paar Minuten unter die Nase gehaltenen kochendheißen Frottiertücher, mit denen sich die Theaterbesucher ihre vor Erregung und der herrschenden Hitze feuchten Gesichter trocknen. Daß die Frauen im Theater rauchen, ist selbstverständlich. Aber wenn man das Pech hat, hinter einer Loge zu sitzen, in der ein halbes Dutzend entzückender junger Chinesinnen den Zigarettenrauch in die Luft pusten, so beeinträchtigt das doch die reine Freude an den Vorgängen auf der Bühne. Wie in Japan werden auch in China fast ausschließlich historische Stücke gespielt, deren es unzählige gibt. Der auserlesene Geschmack und die Kostbarkeit der Kostüme bewirken, daß in dem sonst ziemlich indifferenten Chinesen früh schon der künstlerische Sinn geweckt wird, vor allem der Sinn für Farben, den man beim unteren Volke selbst in Kreisen findet, die weder lesen noch schreiben können. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Der Chinese ist bekanntlich die größte Spielratte der Welt. Vor[[Präpos]] jedem dritten Hause sieht man ihn am hellichten Tage auf der Erde hocken und Karten spielen. Es gibt in den alten Chinesenvierteln Schanghais ganze Straßenzüge, in denen man nichts anderes als das geistlose {{Mah-Jongg}} fabriziert, das ein gewitzter Europäer über die Salons von London und Paris nun auch den Berlinern als das geistvollste Spiel der guten Gesellschaft aufredet. Hinter den äußerlich ernstesten Dingen, für die man eine Erklärung sucht, verbirgt sich bei näherem Zusehen oft als wahrer Grund die Leidenschaft des Spiels. So ist es leider auch bei den über ganz China in großem Stil abgehaltenen Pferderennen, die mit ernstester Pferdezucht so gut wie gar nichts zu tun haben. »Das Derby«, so beteuerte mir ein reicher Chinese, der einen großen Rennstall unterhält, stolz, »wird bei uns zweimal im Jahre gelaufen.« – Ich hatte das Glück, es mitzuerleben. Die äußere Aufmachung wie bei uns. Das Publikum übertrifft an Eleganz und Buntheit – es gibt keine Nation des Ostens und Westens, die nicht vertreten wäre – alles, was ich in Baden-Baden, Paris, {{Trou¬ville}}, {{Enghien}}, {{Ep¬som}} und {{Ascot}} zu sehen bekam. Es geht auch äußerlich alles sportmäßig zu. Aber wenn man den Dingen auf den Grund geht, sieht man, daß der Sport als solcher allen diesen Besuchern Hekuba ist, das Derby selbst aber nichts weiter als eine große Volkslotterie darstellt. Altersgrenzen der Pferde existieren nicht. Alle Sieger bestimmter größerer Rennen sind qualifiziert; daher das Derby auch Champion-Rennen, die qualifizierten Pferde Champions heißen. Die Bewerber, geht man ihrer Herkunft nach, sind meist in der Mongolei aufgekaufte Ponys. Die Distanz beträgt einundeinviertel englische Meilen, die Distanz der übrigen Rennen eine viertel bis zwei Meilen. Wochen schon, bevor das Champion-Rennen gelaufen wird, ist ganz Schanghai in Feiertagsstimmung und fieberhafter Erregung. Die Modehäuser arbeiten die Nächte durch, damit ihre Kundinnen auf den für Schanghai charakteristischen Tanztees, die eine Art Vorschau zu den großen Rennen bilden, glänzen. Man spricht von gar nichts anderem als von – Sie[[1]] meinen[[Meinung]], dem vermeintlichen Sieger? – Nein! das interessiert niemanden – wohl aber das neue Kleid, in dem man die lieben Bekannten am Tage des Rennens auszustechen hofft. Da der Chinese ein sehr großer Optimist ist und trotz der alljährlichen zweimaligen Enttäuschung jedesmal von neuem glaubt, sein Los, also sein Pferd, von dem er nichts weiter als die Nummer kennt, werde gewinnen, so werden Anschaffungen und Schulden gemacht. Und wie gering ist dabei die Gewinnchance! Fünfzigtausend Lose werden ausgegeben. Der Sieger aus jedem der etwa siebenundzwanzig bis dreißig zum Champion-Rennen qualifizierten Vorrennen bekommt eine Nummer, die aus dem Kessel der fünfzigtausend Lose gezogen wird. Es gewinnen also zunächst nur siebenundzwanzig bis dreißig Nummern. Und nun laufen die Sieger. Und wer das Los des Siegers hat, bekommt den ersten Preis. Er beträgt zweihundertfünfzigtausend mexikanische Dollars – für das zweite Pferd fünfzigtausend und für das dritte Pferd achtzehntausend mexikanische Dollars. Fragt man nach Vater oder Mutter des Siegers, so begegnet man erstaunten Gesichtern. Und ein chinesischer {{Habitué}}, dem ich einen Bogen mit für den Pferdesport einschlägigen Fragen gab, konnte von achtzehn nicht drei beantworten, schrieb aber neben Frage zwölf, die lautete: »Schieben die Jockeis untereinander?« als Antwort: »Ja, entschieden!« Diese Frage schien ihm sicher von allen die überflüssigste und dümmste. Überhaupt soll man sich in China das Fragen abgewöhnen. Als ich letzthin einem hohen chinesischen Beamten gegenüber meiner Verwunderung über die Besetzung der meisten höheren Posten beim chinesischen Zoll und der chinesischen Postbehörde mit Europäern Ausdruck gab, erhielt ich zur Antwort: »Weil die weniger stehlen!« und er erzählte mir von einem Postbeamten, der Monate hindurch hohe Postwertzeichen, die zur Frankierung wertvoller Sendungen bestimmt waren, statt sie der amtlichen Vorschrift gemäß aufzukleben, mit vollendeter künstlerischer Fertigkeit auf die Umschläge aufgemalt habe. Nur ein glücklicher Zufall führte zur Entdeckung. Eines Tages nämlich waren die Bestände so groß, daß ein Teil außerhalb des verschlossenen Postsacks befördert wurde. Es regnete – und siehe da! – die Farben lösten sich und verschwammen. – So konnte er nicht mehr leugnen und wurde überführt. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Gräfin Beatrice ist die vollendete Dame. Ich führe das darauf zurück, daß sie mit sich selbst noch nicht recht im reinen ist. Und Furcht hat, sich etwas zu vergeben. Mit Recht. Denn der Indische Ozean ist keine Kleinigkeit. Es ist mehr als nur die Temperatur an sich von fast vierzig Grad, die sich Tag und Nacht gleichbleibt. Diese Art Hitze ist eine andere als im Roten Meer. Die empfand man als ein Vielfaches der von Italien her gewohnten. Man ging da ein paarmal am Tage unter die Dusche, wechselte Wäsche und den weißen Anzug, sobald man das Bedürfnis dazu empfand; also, sobald man transpirierte. Man war für Stunden wieder frisch, arbeitsfähig, aufgelegt zu allem möglichen. Gewiß, auch zur Erotik. Aber doch beherrscht und in Grenzen. – Hier aber, im Indischen Ozean, trieb es einen nicht zur Dusche. Man transpirierte nicht. Kein Mensch transpirierte. Selbst die Eisengitter des Schiffes, die sonst, rieb man sie eben ab, gleich wieder patschig naß waren, gaben nicht einen Tropfen Nässe von sich. Alles Gedankliche stirbt. Man ist nicht einmal imstande, die Gedanken anderer zu reproduzieren. Ich trage als heiliges Besitztum, wie andere die Bibel! – aber nein! die Bergpredigt befindet sich darunter – ein paar Gedichte von Goethe und {{Ver¬laine}} mit mir herum. Ich sage sie mir fast jeden Abend auf, und wenn ich nachts aus dem Schlaf erwache, ertappe ich mich oft dabei, wie ich sie ganz unbewußt halblaut vor mich hinbete. Hier, in der sengenden Atmosphäre, finde ich nicht zu ihnen. Es ist wie eine geistige Trockenverbrennung. Geistiges und Gedankliches erlischt. Aber die Sinne toben. Ich habe nie gewußt, daß Hitze auf den Geruchsinn wirkt. Hier wird es offenbar. Allen – nicht nur mir. Nicht die Gerüche einer Hexenküche, aus der die Mysterien einer schwarzen Messe aufsteigen. Ähnlich aber in der Wirkung. Revolution der Sinne, gegen die Commandante und Maestro machtlos sind. Wahllos wie dort, obschon hier nicht Gleichgesinnte aufeinanderprallten. Die Unterschiede von Tag und Nacht scheinen aufgehoben. Der Gong, der zu den Mahlzeiten ruft, mahnt, daß es Tag ist. Die Wirkung ist von kurzer Dauer. (Bild 7) (Bild 8) Wo blieb Beatrice während dieser Tage und Nächte? Man sah sie nicht. Böse Zungen kamen zum Schweigen, als man ihre Dienerin in den Armen des Ersten Matrosen fand. Sie[[1]] zogen sich gutbürgerlich aus der Affäre. Der Commandante unter Assistenz des belgischen Doktors und Missionars trauten sie. Holde Einfalt! An dieser Trauung nahm Beatrice teil. Es ging hoch her während vierundzwanzig Stunden. Matrosenhochzeit im Indischen Ozean ist ein selten Ding. Der Whisky floß, und die Stimmung stieg. Seemannslieder, Mandolinengezupfe, Ziehharmonika und Tanz. Bunte Blumen, die Andernfalls[[Asien]] – Erinnerung erwacht, Sehnsucht steigt auf – für die Seidenschau auf der Fahrt hinter Aden geschnitten, die der Erste Matrose an sich genommen hatte, ohne die Verwendung zu ahnen, die sie drei Wochen später finden sollten, schmückten das Schiff. Ist es die Hitze, daß die Ausgelassenheit dieser Menschen nicht schwingt, sondern eckig und klotzig wirkt wie die Bewegungen grober Holzfiguren? Beatrice zahlte alles, was da unten an Bord verzehrt und zerschlagen wurde. Sie[[1]] spielte aber nicht wie die meisten anderen Passagiere erster Klasse den Zuschauer, sondern beriet mit dem Commandante und mir ganz sachlich, wie sich nun während der Fahrt das eheliche Verhältnis der beiden Gatten zu gestalten habe. Auf meinen[[Besitz]] Einwand, daß die Gestaltung sich ja bereits vollzogen und in der nun geschlossenen Ehe eine für beide Teile gleich harte Sühne gefunden habe, erwiderte Beatrice mit der Bitte, sachlich zu bleiben. Der Commandante stimmte ihr bei und sagte: »Ein Vorfall wie der darf sich natürlich nicht wiederholen. Wenigstens nicht sichtbar für Dritte.« »Also muß irgendwie ein gemeinsamer Raum geschafft werden.« »Das verstößt gegen das Reglement. Danach ist einem Matrosen überhaupt verboten, seine Frau mit an Bord zu nehmen.« »Dann wäre es doch richtiger gewesen, sie nicht heiraten zu lassen!« meinte ich. »Es war eine Forderung der Sittlichkeit,« erwiderte Beatrice. Da vergaß ich mich und sagte: »Sittlichkeit ist auch langweilig.« Beatrice fühlte sich getroffen und wurde rot. »Sie[[1]] steht in meinen[[Besitz]] Diensten. Ich trage die Verantwortung,« sagte sie. »Auch für die Ehe?« erwiderte ich. »Also scheiden Sie[[1]] die Beiden wieder,« schlug Beatrice vor. »Das kann nur das Gericht.« »Was glauben Sie[[1]], was die Schiffahrtsgesellschaften für Geschäfte machen würden, wenn die Commandanten das Recht hätten, Ehen zu scheiden,« sagte ich. – Beatrice entschied: »Man muß sie selbst fragen.« Das junge Paar erschien vor unserem Tribunal in rosig angehauchter Stimmung. »Wie haben Sie[[1]] sich die Führung Ihrer Ehe hier auf dem Schiff gedacht?« fragte der Commandante. Es stellte sich heraus, daß Beide darüber auch nicht einen Augenblick lang nachgedacht hatten. – Als Beatrice ihnen deswegen Vorhaltungen machte und sie darauf hinwies, daß eine Ehe doch eine ernste und heilige Sache sei, meinte der Erste Matrose: »Das wird man schon früh genug gewahr. Wozu sich damit gleich die Hochzeit verekeln.« Und die junge Frau setzte hinzu: »Überhaupt bei der Temperatur.« »Wo wollt ihr hier wohnen?« fragte der Commandante. »Im Mannschaftsraum, wo sonst?« erwiderte der Matrose. »Zu acht Mann?« – Wir waren entsetzt. Aber es stellte sich heraus, daß die sieben noch dichter zusammengerückt waren und durch Ziehen einer Bretterwand fast die Hälfte ihres Raumes zu einer selbständigen Kabine hergerichtet hatten. Trotz der Hitze und der an und für sich schon übermäßigen Beengtheit. »Also lassen Sie[[1]] schon,« bat Beatrice den Commandante. Der berief sich auf sein Reglement und die Folgen seiner Nichtbeachtung. »Wenn ich das durchgehen lasse,« sagte der, »so wird der Indische Ozean künftighin der Schauplatz von Massenheuer sein. Kein Matrose oder Steward, keine Stewardesse und keine Amerikanerin über vierzig wird ihn in ledigem Zustand verlassen.« »Das wäre doch eine sozial sehr wünschenswerte Neuerung,« meinte ich. »Entsetzlich!« erwiderte der Commandante. »Denken Sie[[1]] doch, daß wir aus dem Indischen Ozean auch mal wieder herauskommen.« »Ja und …?« fragte Beatrice. »Na, da setzt doch dann die normale Temperatur und mit ihr auch das normale Denken und Fühlen wieder ein.« »Entsetzlich!« rief die junge Frau. »Setzt es bei Ihnen schon ein?« fragte ich. »Nein! aber ich kann mir denken!« rief sie und sah ihren vor ein paar Stunden angetrauten Gatten fast feindlich an. »Hab man keine Furcht,« beruhigte er sie, »zehn Monate im Jahr schwimme ich mit dem Schiff herum.« »Das ist es ja,« rief sie, »mit wem schwimme ich?« »Das kann ich dir sagen!« drohte er. »Man ist nur ein Mensch von Fleisch und Blut. Du kanntest mich ja und hättest dir sagen müssen, daß du nicht der richtige Mann für mich bist.« »Wer denkt denn gleich immer ans Heiraten.« »Fang nicht so an! Ich hab dich nicht gedrängt. Ich hätte auch in Europa noch einen Mann gefunden.« »War ich vielleicht erpicht auf dich?« Sie[[1]] sahen sich an; nicht mehr so feindlich; fragend mehr. Ja, wer war es denn, der uns trieb? Und sie wandten die Köpfe und ihre Augen suchten Beatrice. »Die Gräfin!« riefen sie wie aus einem Mund. – Die wurde blaß und griff nach der Hand des Commandante: »Trennen Sie[[1]] die Beiden!« »Ich kann es nicht!« »Sie[[1]] verhüten ein Unglück!« »Es hätte keine Gültigkeit.« »Ja, hat es denn nicht Zeit bis zum nächsten Hafen?« fragte ich. Das junge Paar sah sich an. »So eilig ist es nun nicht,« sagte sie und er setzte hinzu: »Bis wir heimkommen, kann es schon so bleiben.« »Sie[[1]] sind vernünftiger als wir,« meinte Beatrice. Aber der Commandante war klug und deutete es anders. »So wie ihr euch das denkt, geht das nicht,« sagte er. »Das hat nun ein Ende und muß bleiben, bis ihr daheim seid.« – Jetzt schlossen sie sich noch enger zusammen: »Wir sind verheiratet!« trumpften sie auf. – Man stellte sie vor die Wahl: entweder verließ die junge Frau im nächsten Hafen das Schiff und fuhr auf einem anderen Steamer heim oder man kehrte zu dem Verhältnis zurück, das bei der Abfahrt in Triest bestanden hatte. Mit anderen Worten: die Bretterwand in der Mannschaftskabine fiel und die junge Frau blieb mit der anderen Zofe in ihrer Kabine. – Das junge Paar besprach sich ziemlich lange; und entschied sich für das letzte. »Das ist die wahre Liebe!« rief Beatrice und drückte die junge Frau an ihr Herz. »Es ist die gefundene Gelegenheit,« berichtigte ich und erhielt von Beatrice zur Antwort: »Sie[[1]] denken immer nur Böses.« »Es erscheint Ihnen nur böse,« erwiderte ich. Aber sie hatte kein Vertrauen. Weder in Hongkong, noch in Schanghai ließ sie sich bewegen, an Land zu gehen. Telegramme aus Bangkok – ich zählte zusammen neun – zerriß sie uneröffnet. »Mir zuliebe lesen Sie[[1]],« bat ich. »Es braucht ja nicht vom Grafen, es kann von Andernfalls[[Asien]] sein.« »Interessiert mich nicht,« erwiderte sie. Und sie zerriß die Formulare so gründlich, daß an eine Zusammenstellung nicht zu denken war. Eine Stunde bevor wir Schanghai verließen, hörte ich das erste Mal von Andernfalls[[Asien]]. Ich erhielt ein Telegramm: »Kann mir noch kein Urteil bilden. Allem Anschein nach aber eine wilde Sache. Andernfalls[[Asien]] Gräfin S-M« &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x An Bord im Hafen von Schanghai wiederholte sich, was sich im Kleinen bereits in Colombo und – schon mit leichtem chinesischen Einschlag – in Singapore abgespielt hatte: der Run der Händler. In Aden handelten fast ausschließlich die Juden. Es ist der vielleicht einzige Ort in der ganzen Welt, an dem Juden unbehelligt von Haß und Neid ihrer Mitmenschen leben. Dabei haben sie es gerade hier zu ansehnlichem Wohlstand gebracht. Sie[[1]] tragen rote Kappen, und der Fremde ist geneigt, sie für Araber, gar für Türken zu halten. Dabei unverkennbar die Rasse, die sich hier bestimmt noch in keinem Falle mischte oder sonst in irgendeiner Form assimilierte. Schwermut in den Augen, das Leid um die Lippen, aber ein gerader Rücken und ein aufrechter leichter Gang. Nichts von der Schwere des ewigen Juden, der heimatlos und gehetzt durch die Welt jagt. Die Juden Adens haben ihre Heimat – und was für eine! Nie ahnte ich, daß eine Stadt, die so stark alle Merkmale der Wüste trägt und auf toter, nirgends auch nur einen Strauch gebärender Erde, in der oft jahrelang kein Tropfen Regen fällt – daß eine solche Stadt den Wunsch, auch nur auf kurze Zeit in ihr zu leben, wecken kann. Das Leben ist – im Gegensatz zu Port Said, das wie eine Filiale von Paris anmutet – natürlich ganz europafremd. Es wirkt wie das Gemälde eines großen Künstlers. Dieser Eindruck ist so vollkommen, daß man jeden Menschen und jeden Kamelwagen als selbstverständlich gerade an der Stelle empfindet, an der man ihm begegnet. Er gehört zum Ganzen und ist für den künstlerischen Gesamteindruck notwendig. Das gilt auch von den paar tausend Juden. Nie und nirgends in der Welt ist mir Stadt und Landschaft so als &&c=8 ein &&c=0 Gemälde erschienen wie hier. (Bild 9) (Bild 10) Aber ich wollte von den Händlern sprechen. Und nicht einmal von denen in Aden. Denn wir liegen in Schanghai und an Bord haben sich ein paar Dutzend Chinesen etabliert, als wenn sie auf Jahre hinaus hier ihre Verkaufsstände beibehalten wollen. Dieser elegante, schlanke Chinamann, ganz in schwarzer Seide, mit gepflegten Händen und einem Gang, um den die Götter ihn beneiden können, ist der Schneider. Er wie seine ganze Zunft ist berühmt. Weit über sein Riesenreich hinaus. Zwei etwa vierzehnjährige Jungen assistieren. Er nimmt Maß. Nur drei Zahlen notiert er sich. Länge der Hose, Schulterbreite und Umfang des Leibes. Du glaubst, er fängt eben an zu messen. Da verbeugt er sich lächelnd und dankt. – »Wann probieren Sie[[1]] an?« – Er lächelt wieder und schüttelt den Kopf. »Gar nicht!« sagt er. – »Hören Sie[[1]] mal …,« widerspreche ich, »das gibt es doch nicht.« – »In China schon,« erwidert er. Und Umstehende bestätigen es. – Ein Anzug aus bestem weißen Leinen für sechs mexikanische Dollars gleich vierzehn Mark vierzig. Ein Anzug aus feinster Bastseide zweieinhalb Pfund gleich fünfundvierzig Mark. Das kann doch nichts sein, denkt man und zieht nach zwei Tagen die fertigen Sachen an, die ganz genau so sitzen wie die der ersten Schneider in London und Berlin. Was sind daneben die Wunder Indiens? Und man staunt, daß nicht Unternehmer diese Kleiderkünstler mit nach Europa nehmen und dort etablieren. Ich habe in einem ersten Berliner Spezialgeschäft für Tropenkleidung jeden Anzug dreimal anprobiert, für den Leinenanzug fünfzig und für den bastseidenen hundert Mark bezahlt, und als ich sie anzog – der Rest ist Schweigen. Ich bringe sie meinem Friseur mit oder eröffne in Berlin ein Büfett im {{Rus¬sian}}-Stil. Bis zu meiner Rückkehr werden die russischen Emigranten Berlin ja endgültig erobert haben. Aber nicht nur der Schneider verblüffte. Da stand ein verschmitzter Chinese und hatte neben sich ein paar Dutzend {{Mah-Jonggs}} aufgebaut. Feinste Handarbeit! Kunstvolle Kästen mit vier Etagen. Mit hundertsechzig Mark war das einfachste ausgezeichnet – in Berlin W 62, Kurfürstenstraße. Der Chinese verlangte dafür dreißig mexikanische Dollars gleich zweiundsiebzig Mark und wurde ausgelacht. Er ging auf fünfundzwanzig herunter, von fünfundzwanzig auf zwanzig und von zwanzig auf zehn. Aber der Amerikaner, der es kaufen wollte, blieb bei seinem Gebot von fünf mexikanischen Dollars gleich zwölf Mark. Das Gesicht, mit dem der Chinese es ihm nach unendlichen Gebärden schließlich reichte, das Lächeln, mit dem er die fünf Dollars einstrich, ließ erkennen, daß er auf höchstens vier gerechnet hatte. Was von {{Mah-Jongg}} gilt, gilt von Porzellan, Elfenbein, von der Seide und allen anderen Waren, deren Heimat China ist. Buddhas, für die hundert mexikanische Dollars, also zweihundertvierzig Mark gefordert werden, gehen für dreißig Schillinge, also achtundzwanzig Mark weg, kostbare Vasen, die zweihundert mexikanische Dollars kosten sollen, werden bis auf zwanzig heruntergehandelt. – Aber man ist kaum wieder auf hoher See, da kommen ernste Bedenken. Ist der Buddha echt? Man fragt den und jenen. Leute, die sammeln und es wissen müßten. Es stellt sich heraus, es gibt auf der ganzen Welt nur einen, der mit ziemlicher Sicherheit Echtheit und Alter der Buddhas bestimmen kann. Affektionswerte also. Man muß den guten Glauben haben. Oder Friedrich Perzynski sein. Der kennt China und seine Götter wie kein zweiter. Aber wo unter den Lebenden gibt es noch einen Weltreisenden, der begeistert ausruft: »Die Verkehrsmittel sind Gott sei Dank kläglich!« und fortfährt: »Reisen – das ist nicht die zeitvergeudende Beschäftigung geistig verkümmernder Menschen, die mit der Eisenbahn Kontinente durchkreuzen und die Vollkommenheit unserer und ihrer eigenen Zivilisation anstaunen, weil sie nun schon fast allerorten auf einer Sprungfedermatratze bei elektrischem Licht die letzten Reuterdepeschen genießen können, und die in die Speisesäle großer Hotels jenen faden Alltagsgeruch hineintragen, den Snobismus für das Aroma Wohlerzogener hält.« Diesem Perzynski, der die Grotten von Johore in den Bergen bei {{Hsiling}} entdeckte – denn wenn englische Fasanenjäger unter ihnen entlang kletterten, ohne ein Dutzend überlebensgroße Skulpturen zu sehen oder zu beachten, so bleibt es Neuland –, traue ich es zu, Alter und Echtheit eines jeden Buddha festzustellen. Er ist es ja – und jeder, der von chinesischer Kunst nur eines Geistes Hauch verspürt, weiß, was das heißt – der, ich glaube mit Hilfe eines Lamapriesters, die Götter fand, die des großen {{Hsüan tsanps}} Schüler auf Geheiß des Meisters herstellten. Jenes selben {{Hsüan tsanp}}, dessen Manuskripte Marc Aurel Stein an der {{Kansu}}-Grenze in einem Tempel fand und über die alle Sinologen Europas heute brütend sitzen. Doch keine Sinologie! Des Europäers Sehnsucht, der in China Kunst sucht und auf Götter jagt, ist {{Lohan}}. Griechenlands Größtes verblaßt daneben. Wer dies Antlitz auch nur auf Tafeln sah, vergißt es nicht. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Als ich Schanghai und damit China verließ, um nach Japan zu fahren, blieb ungestillte Sehnsucht zurück, und mir war, als würde China sehr bald mein Schicksal werden. Schwer fand ich zu den Europäern an Bord zurück. Mir war, als müßten auch sie nun anders fühlen. Aber sie saßen bei ihrem Whisky, lasen »{{The Shang¬hai Daily}}« und politisierten. Ungern berichte ich, was sie sprachen. Doch scheint's mir von Bedeutung und nicht ohne Zusammenhang mit dem Erleben auf dieser Reise: Eine amerikanische Familie aus {{Au¬ro¬ramd}}, eine englische aus der Gegend von Birmingham {{[Bir¬ming¬ham]}}. Sehr smarte Leute. Unabhängig voneinander und ohne sich zu kennen, haben sie Europas zur Zeit größte Sehenswürdigkeit, die zerstörten Gebiete Nordfrankreichs, besucht. Eine äußerst geschickte Propaganda in den USA hat es den Amerikanern in Nord und Süd eingehämmert, daß Versailles {{[Ver¬sailles]}}, die Venus von Milo, die Peterskirche in Rom, Rembrandts Nachtwache und die Bernina{{[Ber¬ni¬na]}}-Alpen europäische Sehenswürdigkeiten von gestern seien, überholt durch die neueste Attraktion, deren Schöpfer die Hunnen (sprich Germans), deren Opfer die sanftmütigen Franzosen sind. Und ich neige ganz im stillen zu der Ansicht, daß es gewissen Kreisen in Paris ganz erwünscht wäre, wenn diese werbefähige Attraktion der Mitwelt noch recht lange erhalten bleibt, daß es ihnen mit dem Wiederaufbau und dessen Beschleunigung also nicht so ernst ist, wie sie tun. – Die englische Familie und die amerikanische, die von weither kamen, um dies Wunder zu bestaunen, reagierten verschiedenartig. (Bild 11) (Bild 12) Ich habe an Bord zwei Monate lang wohl nicht einmal mit Engländern und Amerikanern von dem Krieg gesprochen. Takt ließ uns an diesem Thema, dem man Reize gewiß nicht abgewöhnen kann, vorbeisteuern. Grenzgebiete, die zu streifen unvermeidlich war, passierten wir reibungslos. Kurz vor der Abfahrt von Schanghai erfuhr der Amerikaner die Freisprechung Ludendorffs im Münchener Hochverratsprozeß. Die Kontenance {{[Kon¬te¬nance]}} verließ ihn. Der Mensch, wie er betonte, nicht der Amerikaner erboste sich. – »Um den Krieg zu gewinnen, hätte er ganz Europa anzünden können. Aus Ärger über den verlorenen Krieg auch nur eine Hütte anzuzünden, ist ein Verbrechen.« – Stimmt es, was ich pflichtgemäß erwiderte, ohne zu wissen, ob es Wahrheit ist, daß Ludendorff damals noch fest an einen Sieg glaubte, so soll die deutsche Propagandastelle in Aktion treten. Die beiden Amerikaner habe ich überzeugt, es gilt, weitere siebzig Millionen zu überzeugen. – Die beiden Engländer sind außer in Nordfrankreich auch im besetzten Gebiet gewesen. Ihr »{{shoc¬king}}« ist so ehrlich, daß man ihnen glaubt, wenn sie sagen: »Was die Deutschen in Nordfrankreich und Belgien gesündigt haben, ist durch die Franzosen an Rhein und Ruhr mehr als ausgeglichen.« – Ich schlage also vor, daß die deutsche Propagandazentrale – ach, ich kenne sie! – sie wird keinen Finger rühren; und wenn sie sich bemüht, wird es ein Fehlgriff sein! – nach französischem Vorbild »Vergnügungsreisen nach Rhein und Ruhr« organisiert und zwar möglichst im Anschluß an die Rundfahrten durch Nordfrankreich. Es ist moralischer Kredit, aber auch Geld dabei zu verdienen. Also: Schieber heraus! Das amerikanische und englische Ehepaar reist mit großen Empfehlungen an offizielle Persönlichkeiten nach Japan. Und immer klarer wird es mir, was ich bereits einmal angeregt: die Propagandastelle der deutschen Regierung möge erwägen, ob es nicht zweckmäßig sei, gut erzogene, gut aussehende, perfekt Englisch sprechende Damen und Herren mit gesellschaftlichen Talenten auf den großen Ozeandampfern reisen zu lassen. – Damit man aber nicht glaubt, ich rede {{pro domo}}: ich bin zwar gut angezogen, sehe aber nicht mehr gut aus und spreche ein furchtbares Englisch – und komme als {{Di¬plo¬mat voya¬geur}} also nicht in Frage. – Den Gedanken des {{Di¬plo¬mat voya¬geur}} aber lasse ich mir nach meiner Rückkehr patentieren und bin überzeugt, daß sich alle Staaten der Welt – außer Deutschland – um das Patent reißen werden. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="13._Kapitel" &&fa Dreizehntes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Japan! Das Märchen aus Tausendundeiner Nacht! Das Zauberland des {{Fut¬ji¬ja¬ma}}. In dem Tee[[1]]haus neben Tee[[1]]haus steht. Darin Tag und Nacht die zarten Geishas tanzen. Schmiegsame, elfenbeinfarbene Gestalten, die aus seidenen Kimonos gleiten und die schlanken Körper nach den Tönen der Musik biegen. – Wie Lilien auf dem Felde, über die der Wind fährt. So etwa müßte ich beginnen, wollte ich mit den europäischen Dichtern wetteifern, die über Japan schrieben – gleichgültig, ob sie es sahen oder nur »gefühlsmäßig erlebten«. Diese letzten schreiben besonders gern und ausführlich. Kein Wunder, wenn die Völker des Westens eine völlig falsche Vorstellung von Land und Leuten bekamen, die dadurch keine Berichtigung erfuhr, daß eine ganze Reihe Mißvergnügter gerade in den letzten Jahren Bücher über Japan schrieben, in denen sie dies Volk der »Heuchler, Lügner, Fälscher, Feiglinge und Affen« in Grund und Boden donnerten. Der Japaner verstand eins so wenig wie das andere. Beherrschtheit ist der Grundzug seines Charakters. Falsch zwar, zu vermuten, daß hinter dem ewigen abgeklärten Lächeln kein Gefühl, in dem stahlharten Körper kein Herz lebe. Training ist alles. Aber wer würde sein Gefühl öffentlich zur Schau stellen? Es in seinem Gesicht, für jeden ablesbar, mit sich herumtragen? Hinter der Maske des Lächelns, das alle Welt mißversteht, verbirgt er es. Lächelt, wenn die Mutter stirbt – und schluchzt innerlich wie wir. Haßt den Amerikaner, der ihn in seinen heiligsten Gefühlen kränkt, und überläßt ihm in der überfüllten Halle des Imperial in Tokio lächelnd den letzten Tisch. Der bestdurchtrainierte Mensch, dem äußerliche Dinge nicht ans Herz gehen. Dem Dicht- und Malkunst innerlichste Angelegenheit des Herzens, Politik äußerliche Verstandeskunst ist. Der nicht begreift, daß es Völker gibt, die Politik mit Sentiments {{[Senti¬ments]}} treiben, daher sich ereifern. Ihr Sprichwort: »Wer sich ereifert, hat Unrecht«, stammt von ihrem besten Staatsmann. So elementar ist ihm der Grundsatz, daß in der Politik Zweckmäßigkeit entscheidet. Falsch ist es, von einer drohenden japanisch-amerikanischen Kriegsgefahr zu sprechen. Ich war gerade in Tokio, als das amerikanische Einwanderungsverbot in Japan bekannt wurde. Ich hatte auch bald darauf Gelegenheit, die Stimmung in Kobe, Osaka, Kyoto und Nagasaki kennenzulernen. Fraglos war hier eine stolze Nation stark in ihrem Ehrgefühl gekränkt. Hätte der Volkswille entschieden, der Sturm wäre losgebrochen. Aber dies Volk, politisch diszipliniert wie außer ihm nur das englische, weiß – und in klaren Worten predigt es ihm seine Presse –, daß Staatsklugheit politische Leidenschaft meistern muß. Die Gründe kennen nicht alle. Es fehlt einmal an Geld, um mit Amerika Krieg zu führen – und dann: zwei Drittel des japanischen Exports geht nach den Vereinigten Staaten. Das berechnende Amerika konnte sich den Affront leisten. – Vielleicht auch nicht. Wer die Japaner kennt, weiß, daß sie die Kunst des Wartens verstehen wie keine andere Nation. – Wer die tiefe Erbitterung sah, zu deren Entspannung die Staatsraison kein Ventil öffnen durfte, der ahnt zum mindesten, was in der Zeiten Hintergrund schlummert, und daß Schweigen und Hinnehmen hier Vorbereitung heißt. Ich sagte früher schon einmal: den Ausschlag wird China geben. (Bild 13) (Bild 14) Wie beherrscht der Japaner ist und wie unbekümmert der Amerikaner, kam in dieser Zeit politischer Hochspannung deutlich zum Ausdruck. An dem kritischen Tage, glaubte ich, würden die Amerikaner und Amerikanerinnen im Tokioer Imperial auf den Zimmern speisen und die Japaner im großen Speisesaal unter sich lassen. Aber nein! Sie[[1]] saßen schmuckbehängt in ihren Dékolletées und Smokings wie jeden Abend und beäugten mit noch größerer Ungeniertheit die sehr viel reizvolleren Japanerinnen, die mit unvergleichlicher Anmut und Grazie neben ihren Männern in den Saal trippelten und von den Amerikanern überhaupt keine Notiz nahmen. Ihre Kimonos waren an jenem Abend kostbar und geschmackvoll wie immer. Aber – wie mir schien – weniger farbenfreudig. Schwarz mit weißbestickten Blumen herrschte vor. Und das war gewiß kein Zufall. Auch, daß die Kapelle an diesem Abend keine amerikanischen Lieder spielte. Und auf des Japaners beredtem Gesicht, das manches Wort erspart, stand für jeden, der zu lesen versteht, an jenem Abend tiefe Verachtung. Freilich, so ungeniert auch heute neugierige Blicke der Amerikaner die Japaner umspannten – sie lasen weder auf den Gesichtern, was im Innern dieser Japaner vorging, noch erkannten sie es aus den Farben der Kimonos, die ihre Frauen trugen. Sie[[1]] machten sich wie immer über die Seidenpantöffelchen lustig und stritten um den vermutlichen Wert der bestickten Seidenkimonos. – Ein paar Abende später, als die Erregung noch auf gleicher Höhe war, klang aus einem der vielen Häuser des Vergnügungsparks in Kobe, zwischen einem Theatergebäude und einem Kino, japanisch-kirchlicher Gesang, aus dem die Worte Jesu deutlich vernehmbar waren. Ich trat ein und fand in einem Saal etwa zwei- bis dreihundert singende Japaner. Sie[[1]] sahen zu einem amerikanischen Lehrer oder Missionar auf, der auf einem Podium stand und mit einem Stock bald die Melodie angab, bald auf eine Tafel wies, auf der mit Kreide in japanischen Lettern der Text des Liedes stand. Man bedenke: in diesem Stadium nationaler Erregtheit versucht ein Amerikaner die japanischen Seelen zu bekehren und wird geduldet. Draußen singt das Volk, das weiß, was drinnen vorgeht, nationale Lieder. – Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll: die Beherrschtheit der Japaner oder die Unverfrorenheit des Amerikaners. Dies Land ist ein Körper. Du kannst Tausende von Kilometern in der Bahn das Land durchreisen: nie verbirgt es auch nur auf einen Augenblick seinen Charakter. Du kannst im Süden ein Stück Land mit seinen Bewohnern herausheben und mit einem Stück Land im Norden vertauschen – Land und Leute verwachsen mit dem übrigen Land zu einem Ganzen, ohne daß Spuren der Loslösung sichtbar werden. Wo wäre das in China oder auch nur in Deutschland der Fall? – Man stellt den Japaner immer als Vorbild hin für Vaterlandsliebe. Sofern das ein Begriff ist, trifft es nicht zu. Bei uns schreien die Leute immer ganz laut ihren Patriotismus hinaus, und wer am lautesten schreit, glaubt, der größte Patriot zu sein. Nun schreit der Japaner aber gar nicht. Ich habe in all der Zeit, die ich in Japan war, nicht einmal das Wort Patriotismus gehört. Sprach ich davon, so sah man mich an. Man verstand mich nicht. Japaner und Patriotismus – ja, das ist geradezu Pleonasmus {{[Pleo¬nas¬mus]}}. Der Japaner fühlt sich als ein – und zwar im Verhältnis zu Japan – bedeutungsloses Stück des Ganzen, wobei er Japan geografisch und ethnografisch, darüber hinaus aber als einen Ewigkeitswert faßt, im Bereich dessen er mit seinen Ahnen und Nachkommen ein ebenfalls unzertrennliches Glied bildet. Indem er so ein Teil des Ganzen bildet, ist Liebe und Aufopferung letzten Endes bei ihm gleichbedeutend mit Eigenliebe, das Interesse an Japans Bestand, also: Selbsterhaltungstrieb. Dies Gefühl, in dem Japaner zweifellos von Urbeginn an, also eigentlich keine Folge der Erkenntnis – so wenig, wie man sich Rechenschaft über die Gründe gibt, aus denen man seine Mutter liebt – hat vor manchem Glauben voraus, der nicht auf Erkenntnis, sondern auf Gefühl beruht, daß dies Gefühl der Erkenntnis standhält. Und an dieser, aus Gefühl und Erkenntnis kommenden Liebe des Japaners für sein Land wird in Japan mit weit größerer Bestimmtheit als in Indien oder China der Bolschewismus scheitern. Und die Japanerin? – »das Weibchen {{par ex¬cel¬len¬ce}}« würde Werner Sombart {{[Som¬bart]}} sagen. Aber Peter Altenberg hätte erwidert: »Wie ich es sehe – untenrum – mit dem Gang – unmöglich!« – Der Kritiker schaut, schnüffelt und sagt: »Hm! eine literarische Angelegenheit, scheint mir. Ein Leben gewordenes Gedicht.« – Und nun begänne der Streit, ob dies Gedicht von Rilke, George oder Stefan Zweig – oder am Ende nur eine Übertragung von Otto Hauser sei. – Otto Erich Hartleben und Otto Julius Bierbaum aber hätten die erste Geisha beim Kimono gepackt und auf ihr Auto getragen, hätten sie neben sich auf den Führersitz gesetzt, ganz dicht – ach nein – sie hätten sie auf den Schoß genommen, jeder eine, wenn nicht zwei – und wären mit ihnen durch die Welt gejagt. – Die Zunft aber hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und geschrien: »Wie unliterarisch! Daß diese Bonzen doch auch gar kein Gefühl für echte Kunst haben.« Und wie hätte sich die Japanerin zu alledem verhalten? Nun, sie hätte sich für Otto Julius und Otto Erich entschieden und die Kritiker ausgelacht. Denn sie ist durchaus keine tote Angelegenheit. Sie[[1]] will nicht, daß man sie literarisch nimmt. Sie[[1]] duldet wohl, daß man Gedichte auf sie macht. Und es gibt niemanden, der sie besser vorträgt als sie selbst. Die Gedichte müssen sehr zart und blumig sein, denn sie heißt {{Hana}}, {{Asa}}, {{Sao}}, {{Tori}}, {{Ima}}. Das sind alles liebliche sanfte Namen, die an Blumen erinnern, die sie so liebt. Und wie diese blüht, selbstlos und zur Freude der Anderen, und erhebt kein Wehgeschrei, wenn man sie bricht. Nur, daß man zart mit ihr umgeht, fordert sie. Also eine lebende Puppe! erwidert mit Spott und Hohn die emanzipierte Frau. – Durchaus nicht. Sie[[1]] ist im äußeren Leben so modern wie ihr. Aber innerlich ist sie im Gegensatz zu euch darum doch Frau geblieben. Sie[[1]] treibt jeden Sport, lenkt ihr Autocar selbst und ist im Verkehr gewandter und anmutiger als ihr, gräßliche Emanzipierten! So wenig ich euch an und für sich einen so herrlichen Anblick und einen so reinen Genuß gönne, so wünschte ich doch, ihr säßet nur einen Abend mal in einem der großen Hotels in Tokio, Kobe, Kyoto, Nikko {{[Nik¬ko]}} oder Osaka und säht, wie die japanischen Damen ihre unvergleichlich schönen, kostbaren Kimonos tragen. Wie sie ihren etwas zaghaften, im Smoking noch immer nicht ganz frei sich bewegenden Männern über eine gewisse Schüchternheit hinweghelfen! Denn die Ungeniertheit, mit der die Amerikaner und ihre Damen die Japaner begaffen, ist beispiellos. Der Japaner, im eigenen Lande genau so feinfühlend und zurückhaltend wie in Europa, steht hilflos gegenüber diesem Mangel an natürlichem Takt. Aber die Japanerin ist ihm an Gewandtheit überlegen. Wie sie an den Tischen der Amerikaner vorübertrippelt, bald ihren Mann vor den aufdringlichen Blicken der Amerikaner deckt und den Beschauern dabei selbst ganz allerliebst den Rücken kehrt, so daß jeder einigermaßen Empfindsame die Absicht verspürt, wie sie dann plötzlich den Kopf wendet und mit einem spöttisch verächtlichen Blick die amerikanischen Damen für Augenblicke außer Gefecht setzt, wie sie, fühlt sie sich gar zu stark beobachtet und bekrittelt, den Stuhl wechselt – das alles geschieht mit einer Anmut und Grazie, vor der man immer von neuem staunt. Und wie die Dame, so die Geisha, bei der jede Bewegung sich ganz unbewußt zum Tanz gestaltet und deren Tanz wiederum doch so gar nichts mit Choreografie, mit Kunst, mit Können zu tun hat, der nichts als eine Reihe Bewegungen des Körpers ist, in dem der Rhythmus ein angeborener Sinn wie das Gehör oder das Sehen ist. Unbewußt also! Wie der Geschmack, den jede hat. Und der Sinn für Farben, die das Auge von dem Tage an erlebt, an dem sich ihm das Bild der Welt erschließt, das nirgends anmutiger und in den Farben feiner abgetönt ist als in Japan. Man hört immer von der Jahrtausende alten Kultur der Japaner reden. Auch viele Schriftsteller, für die Japan nichts anderes als eine Tee[[1]]hausangelegenheit mit bunten Papierlaternen und tanzenden Geishas in seidenbestickten Kimonos ist, schreiben es nach. Dabei sind die Japaner bis zum Einbruch des Buddhismus ein Naturvolk gewesen, das seine Kultur von niemand anders als den Chinesen übernommen hat. Das aber war nicht Tausende vor Christi, vielmehr etwa im achten Jahrhundert nach Christi Geburt. Damit aber ist alles, was im Hinblick auf das hohe Kulturalter für und wider Japan gesagt wird, hinfällig. Vor[[Präpos]] allem aber erklärt sich daraus die natürliche Frische und das Vorwärtsstreben der Japaner im Gegensatz zu der Lethargie der um anderthalb Jahrtausende älteren Chinesen. Ergründet man, wie die Verbindung des Shinthoismus {{[Shin¬thois¬mus]}} mit dem Buddhismus – dieser ist in Japan tiefer eingedrungen als in China – erfolgt ist, so hat man den Schlüssel zur Erkenntnis dieses immer wieder falsch beurteilten Volkes in Händen. Zwar ist das ethische Moment, auf dem die Pflege der Pietät und damit die ganze Anschauungs- und Gefühlswelt des Japaners ruht, wohl konfuzianischen Ursprungs. Aber buddhistisch ist doch die zarte Empfindsamkeit in allen Lebensverhältnissen, der Zusammenhang mit der Natur, die Liebe zu den Blumen und zu den Tieren. An der Wiege dieses Volkes stand kein Wotan! Der würde sich vermutlich vor Lachen geschüttelt haben, wenn er erführe, daß die Japaner nach dem Russisch-Japanischen Kriege eine Trauerfeier für die gefallenen Pferde veranstaltet haben. – Ja, so gefühlvoll sind die Japaner – und doch so tapfer. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Wenn {{Ra¬bin¬dra¬nath Ta¬go¬re}} in seinem Buche über den »Geist Japans« den Japanern besonderen schöpferischen Geist zuspricht (»es erwarb nicht, es schuf«), so ist das, wie so vieles dieses endlich entgötterten Inders, auf den monatelang die ganze Welt schwur, natürlich Unsinn. Das einzige, was sie nicht sind, ist schöpferisch. Auch in der Kunst nicht, wie man uns so gern glauben machen will. Nein, schöpferisch sind sie nur im Dekorativen. Die Wandmalereien im {{Kano Eitoku}} im {{Nij opalast}} in Kyoto haben ihresgleichen nicht. Und hier herrscht tatsächlich ein selbständiger nationaler Stil. Aber schon in den rein impressionistischen Naturskizzen ist chinesischer Einfluß unverkennbar. Im übrigen ist der Japaner technisch kunstsachverständiger als wir, da er die Möglichkeiten der Pinselführung von seiner eignen Schrift her besser beurteilen kann. Aber zur Schaffung tiefgründiger, an Herz und Nieren gehender Werke reicht seine zarte Kunst nicht aus. Darin ist ihm der in vielem gefühlsstärkere, in der Grausamkeit von keiner Kultur-, vielleicht überhaupt von keiner Nation erreichte Chinese über, der dann doch wieder – und das ist das Wunderbare – in der Zartheit der Linie den Japaner übertrifft. Einen {{Wu-¬Tao-¬tse}} und {{Li Lung-¬mien}} haben die Japaner jedenfalls nicht. Aber welche Nation besitzt überhaupt Kunstwerke wie {{Hui Tsungs}} »Herbst« und »Winter« oder {{Ma Yuans}} »Ufer im Regen«? (Bild 15) (Bild 16) Anfang September jährte sich zum erstenmal der Tag, an dem Tokio und Yokohama {{[Yo¬ko¬ha¬ma]}} fünfhunderttausend blühende Menschen der Erdbebenkatastrophe opferten. Wir haben diesem grausamsten Naturereignis, das die Menschheitsgeschichte kennt, neben dem die Beben von Messina {{[Mes¬si¬na]}} und Pompeji {{[Pom¬peji]}} beinahe harmlos anmuten, nicht die genügende Beachtung geschenkt, weil wir zu stark noch mit uns selbst beschäftigt waren. Japan, das unsere Lage besser versteht als irgendein europäischer Staat, hat uns das nicht nachgetragen. Wir Deutsche sind die zur Zeit beliebteste Nation in Japan. Ich habe vom Minister herab bis zum Rikschakuli {{[Rik¬scha¬ku¬li]}} – der hier auf ganz anderer Bildungsstufe steht als in China – den Eindruck gewonnen, daß sie sich ihrer Kriegsteilnahme und sogenannter »Eroberungen« schämen. Das ist immerhin etwas. Aber es prägt sich auch in der besonders guten Behandlung aus, die sie überall – vor allem aber in {{Kiaut¬schou}} – den Deutschen zuteil werden lassen. Man darf daran erinnern, daß amerikanische Kreise, was gewiß kein Zeichen besonderen Herzenstaktes war, das Erdbeben als gewonnenen Krieg gefeiert haben. Mit besonderer Befriedigung, weil der Sieger keine Opfer brachte. Nun, das stimmt nur sehr bedingt. Die Nachricht, die durch die Presse der ganzen Welt ging und von den Japanern wohl nicht ohne Absicht unwidersprochen blieb, von der Vernichtung einundzwanzig auf Dock befindlicher Kriegsschiffe, entspricht nicht den Tatsachen. Daß in Yokohama, heute noch ein Trümmerhaufen, unter dem zehntausende ungeborgene Tote liegen, Werte verlorengingen, deren Verluste direkt und indirekt die Wehrkraft Japans schwächte, sei zugegeben. Aber mit verhundertfachtem Eifer werden seit elf Monaten diese Werte neugeschaffen. (Dem Aufbau der Stadt stand bisher ein Bauverbot entgegen, doch bringt die »{{Spe¬cial Re¬con¬struc¬tion Num¬ber}}« der »{{The Japan Times}}« vom Juni ganz genaue Pläne des Wiederaufbaues.) Und was neugeschafft wird – besonders an Schiffen – ist modernster Konstruktion. So wird sich in dem Augenblick, in dem die Wunden des Erdbebens geheilt sind, zeigen, daß Japan zum mindestens qualitativ sehr viel besser dasteht als vor einem Jahre. – An einen Krieg mit Amerika denkt Japan nicht. Auch neue Demütigungen, die wohl als Ausnutzung der Schwäche Japans anzusehen sind, werden Japan nicht aus der Ruhe bringen. Ihm fehlen zur Zeit die Mittel und die Möglichkeit, seiner Ausfuhr, die zu zwei Dritteln nach Amerika geht, eine andere Richtung zu geben. Japan hat den Affront mit der Errichtung einer amerikanischen Schule in Tokio beantwortet. Es wird im Wiederholungsfalle wahrscheinlich auch in Osaka und Kyoto amerikanische Schulen errichten und damit der Welt ein Beispiel geben, wie man hohe Politik treibt. Denn dieser Akt der {{Cour¬toi¬sie}} beschämt Amerika in den Augen der Welt, hebt Japans Prestige und gibt ihm zugleich die Möglichkeit, Amerikaner in sein Land zu ziehen und auf deren Ausbildung und Gesinnung einzuwirken. Amerika kennt diese Methoden längst. Es wendet sie seit langem auf die Chinesen an. Ein numerus clausus, auf dessen Auswahl gewiß der amerikanische Botschafter in Peking und der Generalkonsul von Schanghai entscheidenden Einfluß üben. China sieht darin längst ein Danaergeschenk und erleichtert den »veramerikanisierten« Chinesen, die, in amerikanischen Kleidern hängend, in der Tat etwas komisch wirken, das Fortkommen durchaus nicht. Japan wird auch darin seine gelbe Schwester an Klugheit übertreffen. Es wird nicht versuchen, die Amerikaner zu japanisieren, aber es wird deren falsche Vorstellungswelt vom Land der aufgehenden Sonne berichtigen und vor allem von den Amerikanern an Wissenswertem nehmen, was diese persönlich oder durch ihre Beziehungen mit ihrer Heimat zu geben haben. Das wird kein äußerlich sichtbarer Nachrichtendienst, vielmehr das von selbst sich ergebende Resultat eines mehr oder weniger freundschaftlichen Verkehrs sein, aus dem sie weit mehr Nutzen ziehen werden, als die Unterhaltung der Schule ihr Kosten verursachen wird. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Kurz vor Hongkong auf dem Schiff. Die amerikanische Familie, die über Hongkong in die Heimat fährt, erzählt von Ceylon. Sie[[1]] hat alles gesehen, was in dem amerikanischen Reiseführer einen oder mehr Sterne hatte. An Orten, an denen es Sehenswürdigkeiten mit drei Sternen gab, blieben sie über Nacht. »Der inneren Sammlung wegen.« Wie ein Amerikaner sich innerlich sammelt, bleibt sein Geheimnis. Mir ist noch keiner mit Innenleben begegnet. Ich kannte Frauen, amerikanische Frauen, die so schön und so lieb waren, daß man dachte, die Natur habe sich an ihnen versündigt, als sie vergaß, ihnen das Gefühl zu geben. Der Commandante, derber Dalmatiner ohne jede lyrische Nuance, sagt ganz nüchtern: »Wir kommen gerade zur Kirschblüte nach Japan 1« »Was ist das?« fragt der Amerikaner. Der Commandante schildert, erregt sich, wird zum Poeten. Die Amerikaner bleiben unberührt. »Bravo!! Commandante!« sage ich und er erwidert: »Es ist noch tausendmal schöner.« »Die japanische Kirschblüte ist außer Leonardos ›Abendmahl‹ die einzige Sehenswürdigkeit, die bei Baedeker vier Sterne hat,« lüge ich. Die Amerikaner kommen in Bewegung. »Wie weit?« fragt der Amerikaner. »Von Hongkong mit Aufenthalt hin und zurück in einem Monat.« Fünf Minuten später funkt der Telegraphist nach Chicago: »Rückkehr vier Wochen später.« – Gegen Abend nimmt mich die Amerikanerin beiseite und fragt etwas verlegen: »Bekommt man von der japanischen Kirschblüte auch etwas zu sehen?« Ich mache ein vollendet blödes Gesicht. Sie[[1]] fährt fort: »Wir waren nämlich vor zwei Jahren in Mailand und haben natürlich auch Leonardos ›Abendmahl‹ gesehen. Wunderbar! Ganz wunderbar! Wir haben stundenlang mit unseren Gläsern davor gesessen …« »Ohne etwas zu sehen,« falle ich ihr ins Wort, »denn es ist nicht nur verblaßt, sondern geradezu verschwunden.« – Die Amerikanerin atmet auf und sagt: »Eben! Eben! Und weil die japanische Kirschblüte doch auch vier Sterne hat, so fürchte ich, daß man am Ende auch nichts von ihr sieht.« Mir dämmert es. Für diese Amerikaner ist die japanische Kirschblüte so etwas wie Rembrandts »Nachtwache«. »Sie[[1]] werden bestimmt nichts sehen,« erwidere ich, »denn man braucht kein Glas, wohl aber ein Herz dazu.« Auch das verstand sie natürlich nicht. Aber sie bedankte sich und eilte zu ihrem Gatten – während ich die Genugtuung hatte, die japanischen Blüten vor der Entweihung durch diese Amerikaner (nota bene: es gibt auch andere) gerettet zu haben. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="14._Kapitel" &&fa Vierzehntes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Mir hatte die Botschaft freundlicherweise ihren ehemaligen Linguisten, einen Japaner, der perfekt Deutsch sprach, für Yokohama und Tokio zur Verfügung gestellt. Nach dem Botschaftsschreiben, das mir der Agent des Lloyd[[1]] gleich bei Ankunft des Schiffes übermittelte, sollte dieser Japaner an Bord kommen. Ich wartete einen halben Tag auf ihn. Da er dann noch immer nicht kam, ließ ich einen Teil meiner Sachen an Land bringen und verließ, völlig programmlos, das Schiff. Neben mir Beatrice mit einer Dienerin. Der erste Schritt auf japanischem Boden. Ich hatte mich auf hochnotpeinliche Untersuchung gefaßt gemacht. Bolschewistengefahr. Innere Unruhen. Attentate. Strenge Fremdenkontrolle. – Nichts von alledem. Was schon in China bemerkbar ist, hier aber noch deutlicher wird, sind die Informationen der deutschen Presse über den Osten falsch. Kein Mensch fragte woher? wohin? Fast beängstigend war für den Europäer und gar für den Deutschen diese Freizügigkeit. Man betrat fremde Erdteile und empfand als Bürger eines Staates, in dem der Mensch erst durch seine Papiere den Beweis seiner Existenz erbringt, geradezu das Bedürfnis, sich einer Behörde gegenüber zu legitimieren. Wir hatten kaum hundert Schritte auf japanischem Boden getan, der übrigens in Yokohama nirgends fest, sondern von dem Beben her noch weich und lehmig ist, als wenn es Wochen lang gegossen hätte, als ein Europäer Mitte der Fünfzig mit einer Art Reisemütze und hellem, schäbigem Rock, dunkler schäbiger Hose und sehr vergnügter, rot schimmernder Nase an mich herantrat und mich verblüffenderweise auf deutsch fragte: »Verzeihung! sind Sie[[1]] vielleicht Herr Dr. Landsberger?« Wie viele Erdteile, wie viele Meere lagen zwischen Berlin und Yokohama? Japan, das Land meiner Sehnsucht war erreicht. Ich hatte in einer Landschaft rosabrauner Färbung tanzende Geishas mit bunten Laternen, winkende Tee[[1]]häuser, blühende Kirschbäume, kämpfende Samurai und auf sanft aufsteigenden Hügeln zierliche Shintotempel {{[Shin¬to¬tem¬pel]}} erwartet. Statt dessen sprang mir nun auf Trümmern, die ebenso irgendwo in der Mark liegen konnten, ein angeheiterter deutscher Bierphilister mit der Frage ins Gesagte: »Sind Sie[[1]] vielleicht Herr Dr. Landsberger aus Berlin?« Hätte er mich gefragt: »Sind Sie[[1]] vielleicht der Kaiser von Japan,« ich wäre weniger verblüfft gewesen. Fast noch verrückter empfand ich aber Beatrice, die sagte: »Sie[[1]] haben auch überall Bekannte, Doktor!« Wir waren die drei einzigen Europäer auf weiter Flur – ringsum Trümmerhaufen aus Stein, ein paar zusammengefallene Gebäude, die noch halb aus der Erde ragten, hundert Schritte entfernt ein paar Rikschakulis. Das Meer hinter uns. Sengende Sonne. Vor[[Präpos]] uns das große Geheimnis: Japan. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich vor zwei Stunden aus Berlin abgereist und käme nun etwa in Köslin {{[Kös¬lin]}} an, wo meines verhinderten Freundes wegen mich der Gutsinspektor in Empfang nahm. Und so sagte ich denn in meiner Verblüffung: »Das ist ja unmöglich.« Ich merkte gar nicht, wie sinnlos diese Antwort war. Auch Beatrice merkte es nicht. Denn sie stimmte mir zu und sagte: »Das finde ich auch!« Erst als der Bierphilister, für seine rosarote Stimmung erstaunlich logisch, sagte: »Sie[[1]] müssen es doch wissen, ob Sie[[1]] es sind,« besann ich mich und sagte: »Wie ist das denn möglich?« Er nannte seinen Namen und fuhr fort: »Ich komme an Stelle des Linguisten. Der ist in neuer Position und daher verhindert. Um auf das Schiff zu kommen, war es schon zu spät. Ich soll Sie[[1]] führen.« »Wohin?« fragte ich noch immer benommen und er erwiderte: »Wohin Sie[[1]] wollen.« Ich sah mich um. Ich sah nur Trümmer. Ein Meer von Steinen und hier und da die Fetzen von ein paar Häusern. »Ungeheuerlich!« sagte ich, und Beatrice sah auf ihre ausgeschnittenen Lackschuhe, an denen zentimeterdick der Lehm klebte. »Das schlimmste sind die Pfützen!« sagte sie. »Und was an Menschen noch unter den Trümmern liegt,« ergänzte der Alte, »das ist noch schlimmer.« Und fuhr mit feuchter Stimme fort: »Und was nicht verbrannte und am Leben blieb,« – er schluchzte jetzt – »das ist vielleicht das schlimmste.« »Sie[[1]] haben auch Angehörige verloren?« fragte ich. »Die Enkelkinder – und mein Haus – mit allem was drin war.« »Und nun?« fragte ich. Er wies auf seine Kleidung und sagte: »Sie[[1]] sehen. Liebesgaben. Aber ich bin mittellos und werde es bleiben.« (Bild 17) (Bild 18) Wir gingen über Trümmer und Stege, die über tiefe Risse in der Erde führten, durch das gewesene Yokohama. Gewesen wie dieser Mensch, der noch heute, sieben Monate nach der Katastrophe, den Eindruck eines gedanklich und seelisch Gelähmten machte. »Was haben Sie[[1]] denn vor dem Unglück gemacht?« Er blieb stehen und wies in irgendeine Richtung. »Da stand der Riesenbau, in dem ich beschäftigt war.« »Sie[[1]] werden doch wieder etwas finden.« Er schüttelte den Kopf und sagte: »Hier nicht. Sie[[1]] sehen ja. Tausende, die mit Haus und Familie auch ihr Brot verloren haben.« »Dann anderswo. Es muß ja nicht Japan sein.« Er blieb wieder stehen und sah mich an. Mit Augen wie aus Wachs, in denen, wie Glasur, die Tränen standen. »Seit über zehn Jahren will ich fort zu meinem Bruder nach Dortmund. Ich hatte die Kabine für mich und meine[[Besitz]] Frau vor zehn Jahren und später noch einmal. Wenn der Termin kam – Sie[[1]] kennen das Land nicht und ich kann es Ihnen nicht schildern – es ist – ja, wie soll ich sagen? – man steht wie in einem Garten – vielleicht, daß es das ist – sehen Sie[[1]], jeder liebt hier die Blumen – und die Tiere betreuen sie wie die Menschen – das ist es wohl – man lebt wie in einem Park, der jedem gehört – und bei uns? – ja, da ist es wie in einer Fabrik – man ist Sache, nicht Mensch – und wieviel der Mensch als Sache wert ist, soviel gilt er – der eine viel – der andere wenig – herzlos ist das. Aber hier? – Sehen Sie[[1]] die Geisha – na ja, ich komm ja auch nicht ganz los von dem bei uns zu Hause und wünsche mir auch nicht, daß meine[[Besitz]] Tochter in einem Tee[[1]]haus wäre – ganz frei wird man eben doch nicht – aber hier, da kränkt sie niemand – man läßt sie nicht fühlen, daß sie etwas anderes ist – sehen Sie[[1]], das vielleicht ist es, daß man sich gegenseitig nicht kränkt – man ist behutsamer miteinander – rücksichtsvoller, zarter. – Wenn Sie[[1]] sehen werden, wie man die Blumen pflegt, nicht wie bei uns, nur weil sie schön sind und duften – weil man ihnen näher ist – ich kann das nicht so sagen – &&c=8 was lebt, blüht &&c=0 – sehen Sie[[1]] – das Gefühl hat wohl auch ein Mensch vom andern – darum schonen sie sich – ich weiß nicht, Sie[[1]] werden nicht verstehen, was ich meine[[Meinung]] – aber wer das fühlt – und das fühlen hier alle – der kann nicht fort – will auch nicht.« »Das alles begreife ich. Aber Sie[[1]] …?« »An mir liegt nichts. Aber meine[[Besitz]] Frau, die ist Japanerin und der Mann meiner Tochter ist Japaner. Da ist man nun so hineingewachsen – vieles, das versteht man nicht, das fühlt man nur – hier, das wollte ich Ihnen zeigen – sehen Sie[[1]] –« und er wies auf einen Trümmerhaufen, eine große Fläche von etwa vierhundert Quadratmetern. Da lagen Kirschblüten, als wenn der Wind sie von den Bäumen geweht und planlos hierhin und dorthin verstreut hätte. »Was ist das?« fragte Beatrice, während ich völlig unter dem Bann seiner Erzählung stand. »Das Grab meiner Enkel – da, sehen Sie[[1]] –« und er wies auf die Blüten, wo sie am dichtesten lagen – »die streut meine[[Besitz]] Frau Tag für Tag – und wenn die Zeit der Kirschblüten vorüber ist, dann streut sie Lianen und was hier so blüht. Da! sehen Sie[[1]]!« – eine junge Japanerin ging vorüber, blieb stehen, nahm die Blumen aus ihrer Schärpe des Kimonos, beugte und verneigte sich, streute die Blumen auf die Steine. Ein Bild, rührend und erschütternd. »Kennen Sie[[2]] sie?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Keine geht hier mit Blumen vorüber – und sie tragen hier fast alle Blumen – die sie nicht unseren Enkeln, gibt.« »Schön ist das!« sagte Beatrice. »Soll ich meine[[Besitz]] Frau fortnehmen von hier – von ihrem Kinde – von dem da?«, er wies wieder auf die Steine und dann auf die Japanerin, die, ohne uns beachtet zu haben, eben um die Ecke bog, »und von Menschen, die sind wie die?« »Nein!« sagte ich, »das dürfen Sie[[1]] nicht!« »Sehen Sie[[1]]!« Er griff nach meiner Hand. Sein Gesicht war aufgedunsen und feucht. Der arme Teufel hatte das graue Elend. War innerlich zerrissen; trank natürlich. Ich sah gleich, ihm war nicht zu helfen. Die Rikschas, die während der ganzen Zeit in respektvoller Entfernung mit unseren Sachen folgten, wurden ungeduldig. – Beatrice verspürte Hunger. Der arme Teufel Durst. Wir gingen ein paar Schritte weiter in ein japanisches Restaurant. Da wir mit den Stäbchen nichts anzufangen wußten, so brachte man uns Messer und Gabeln und gab sich auch sonst große Mühe, uns zufriedenzustellen. Der Raum war voll von Menschen, die sympathisch ruhig um die Tische saßen und, ohne uns durch Blicke zu belästigen, ihr Mittagbrot aßen. Was hier schon auffiel: alle Welt trank Bier. Ganz vereinzelt nur Sake {{[Sa¬ke]}}. Ich probierte und fand, er schmeckte wie Medizin. Wie heißer Sekt meinte Beatrice. Ein europäisches Hotel gab es in Yokohama nicht. Kaum ein japanisches. Immerhin blieben wir in dem kleinen Gasthaus, das die Sauberkeit selbst war, noch bis zum nächsten Tage. Es gab doch allerhand, was uns hielt. Zweimal noch ging ich an diesem und am nächsten Tage zu dem Grabmal, das grandios und mitleidlos die Natur errichtet hatte, ohne daß Menschenhand sich rührte. Auf keinem {{Cam¬po San¬to}} sah ich je gleich Großartiges und Erschütterndes. Es war der erste Schluck Japan. Er ging durch und durch – wärmte und traf das Herz. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Als wir vor dem kleinen Gasthaus standen, nahm mich Beatrice beiseite und fragte: »Wie ist das in Japan?« »Genau wie bei uns,« erwiderte ich, obgleich ich es nicht wußte, im übrigen auch nur ahnte, was sie meinte. Wir gingen hinein. Unser Begleiter ging voran und verhandelte. Eine alte Japanerin verbeugte sich tief, dreimal hintereinander. Hinter ihr drei Dienerinnen taten dasselbe. Da auch unser Begleiter mühsam den Rücken vornüber beugte, so taten wir das gleiche. Eine schmale kleine Treppe aus Holz, die stark genug schien, Tauben oder Hühner zu tragen, brach wider Erwarten unter uns nicht zusammen. Ein schmaler Gang, eine Holzveranda, von der aus man in den kleinen wie ein Spielzeug anmutenden Garten sah, wieder ein Gang. Türen, die aus Papier gemacht schienen, die eine der Mägde vor uns auf und hinter uns wieder zuschob, dann drei Räume, die wir bewohnen sollten. Fast ohne Möbel. An den Wänden breite, kostbare Schirme aus schwarzer Seide, mit Blumen bestickt, mehrere kleine runde Tische mit Blumenschalen und Gefäßen, überall Matten, die unbenutzt schienen, und ein paar seidene Decken. Kein Schrank, kein Sofa, kein Stuhl, kein – Bett. Beatrice sah mich erstaunt und fragend an. Ich gab mir Mühe, nicht überrascht zu scheinen. Die Japaner und unser Begleiter wechselten einige Worte, dann wandte er sich an uns: »Die Wirtin fragt, ob alles so recht ist oder ob Sie[[1]] noch einen Wunsch haben.« »Nun, Gräfin?« wandte ich mich an Beatrice. »Ich finde, es kann nicht sauberer sein.« »Sie[[1]] fragt, ob Sie[[1]] für die Nacht noch gern ein paar Decken hätten.« »Was meinen[[Meinung]] Sie[[1]], Gräfin? – Die Matten halten zwar warm, aber man hat mir gesagt, daß die Nächte in Japan kühl sind.« Beatrice schien ratlos. »Kann man sich denn hier waschen?« fragte sie. »Sie[[1]] können jederzeit heiß baden – sooft Sie[[1]] wollen,« erklärte unser Begleiter. »Vielleicht, daß ich einen Stuhl bekommen kann,« sagte sie zaghaft. »Sie[[1]] sitzen auf der Matte doch viel bequemer,« erwiderte ich. »Man zerdrückt sich das Kleid.« Ich rief die jungen Mägde, die mit Beatrices Dienerin noch vor der Tür standen, auf japanisch. Zwei Monate lang hatte ich auf dem Schiff täglich ein paar Stunden studiert. Alle sahen erstaunt auf. Ich rief noch einmal. Sie[[1]] machten ängstliche Gesichter. Unser Begleiter trat auf mich zu und fragte: »Was ist Ihnen?« »Ja, verstehen Sie[[1]] mich denn auch nicht?« Er schüttelte den Kopf. Ich erklärte ihm. Er lachte laut auf. Gab die Erklärung an Wirtin und Mägde weiter. Nun lachten sie alle. Die Mägde piepsten wie die Vögel – und konnten sich gar nicht beruhigen. Ich trat zu ihnen hinaus. Zu der jüngsten sagte ich eine Liebenswürdigkeit auf japanisch. Da strahlte sie über das ganze Gesicht. Auch die Anderen strahlten. Sie[[1]] verbeugte sich tief und piepste ein paar Töne. Ich glaubte, sie hätte mich verstanden. Ich verabschiedete den Alten, der sehr erstaunt tat, und bestellte ihn mir für den nächsten Morgen. »Aber Sie[[1]] können doch hier nicht allein?« »Gerade das reizt mich,« erwiderte ich, besann mich aber und sagte: »Vielleicht, daß Sie[[1]] sich der Gräfin heute abend annehmen.« Beatrice verstand längst nichts mehr und schwieg. Er versprach, in zwei, drei Stunden wiederzukommen und sie abzuholen. Ohne daß wir es bestellten, brachten zwei Mägde Tee[[1]][[Variante1]] und allerhand Leckerei. Unter vielen Verbeugungen setzten sie auf eine der Matten eine große silberne Platte und stellten die Tassen, Kannen und wohl ein Dutzend Schalen mit allen möglichen Leckereien darauf. Die Feierlichkeit und Exaktheit, mit der das geschah, fiel mir auf. Die ältere von den Beiden rückte nochmals eine Schale, die von der jüngeren hingestellt war, auf einen anderen Platz. Oft nur ein paar Handbreit rechts oder links – aber doch mit einer auffallenden Überlegtheit, ebenso wie der Ernst bei jeder Bewegung. Dann verbeugten sie sich wieder und gingen. Ich reichte Beatrice den Arm und geleitete sie zur Matte. Wir setzten uns – oder wir versuchten es, uns zu setzen. Da aber unsere Beine ständig ein Hindernis zwischen uns und den Tee[[1]]gefäßen bildeten, so rief ich eine der Mägde herbei, die uns mit Takt und Grazie und sichtlich großem Vergnügen – das Sitzen beibrachte. Schon nach ein paar Minuten erklärte Beatrice: »Das ist eigentlich viel bequemer als auf einem Stuhl mit vier steifen Beinen zu sitzen.« (Bild 19) (Bild 20) »Mir kommt es auch schon ungeschickt vor,« erwiderte ich. »Ob das aber«, fuhr sie fort und wies auf die Matten an der Wand, »mit den Ohne-Betten auch der Fall ist?« »Es kommt auf den Versuch an.« »Und dann die Türen.« »Was ist damit?« »Die lassen sich nicht verschließen. Nicht einmal die Türen zum Flur – und zum Vorrücken hat man auch nichts.« »Ich bin bei Ihnen.« »Wie meinen[[Meinung]] Sie[[1]] das?« »Daß Sie[[1]] sich nicht zu fürchten brauchen.« »Gerade vor Ihnen fürchte ich mich.« »Genau wie ich mich vor Ihnen.« »Was heißt denn das?« »Daß es darauf ankommt, wer von uns beiden zuerst schwach wird.« »Ich nicht!« »Dann dürfen Sie[[1]] trotz der Schiebetüren ruhig schlafen.« Das klang fast kränkend. Und mir schien, sie empfand es auch. Aber ich mußte sie doch beruhigen und so fuhr ich fort: »Sie[[1]] müssen wissen, Gräfin, daß ein ganz klein wenig von dem Reiz dieser Reise für mich in der Geisha liegt.« »Ich bin Ihnen also im Wege?« »Aber nein! Kameradschaftliches Verhältnis. Austausch von Gedanken und Gegenüberstellung von Urteilen kann für beide Teile nützlich sein.« »Gewisse Rücksichten verlangt jede Frau.« »Ich werde sie üben.« »Ich hasse Männer, die darauf ausgehen.« »Es kommt in allen Fällen nur auf den Takt an.« »Das ist mir aus der Seele gesprochen.« »Und auf die Gelegenheit.« »Männer, die Situationen nutzen, sind mir zuwider.« »Sie[[1]] meinen[[Meinung]] die Schiebetüren?« »Ich meine[[Meinung]] vor allem nicht Sie[[2]].« »Endlich vertrauen Sie[[1]] mir?« »Wäre ich sonst mit Ihnen in dies Hotel gegangen?« »Ein Mann muß die Gedanken einer Frau erraten.« »Fühlen muß er sie.« »Wenn die Verstellungskunst der Frau uns nicht so oft täuschte.« Sie[[1]] schob mir eine nach Oliven duftende Süßigkeit in den Mund und sagte: »So werden Sie[[1]] den Geishas heute abend aus der Hand essen.« »Schöner und gepflegter können deren Hände auch nicht sein.« »Und doch zieht es Sie[[1]] gleich am ersten Abend hin.« »Sie[[1]] begreifen, wenn man nach Japan fährt, daß man den Wunsch hat …« »Ich begreife durchaus. – Ob aber auch Andernfalls[[Asien]] begriffen hätte?« »Nach der Freiheit, die sie für sich in Anspruch nahm.« »Sie[[1]] meinen[[Meinung]] die Flucht mit dem Grafen?« »Eine Flucht war es nun gerade nicht.« »Sie[[1]] wußten darum?« »Aber ja!« »Von ihm oder von ihr?« »Von beiden.« »Dann war das gar nicht gegen Sie[[2]] gerichtet?« »Ich habe es jedenfalls nicht so aufgefaßt.« »Ich bin also die Hintergangene.« »Sie[[1]] gerade haben doch den Anstoß gegeben.« »Ich? – Das ist zuviel! – Andernfalls[[Asien]] hat mich aufgehetzt.« »Aufge &&c=8 klärt &&c=0 meinen[[Meinung]] Sie[[1]]?« »Um an meine[[Besitz]] Stelle zu rücken.« »Daran hat sie doch damals noch nicht gedacht.« »Das glauben Sie[[1]]? – Sie[[1]] sind naiv, Doktor, wie alle Männer.« »Wie konnte sie diese Wirkung bei Ihnen vorausahnen?« »Das will ich Ihnen sagen. Indem sie mir eingeredet hat, ich müßte so handeln.« »Sie[[1]] hat doch im Gegenteil alles versucht …« »… mich von dem Grafen zu trennen. Das hat sie.« »Kürzlich sprachen Sie[[1]] noch ganz anders. Sie[[1]] waren sittlich entrüstet.« »Das bin ich noch.« »Nun also.« »Das hätte ich auch sein können, ohne mich von ihm zu trennen.« »Sie[[1]] würden sich demnach heute bereit finden … das Dutzend voll zu machen?« »Eine Frau muß überwinden. – Etwas ist in jeder Ehe.« »Sie[[1]] lieben den Grafen?« »Liebt ihn etwa Andernfalls[[Asien]]?« »Ich hoffe.« »Das lügen Sie[[1]]! – um das zu hoffen, sind Sie[[1]] als Mann viel zu eitel!« »Ich wünsche auch Ihnen nur das Beste.« »Sie[[1]] schon – aber Andernfalls[[Asien]], für die Sie[[1]] doch in gewissem Sinne die Verantwortung tragen …« »Das geb[[geben]] ich zu.« »Gut! Wenn sie mich also von dem Grafen losreißt …« »Das hat sie aber doch nicht getan.« »Und wenn ich es nur aus Eitelkeit vor ihr getan hätte – sie sah doch, was geschah – daß ich zurückblieb – und schließlich auch Sie[[2]] – war es da nicht Ihre Pflicht …?« – sie zögerte, ich sah sie an – »uns beide, Sie[[2]] und mich – schon zu ihrer eigenen Beruhigung hätte sie das versuchen müssen.« »Das hat sie bei der Tiefe Ihres Schmerzes wohl nicht gewagt.« »Gerade deshalb mußte sie es tun.« »Nein,« erwiderte ich, zögerte und sprach es nicht aus. »Was?« fragte Beatrice. »Am Ende brauchen wir sie gar nicht dazu.« »Sie[[1]] meinen[[Meinung]], wir sollten aus Revanche …« »Wenn, dann aus Sympathie.« »Ich … könnte … es mir vorstellen.« »Es gehört nicht viel Phantasie dazu.« Beatrice, die schnell gelernt hatte, sich am Boden sitzend fortzubewegen, saß jetzt ganz dicht bei mir. Ich hatte gerade noch Zeit, ein paar von den Schalen zur Seite zu rücken, um auf der verhältnismäßig kleinen Matte Raum für die Umarmung zu schaffen, die unabwendbar schien. Sie[[1]] erfolgte prompt. Ich dachte mir nicht viel dabei. Aber Beatrice verriet ihre Karten. »Nenne mich Taka {{[Taka]}},« sagte sie plötzlich. »Ein japanischer Name?« erwiderte ich. Sie[[1]] nickte mit dem Kopfe und ich fragte: »Warum?« »Weil doch nun ich deine Geisha bin.« Da erst ging es mir ein, welch ein kluges Vorspiel sie mit mir getrieben hatte. – Ich ging an diesem Abend nicht aus. Auch am nächsten nicht. Aber Buddha, mein japanisches Gewissen, gab keine Ruhe. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="15._Kapitel" &&fa Fünfzehntes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Das Lächeln Buddhas war weder Haß noch Neid, war viel Schlimmeres, war despektierlich, auf deutsch: verächtlich. So etwa: »Kommst du, Idiot, nach zweimonatlicher Seefahrt hierher, wo die schönsten Geishas wachsen, und hängst dich an die …« – nun, ich sagte es schon. – Ich senkte jedesmal, wenn ich an diesem Buddha vorüberging, die Augen, aber ich fühlte doch, wie sein Blick mich traf, sein Mund sich verzog, sein Bauch wackelte. Einmal, als ich so zur Erde sah, erblickte ich wohl ein Dutzend zierlich kleiner Seidenpantöffelchen, die auf Stelzen durch den Lehm trippelten, und seitwärts davon, in einem jener unzähligen Tümpel sich spiegelnd, die das Beben zurückließ, ihn, den Dickbäuchigen, mit so infam verächtlichen Mienen, daß ich auf – und sechs japanischen Mädchen ins Gesicht sah. Ich kapitulierte. Buddha triumphierte. Ich lieferte mich den sechs Japanerinnen aus. In kostbaren Seidenkimonos und kunstvollen Frisuren, die etwas großen und runden Gesichter weiß gepudert, trippelten sie an mir vorüber. Ich folgte ihnen. Sie[[1]] lächelten allerliebst und wurden nicht schneller. Was mir auffiel: kein Japaner wandte sich nach ihnen um. Da in diesem Tohuwabohu einer Stadt, die aus Baracken und Lehm bestand, jeder seine schlechteste Kleidung trug, diese japanischen Damen aber gekleidet waren, als wenn sie zu einem Feste gingen, so staunte ich, wie unbeachtet man sie ließ. Bei uns? Großer Gott! die Menschen wären stehengeblieben und hätten im besten Falle dumme Bemerkungen gemacht. – Die kleinen Damen merkten längst, daß ich hinter ihnen war. Aber sie trippelten unbekümmert weiter, blieben an keiner der vielen Buden und Auslagen stehen und gaben auch sonst nicht zu erkennen, ob ihnen mein Interesse Freude oder Verdruß bereitete. Der Weg war weit. Er führte über eine Brücke. Ich war im Zweifel, ob ich zurückfinden würde und wollte umkehren. Da blieben sie stehen und beugten sich über das Geländer. Eine von ihnen wies mit der Hand, die einem Kinde zu gehören schien, auf einen Punkt im Wasser. Ich folgte, stellte mich daneben und sah eine Wildente mit ihren Jungen. Die japanischen Damen waren ganz dem Bilde im Wasser hingegeben. Sie[[1]] sprachen, lachten, zogen aus den Ärmeln ihrer Kimonos kugelförmige kleine Küchelchen und warfen sie ins Wasser. Ein Bild für Götter! ohne Übertreibung. Wie bewegten diese Frauen Arme und Körper! Es war – ja, wie war es nur? Es wirkte wie eine Einheit: die Brücke, darauf die Frauen – und das Wasser, darin die Mutter Ente mit ihren Jungen. Es wirkte in seiner Einheit wie ein Kunstwerk – als wie die Natur, in der es nichts Gemaltes, Gestelltes, Falsches gab. – Wie war es möglich, daß Menschen hier vorübergingen und nicht einen Blick auf dies Bild warfen? – Die kleine Frau, die mir am nächsten stand, sagte etwas zu mir, das Bezug auf die Enten im Wasser hatte. Ich lachte und sie lachte auch. Und nun sprachen sie alle zu mir, ganz natürlich und unbekümmert, als wenn ich ein alter Bekannter wäre. Ich verstand kein Wort. Trotz des zweimonatigen Studiums auf dem Schiffe. Aber ich gehörte jetzt zu ihnen, war durch das gleiche Interesse für das Bild da unten mit ihnen verbunden. Nur, daß mein Interesse für sie tiefer ging als für die Enten. (Bild 21) (Bild 22) Aber das merkten sie nicht. Glücklicherweise. Etwa zehn Minuten dauerte das. Ich dachte längst nicht mehr daran, umzukehren. Dann brach Mutter Ente die Mahlzeit ab, schnatterte noch ein paar Töne zu den Damen auf die Brücke hinauf. Die winkten hinunter, riefen – und setzten ihren Weg fort. Mit mir. Jetzt sahen auch die Menschen, die vorüberkamen, uns an. Mich wenigstens. Aber die japanischen Damen merkten es nicht. Sie[[1]] erzählten so viel, stellten, wie ich aus dem Tonfall ihrer Rede entnahm, Fragen, bis sie schließlich dahinterkamen, daß ich sie gar nicht verstand. Da lachten sie laut, aber doch so, daß es für unsere Begriffe noch immer leise klang. Nur von dem Einklang, in dem sie trotz aller Lebhaftigkeit sonst sprachen, hob es sich ab. – Sie[[1]] wußten von nun ab nicht recht, was sie mit mir beginnen sollten – genau wie ich selbst es nicht wußte. Sie[[1]] suchten jetzt durch allerlei Zeichen und Gebärden eine Verständigung herbeizuführen. Es glückte wohl ein paar Male, jedenfalls gerieten sie, wenn sie aus meinen[[Besitz]] Gesten entnahmen, daß ich sie verstanden hatte, in helle Freude und klatschten die kleinen weißen Hände ineinander. Sehr viel lustiger wurde es, als ich mein japanisches Wörterbuch zu Hilfe nahm und, da sie mein Japanisch – ich muß eine katastrophale Aussprache haben – nicht verstanden, sie selbst die Worte lesen ließ, die ich ihnen zeigte. Das gab ein Raten und Tuscheln und eine Fröhlichkeit ohnegleichen. Ich fragte: »Wo gehen Sie[[1]] hin?« Die Antwort lautete: »Nach Haus.« »Wie weit ist das?« »Ganz nahe.« »Sie[[1]] sind sehr schön.« »Welche von uns?« »Alle.« »Sind Sie[[1]] Amerikaner?« »Deutscher!« Auf Ehrenwort: hier setzte Jubel ein. Sie[[1]] plapperten durcheinander. Die wohl Gescheiteste, die auch die deutschen Worte schneller als ich die japanischen fand, sagte: »Wir lieben nicht Amerikaner.« Sie[[1]] sagte es zu ihren Freundinnen auf japanisch. Die beteuerten es lebhaft. »Von wo kommen Sie[[1]]?« fragte ich. »Beten.« »Ist Feiertag?« »Der zwölfte,« sagte sie. Vor[[Präpos]] einem kleinen Haus saßen junge Mädchen, die aus einem großen Korb Blumen nahmen und sie ordneten. Meine[[Besitz]] kleinen Freundinnen gerieten in freudige Erregung. Ich kaufte ein paar Hände voll. Sie[[1]] verteilten sie untereinander und schmückten sich. Ganz instinktiv wählten sie Blumen und Farben, die sich dem Kimono anpaßten, als wenn sie zusammengehörten. Und die Sträuße, obschon sie wirklich groß für die kleinen Hände waren, trugen sie im Arm, als wenn sie damit verwachsen wären. Ja, ich sage es wieder, diesen Menschen steckt die Kunst im Blute. Sie[[1]] fühlen, was sonst nur der Künstler fühlt. Der Kritiker – wer erfand diese Abart Mensch, zu der, {{hor¬ri¬ble dic¬tu}}, auch ich gehöre? – stellt begeistert fest, wie formvollendet dies oder jenes Bild &&c=8 gestellt &&c=0 ist. Hier aber ist nichts gestellt. Und wenn wir jetzt um einen Ausrufer herumstehen, der Bijouterieschund {{[Bijou¬te¬rie¬schund]}} mit theatralischen Gesten anpreist, und zwei von meinen[[Besitz]] neuen Freundinnen ein paar Schritte seitwärts treten, obschon sie von da weder besser sehen noch hören können, so, geschieht das instinktmäßig aus irgendeinem Gefühl für Harmonie. Denn vorhin störten sie im Bilde, jetzt wahren sie dessen Einheit und heben die Wirkung. Zwecklos, sie zu fragen, weshalb sie den Platz änderten. Sie[[1]] wüßten es doch nicht zu sagen. Ich bin leichtsinnig und bitte die Damen, sich zu bedienen. Einen kleinen Taschenspiegel, eine Puderquaste, Tusche und nochmals Tusche, dazu eine Art Ring, an dem mit bunten Seidenfäden ein Dutzend glückbringender Porzellangegenstände befestigt sind. Alles das kostet einen halben Jen {{[Jen]}}. Mit zwölf multipliziert macht sechs Jen – und sechs strahlende Puppengesichter. Und wie sie sich dankbar vor mir verbeugen. Einmal, ein zweites Mal und noch einmal. Ich stehe etwas verlegen und verbeuge mich auch. Aber das ist wohl falsch, denn ich sehe in ihre erstaunten Gesichter. Wie wohlerzogen! Gewiß sind es junge Mädchen aus guter Familie. Sie[[1]] kommen vom Beten. Ich hätte angenommen, aus einer Familientanzstunde. Sie[[1]] sind jetzt völlig mit dem kleinen Spielzeug beschäftigt. Vor[[Präpos]] allem die Glücksringe erregen sie. Sie[[1]] haben längst wieder vergessen, daß ich sie nicht verstehe. Sie[[1]] plappern lachend auf mich ein. Als die Straße jetzt ansteigt, nehmen sie mich bei den Händen und ziehen mich hinauf. Goldige Kinder, denke ich und frage mit Hilfe meines Buches nach ihrem Alter. »Siebzehn – dreizehn – fünfzehn – vierzehn – sechzehn – dreizehn –« Sonderbare Eltern, denke ich, die ihre Kinder am Nachmittag in einer Stadt wie dieser ohne Aufsicht lassen. Oder droht dieser Unschuld in Japan keine Gefahr? Niemand belästigt sie. Sie[[1]] selbst sind arglos. Ihnen kommt gar nicht der Gedanke. Das Gegenspiel von Mann und Frau, das die Atmosphäre jeder Großstadt bestimmt – hier besteht es nicht. Wir befanden uns plötzlich in {{Yo¬shi¬wa¬ra}}. Jede größere Stadt Japans hat diesen Lunapark. Mehr als der Vergnügungspark interessierten mich diese Mädchen. Sie[[1]] kamen vom Beten hierher, mußten also schon stundenlang von Hause fort sein. Aber das Leben und die Buntheit hier schienen sie nicht zu interessieren. Verkaufsbuden, Kinos und Theater. Wo wollten sie hin? Sie[[1]] schienen jetzt eilig. – Ich fragte sie und sie gaben zur Antwort: »Nach Hause.« Sie[[1]] konnten doch unmöglich hierher gehören! – Links hinein! Die Straße verengte sich. Die Häuser wurden stattlicher. Villenartig. Peinlich sauber und gepflegt. Vor[[Präpos]] einem dieser Häuser blieben sie plötzlich stehen. Verbeugten sich tief. Mehrmals. Ich tat das gleiche. Dann trippelten sie, ohne sich umzusehen, in das Haus hinein und verschwanden. Ich stand noch eine Weile davor. Mit einem Gesicht, das bestimmt nicht klug war. Dann bog ich eilig wieder in die Hauptstraße, stieg in eine Rikscha und fuhr nach Haus. Es war schon dunkel. Als ich in die Nähe des Tempels kam, war es mir, als hätte sich der Buddha von seinem Sitz erhoben und säße nun auf der Straße, mir den Weg versperrend. Der Rikschakuli patschte im Finstern in den Tümpel. Das Wasser spritzte hoch auf. Der Kuli schrie entsetzt. Er glaubte wohl, die Erde tue sich auf. Ein Ruck – und er machte kehrt. In einem Tempo, in dem ich nie wieder, weder in Japan, noch in China, noch in Singapore einen Kuli laufen sah, raste er den ganzen Weg zurück. Siehe! ich stand wieder in {{Yo¬shi¬wa¬ra}}. Buddha hatte sich als stärker erwiesen. Sein Wille geschehe! – Ich bog in die Seitenstraße, suchte und fand das Haus. Das Haus der Liebe. Eine ältere Japanerin empfing mich. Sie[[1]] erledigte, englisch sprechend, das Geschäftliche mit einer Delikatesse, als wenn eine Dame der besten Gesellschaft dem künftigen Manne ihrer Tochter gegenübersäße und nun gezwungen wäre, sehr gegen ihre Natur, nach Erledigung des Ideellen auch die materielle Seite der Ehe zu erörtern. – Sie[[1]] war von meiner Begegnung mit ihren Schutzbefohlenen bereits genau unterrichtet. Sie[[1]] schob eine Gardine zurück. Im Nebenraum saßen auf einer Matte die sechs. Fröhliches Lachen empfing mich. Die alte Dame schob den Riegel vor die Haustür. Dienerinnen brachten den Tee[[1]][[Variante1]]. Die Samisen {{[Sa¬mi¬sen]}} erklangen. Das Puppenspiel begann. Ein Spiel von Kindern. Gegenseitiges In-die-Hände-klatschen. Doch dabei blieb es nicht. (Bild 23) (Bild 24) Als die Dienerin zum letzten Male mit frischem Tee[[1]][[Variante1]] die kleine Treppe hinabstieg und vergaß, die Tür hinter sich zu schließen, schlug die Sonne ins Zimmer. Sechs Puppenherzen erschraken und sechs weiße Hände griffen hastig nach der Puderquaste. Draußen wartete der Kuli, der mich hin- und wieder zurückgefahren hatte. Er war mir also in die Nebenstraße gefolgt. Hatte ich vergessen, ihn zu bezahlen? Stunden waren vergangen. Ich entsann mich, ihm einen Jen gegeben zu haben. Er forderte auch nichts, sondern begrüßte mich höflich und bat mich einzusteigen. Ohne Zweifel: er war mit Buddha im Bunde. Auf den Trümmern der Stadt stieg der neue Tag empor. Ich aber dachte darüber nach: was ist das für ein Volk, in dem selbst die Dienerinnen der Liebe noch keusche Scham umhüllte? &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="16._Kapitel" &&fa Sechzehntes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Als wir am nächsten Tage von Yokohama nach Tokio fuhren, sagte Beatrice: »Ich liebe nichts Halbes. Ganz oder gar nicht. Sonst hätte ich ebensogut bei dem Grafen bleiben können.« Ich mißverstand und bezog es auf meine[[Besitz]] nächtliche Abwesenheit. Ich erwiderte: »Ich stand vollkommen unter dem Einfluß Buddhas.« Beatrice erschrak und fragte: »Du bist Buddhist? – welcher Färbung? etwa südlicher? Birma? Bangkok?« – und nun ergoß sie all ihre Kenntnisse des Buddhismus, die man ihr in London beigebracht hatte, über mich aus. – Ich war müde und daher zufrieden, daß ich nicht zu reden brauchte. Es klang sehr klug, saß aber an der Oberfläche; war nacherzählt, nicht nachempfunden. Ja, ich habe sie sogar im Verdacht, daß sie ihre Wissenschaft aus dem Baedeker, diesem mustergültigen Vorbild konzentrierter Sachlichkeit, geschöpft hat. »Das ist der Buddhismus,« schloß sie erschöpft. Ich atmete auf. Aber auch sie schöpfte Atem und fuhr fort: »Das Christentum hingegen …« »Halt!« rief ich. »Ich werde in Tokio versuchen, dir einen Wirkungskreis an irgendeiner Missionsschule zu verschaffen. Mich aber verschone.« »Ausgeschlossen! – Das war eine Tätigkeit für eine Königin von Siam, nicht aber für die Frau eines deutschen Schriftstellers.« Erschrocken fuhr ich zurück. »Wie meinst du das?« fragte ich, obschon es klar genug war. »Ich sagte schon einmal: ich liebe nichts Halbes. Auch für dich ist es besser.« »Was … ist … besser … für … mich?« »Ich bin deine Frau. Die Gräfin Beatrice, die sich unter deinen Schutz gestellt hat, kannst du hier draußen im Osten nicht sich selbst überlassen.« »Es soll nicht wieder geschehen, ich verspreche es dir.« »Doch! doch! es muß geschehen. Du willst ein Buch über Japan schreiben. Also wird deine Frau jede Rücksicht nehmen. Sie[[1]] partizipiert an deinem Erfolg; es ist zugleich der ihre.« »Ich werde auch dich an diesem Asienbuche partizipieren lassen! Mit fünfzig Prozent! Genügt das?« »Es ist ja nicht nur dies eine Buch. Denke, wenn du damit berühmt wirst, das wirkt dann doch auf alles, was du noch schreibst.« »Du … du … sollst … auch … daran beteiligt sein.« »Es ist nicht nur das Geld. Ich will auch innerlich an deinen Erfolgen beteiligt sein.« »Das kannst du ja. Du sollst alles wissen, was mich beschäftigt. Aber dazu brauchst du doch nicht meine[[Besitz]] Frau …« »Es ist zu spät, mein Lieber …« »Wie kann das zu spät sein? Zwischen gestern und heut kann sich doch nichts ereignet haben.« »Das solltest du doch am besten wissen, was in einer Nacht alles geschehen kann.« »Ich war … ich war …« »Ich war auch!« »Wo warst du?« »Erst allein – du mußt wissen, ich kann das Alleinsein absolut nicht vertragen. Da werde ich nervös und muß etwas unternehmen.« »Auch nachts?« »Gerade nachts. – Es war nur natürlich, daß ich, als du fort warst, an dich dachte – und im Zusammenhang damit natürlich auch an mich. – Was soll aus mir werden? dachte ich. – Und da fiel mir dann nichts Besseres ein, als dich zu heiraten.« »Ja … aber …« »Möglich, daß du meinen[[Besitz]] Gedanken eine andere Richtung gegeben hättest. Aber du warst nicht da.« »Ich bin jetzt da!« »Ich sagte schon, es ist zu spät.« »Du vergißt, daß du noch verheiratet bist.« »Ich war es nie.« »Wie – was? … du warst es …?« »… nie! denn diese Ehe ist nichtig.« »Seit wann?« »Wie dumm du fragst, wenn sie nichtig ist, war sie es immer.« »Wann ist dir diese Erleuchtung gekommen?« »Mir nicht. – Ich war beim englischen Konsul.« »Mitten in der Nacht?« »Sind für dringende Angelegenheiten nicht sogar die Apotheken geöffnet? Läutet man nicht des Nachts? Kann man bei Gefahr im Verzug nicht sogar die Feuerwehr alarmieren?« »Ja … aber …?« »Sind Ehre und Zukunft einer Frau weniger dringliche Dinge?« »Vielleicht … aber in diesem Falle.« »Der englische Konsul war meiner Ansicht.« »Und?« »Er erwartet uns um zehn Uhr bei sich.« Ich prallte zurück. »Wo … wo … zu?« fragte ich. »Einmal benötigt er dich als Zeugen darüber, daß ich bei Singapore in dem Glauben lebte, die einzige Frau des Grafen zu sein.« Die Frau entwickelt sich, schoß es mir durch das Gehirn. Daneben war ja Andernfalls[[Asien]] ein kindlich harmloses Geschöpf. »Und dann? Was will er noch?« »Uns trauen.« »Hi … hi …« hörte ich mich japsen. Die Luft blieb weg. Ich bekam kein Wort heraus. Um so gesprächiger war Beatrice. »Ich habe ihm alles erzählt. – Wie du dich meiner angenommen, und nun natürlich den Wunsch hast, mich nicht zu kompromittieren. Er ist begeistert von dir.« »Von dir.« »Vielleicht auch. Das hat er nicht gesagt. Aber dich nannte er immer wieder einen Gentleman und fragte, ob ich denn auch genau wisse, daß du ein German seist.« »Unverschämt,« entfuhr es mir. »O nein! Du wirst dich überzeugen, wie nett er ist.« »Du hast ihn belogen.« »Inwiefern?« »Indem du ihm gesagt hast, daß ich dich heiraten will.« »In der Form nicht.« »Dann in einer anderen.« »Es ergab sich aus der Situation ganz von selbst.« »Ich werde ihn auch belügen.« »Was willst du tun.« »Ihm sagen, daß ich bereits verheiratet bin.« Beatrice fuhr entsetzt zurück. Ich triumphierte. Aber nur einen Augenblick. Denn schon lächelte sie wieder und sagte: »Dann wird er eben auch deine Ehe scheiden – wenn ich ihn darum bitte.« »Du bringst es fertig, eine Ehe zu scheiden, die gar nicht besteht.« »Was bleibt mir anderes übrig, wenn du mich dazu zwingst.« »Und wozu willst du mich zwingen?« »Bin ich dir denn so unsympathisch?« »Wenn ich alle Frauen heiraten sollte, die mir nicht unsympathisch sind, so würde dein Graf trotz seiner zwölf Frauen neben mir wie ein Junggeselle wirken.« »Du bekommst es also fertig, mich in Japan sozusagen auszusetzen?« »Säuglinge setzt man aus.« »Hier bin ich genau so hilflos wie ein Säugling.« »Ich will ja gar nicht, daß du von mir gehst.« »Ich kann nur als deine Frau bei dir bleiben. Du hast also die Wahl, mich hier hilflos sitzen zu lassen oder zu heiraten.« »Gut! Einigen wir uns. Der Konsul läuft uns nicht weg.« »Der Konsul nicht, aber du.« »Wir kommen auf dem Rückweg wieder hierher. Ich verspreche dir …« »Gib es mir schriftlich.« »Gern.« »Aber glaube nicht, daß du mich etwa umstimmst, indem du eklig zu mir bist. Ich kenne dich jetzt und weiß, daß es dann nicht deine wahre Natur ist.« »Was soll ich schreiben?« (Bild 25) (Bild 26) Sie[[1]] legte einen Bogen vor mich hin, steckte mir eine Füllfeder in die Hand und diktierte: »Hiermit verpflichte ich mich als Ehrenmann …« »Als was könnte ich mich sonst verpflichten?« »Damit gibst du zu, daß du keiner mehr bist, falls du dein Wort nicht hältst.« »Also weiter!« »… als Ehrenmann,« wiederholte sie und fuhr fort: »die Gräfin Beatrice Auguste Viktoria Emanuela Seni-Meho {{[Bea¬trice Au¬guste Vik¬to¬ria Ema¬nu¬ela Se¬ni-Me¬ho]}} auf der Rückreise in Yokohama durch die Vermittlung des englischen Konsuls zu meiner Frau zu erheben …« »Erheben? Von Frau Gräfin zu Frau Doktor ist doch kein Aufstieg. Ich werde schreiben: zu machen …« »Schreibe weiter! – Im Falle einer anderen Reiseroute tritt an die Stelle von Yokohama nach Wahl der Gräfin eine andere Stadt Japans. – So, und nun dein Name, Ort und Datum. – Danke!« Sie[[1]] zog mir das Blatt unter den Händen fort und sagte. »Man soll niemanden zur Ehe drängen. Du siehst, ich lasse dir Zeit.« »Eil' dich! Wir versäumen sonst den Zug nach Tokio.« In dem kleinen Raum für Gäste saß wartend, noch vom Abend zuvor, unser Begleiter. Beatrice hatte ihn, bevor sie zum Konsul gegangen war, unter {{Gin-¬Ver¬mouth}} gesetzt. Kein Wunder, wenn er jetzt nicht auf die Beine kam. »A… also, in welches Theater gehen wir?« fragte er und mühte sich hoch. »Ein heißes Bad,« meinte die Wirtin, die ihn kannte. »Sie[[1]] übernehmen ihn?« fragte ich und gab ihr unsere Tokioer Adresse. Dann fuhren wir in Rikschas zur Bahn. »Von heute ab reise ich als deine Frau!« sagte Beatrice. »Das vereinfacht den Fall,« erwiderte ich. Auch der Bahnhof von Yokohama war nur eine Bretterbude. Um so angenehmer war man von der elektrisch betriebenen Bahn überrascht. Jeder Wagen nur ein Abteil, breit, sauber, mit durchgehender bequemer Bank auf beiden Seiten. Fahrtdauer eine halbe Stunde. In unserem Raucherabteil vornehmlich Herren. Bis auf einen alleinfahrenden Amerikaner sämtlich Japaner. Etwa nach zwanzig Minuten erhebt sich der Amerikaner und sagt auf englisch zu einem Japaner so unhöflich wie irgend möglich: »{{No smo¬king}}.« – Alles sieht auf. Der Japaner lächelt und erwidert mit ausgesuchter Höflichkeit ebenfalls auf englisch: »Es ist zwar Raucher. Da Sie[[1]] aber so höflich bitten, mein Herr …« – und er wirft die eben angezündete Zigarette aus dem Fenster. Die Japaner lächeln Beifall, eine sehr hübsche Japanerin in kostbarem Kimono klatscht lautlos die kleinen weißen Hände ineinander. Auch ich lächle, während der Amerikaner ein impertinentes Gesicht macht und die Mundwinkel nach unten zieht. Ich habe das Bedürfnis, zu zeigen, daß ich kein Amerikaner bin und beginne, mich lauter, als es meine[[Besitz]] Art ist, mit Beatrice auf deutsch zu unterhalten. Mir ist, als wenn die Japaner freundliche Gesichter machten. In Tokio fühlt man sofort bei Ankunft auf dem Bahnhof die Millionenstadt. Es herrscht musterhafte Ordnung. Beamte, Träger, Rikschakulis sind exakt und zuvorkommend. Über den großen europäisch wirkenden Bahnhofsplatz geht der Weg durch belebte Straßen, rechts am umfriedeten Park des Kaiserlichen Schlosses, links am Kaiserlichen Nationaltheater vorbei, das unter dem Beben arg gelitten hat und seitdem geschlossen ist. Sonst sieht man beim ersten Anblick Tokios kaum noch Spuren des großen Unglücks. Gleich darauf der eigenartige Bau des Grand Hotel Imperial, hinter dem man eher einen Tempel oder ein Kloster vermutet. Internationaler Hotelbetrieb. Schlechte Bedienung. Zwei Zimmer, ein Bad mit Pension für zwei Personen dreißig Jen pro Tag, für die Dienerin sechs Jen. Gewandte Zeitungsreporter, die in der geräumigen Hotelbar auf Beute warten und kaum, daß man den Hut auf den Riegel hängte, auch schon an die Tür klopfen. Sie[[1]] zeigen sich interessiert, wenn man für Deutschland, weit interessierter, wenn man gegen Amerika spricht. Sie[[1]] entschuldigen sich im Namen Japans für ihre Kriegserklärung an Deutschland und versprechen heilig, es nie wieder tun zu wollen. Sie[[1]] lassen durchblicken, daß weniger japanische Habsucht als deutsche Dummheit ihre Teilnahme verschuldet habe und betonen am Schluß, daß Japan aufrichtig die Freundschaft Deutschlands suche. Alles das klingt aufrichtig und kehrt, inhaltlich vollkommen gleichlautend, nur in der Form dem Bildungsgrade angepaßt, bei aktiven wie gewesenen Ministern, Abgeordneten verschiedener Parteien, Akademikern, Offizieren, Landwirten, Kaufleuten, Chefs, Angestellten und Arbeitern wieder. Der Grund für dies Wohlwollen, wie man besonders bei den Politikern heraushört – die ach so ganz anders sind als bei uns –, liegt nicht im Gefühlsmäßigen, das der Japaner bedingungsloser noch als der Engländer in der Politik ausschaltet. Es liegt in rein praktischen Erwägungen, deren Verwirklichung – man darf es hoffen – diesmal nicht an der Beschränktheit deutscher Diplomaten scheitert. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Als gesellschaftliche Pflicht mich kurz vor meiner Ausreise zwang, einen Snob im Berliner Hotel Adlon aufzusuchen, sagte der: »Hm, Japan! Da ist vor allem das Imperialhotel in Tokio. Amerikanerinnen und reiche Pflanzersfrauen aus Java und Sumatra. Wenn Sie[[1]] Glück haben, ohne ihre Männer, die geschäftlich im Innern sind,« – das war dessen Einstellung auf Japan. – Nun, dies berühmte Hotel Imperial warf mich nicht um. So ist es im ganzen Osten: entweder europäischer Stil oder einheimischer. Jede Mischung tötet den Stil. Freilich nicht bei Menschen. Denn – und nun kommt das große Wunder – die Mischung! Schon in Java weidete sich das Auge an den half cast {{[half cast]}}. – Man weiß, wie besorgt die holländische Regierung um die Züchtung dieser Edelrasse ist, die es an Schönheit mit jeder europäischen aufnimmt. Möglich, daß hier persönlicher Geschmack mitspricht, aber ich finde, daß die japanische half cast die javanische an Schönheit noch übertrifft. Allzu Prononciertes {{[Pro¬non¬cier¬tes]}}, das an dem Asiatisch-Mongolischen abstößt, hebt, gedämpft und gemildert, die übrigen Reize. Nun, wo das geschlitzte Auge nur noch angedeutet ist, hat es eine pikante Wirkung; nun, wo die aufgeworfenen Lippen nur noch um eine Nuance zu voll sind, verraten sie beherrschte Sinnlichkeit. Nichts Unproportioniertes mehr, das so gar nicht zu diesen grazilen Körpern paßt. Die vollendete Ausgeglichenheit! Wir saßen zu acht an einem Tisch im Imperial. Außer mir ein Amerikaner mit seinen beiden Damen, zwei Japaner, eine Japanerin und eine half cast Es war sehr ungemütlich, wie man sich denken kann. Aber es mußte sein. Die Amerikanerinnen saßen wie die Stöcke und behandelten die Japanerinnen wie Luft. Der Amerikaner wetterte gegen den Alkohol. – »Sie[[1]] sollten die kulturellen Fortschritte von Amerika übernehmen,« sagte er. – »Ich bitte dich,« wandte seine Frau ein, »Asien ist doch nicht Amerika. Bedenke doch, daß Japan das Land der freien Liebe ist.« – Da lächelte die half cast und sagte: »Das ist ein Irrtum. Aber man hat mir erzählt, daß es in Europa Frauen gibt, die nur heiraten, um endlich machen zu können, was sie wollen, während für die Japanerin der Sinn der Ehe gerade der ist, nur &&c=8 einem &&c=0 Manne anzugehören.« Eine mehr als einmalige Beobachtung: ein Japaner wird einem Engländer vorgestellt; er verbeugt sich steif. Er wird einem Amerikaner vorgestellt: er verbeugt sich noch steifer. Er wird einem Deutschen vorgestellt: »{{shake hands!}}« Die Vertreter großer Blätter, die weniger zurückhaltend sind und sein dürfen als Männer in offizieller oder auch nur halboffizieller Stellung, stimmen in der Auffassung der politischen Konstellation überein. Alles, was im Innern vorgeht, sind natürliche Entwicklungen; natürlich bei einem Volke, das nicht wie das chinesische stillsteht, sondern fortschreitet. Alle Gegensätze, die den gleichen Ausgangspunkt und das gleiche Ziel, die Größe Japans haben, verstummen, sobald äußere Fragen von Gewicht zur Entscheidung stehen. Und da man in Japan an keine dauernde Verständigung mit Amerika glaubt, so sind eigentlich alle Japaner außenpolitisch nach derselben Richtung eingestellt. – Korea? – Du lieber Gott, eine Bagatelle! Und auch die Koreaner, die den Japanern weit weniger wesensfremd sind als die Iren den Engländern, werden bei der großen Entscheidung gelb oder weiß wissen, wo sie hingehören. Und mit dieser Parole gelbweiß – mag sie auch nicht ganz stimmen – wird Japan eines Tages auch China mitreißen. Nicht heute und nicht morgen. Und manches wird sich zuvor noch in der Welt ereignen. Aber wer kein Greis ist, der wird's erleben. Asien oder Amerika, das ist die Frage – nachdem Europa durch Frankreichs Schuld zu einer {{quan¬tité négli¬geab¬le}} im Weltenreich herabsank. – So sprechen Männer, die auch im eigenen Lande als Profeten gelten. Und ich harmloser Europäer wünsche, daß Deutschland neben Rußland dann auf Seiten Japans steht. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x In so vielen Büchern las ich es: »Ein Volk, bei dem die Frau eine derart untergeordnete Rolle spielt wie bei den Japanern, hat keine Kultur.« Trotz Nietzsche {{[Nietz¬sche]}}, Schopenhauer {{[Scho¬pen¬hau¬er]}} und Strindberg {{[Strind¬berg]}} werden viele die Richtigkeit dieses Satzes zugeben. Ebenso natürlich das Gegenteil: daß etwa Amerika auf höchster kultureller Stufe stehe, weil es in der Frau – ich übertreibe ein wenig – ein höheres Wesen sieht. Wobei zunächst einmal zu untersuchen wäre, was denn eigentlich Kultur ist. Das Streben nach höchster menschlicher Gesittung und geistiger Durchbildung oder nach dem Championat, im Geldverdienen und im Boxen. – Für jeden, der sehen kann, steht die Frau in Japan längst gleichwertig neben dem Mann, den sie in jedem Falle äußerlich aussticht. Wenn man diese zarten, feinen Geschöpfe neben den fast durchweg groben, häßlichen Männern sieht, so glaubt man, daß die männlichen Urbewohner, die {{Ainos}}, von einwandernden mongolischen Stämmen verdrängt und abgeschlachtet, die weiblichen aber, zwar auch nicht unberührt, jedenfalls aber am Leben gelassen und in hohen Ehren gehalten wurden. Ein Japaner, der in einen Kreis von Europäern gerät – ich beobachtete das in großen japanischen Hotels, Theatern und Restaurants –, fühlt sich geniert, während die Japanerin, auch wo sie im Kimono auf Dekolletes stößt, vom ersten Augenblick an gewandt und völlig sicher ist. – Diese herrlichen Kimonos, die tausend Jahre Mode sind und – Buddha und der gute Geschmack der Japanerin gebe es! – weitere tausend Jahre Mode bleiben mögen! Welche natürliche Beweglichkeit der Körper unter der weichen Seide – im Gegensatz zu den gepanzerten Dekolletierten, die eben gespreizt und gequält ihr neuestes Kleid zur Schau tragen und beim ersten Blick auf die noch elegantere Nachbarin entsetzt erkennen, daß ihr Kleid die Mode von gestern und daher nicht mehr die von heute ist. – Beatrice, die alles, was auch nur entfernt an das Königreich Siam erinnert, ablehnt, findet – auf den Gedanken kam bisher noch niemand – den Kimono unsittlich, weil er »sozusagen dauernde Bereitschaft« verrate, das korsettierte Dekollete hingegen zum Ausdruck bringe, daß man erst erobert sein wolle. Ihre Gedankengänge sind etwas verworren, nachdem ein internationaler Anwalt in Japan erklärt hat, daß sie eine neue Ehe erst eingehen könne, nachdem das Gericht, vor dem die Ehe geschlossen wurde, in diesem Falle also das Londoner, die Nichtigkeit ausgesprochen hat. – Sie[[1]] schafft sich jetzt geschickt Verbindungen zu einflußreichen Personen, um auf diplomatischem Wege »etwas zu erreichen«. – Was, verrät sie nicht. Jedenfalls: sie ist viel unterwegs, und ich – bin es auch. (Bild 27) (Bild 28) Und zwar saß ich die nächsten Abende meist im Theater. Ich war durch das, was ich zu Hause über Japan gelesen hatte, reichlich verwirrt. Dies Märchen aus Tausendundeiner Nacht war von nahem besehen doch sehr viel wirklicher als Indien oder China. Man mußte sich schon in geschlossener Rikscha von Tee[[1]]haus zu Tee[[1]]haus fahren lassen und in einem der freundlichen Häuser von {{Yo¬shi¬wa¬ra}} übernachten, um von Japan den Eindruck zu gewinnen, den deutsche Dichter in ihren Büchern festgehalten haben. Ich habe wie in China durch die Vermittlung des Gouverneurs, so in Japan dank dem Entgegenkommen hoher japanischer Beamter Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse, soziale Einrichtungen besichtigt – ich muß gestehen, daß das, was ich in Japan sah, als vorbildlich auch für Europa gelten kann. Gewiß, die Japaner besitzen die Kunst, vom Guten das Beste zu nehmen. Sie[[1]] haben, was sie in Europa sahen, in sich aufgenommen und weiterentwickelt. Sie[[1]] sind ganz europäisch, in vielem – ich sagte es schon – preußisch im guten Sinne des alten Kaisers Wilhelm. So sehr in den Städten Japans das Bier neben Sake Nationalgetränk wurde, so vielen Betrunkenen man in den Stampen {{[Stam¬pen]}} und auf den Straßen begegnet – dies Volk ist doch nüchtern und diszipliniert wie kein zweites. Ich habe halbwüchsige Jungen ringen und fechten sehen und beobachtet, wie ein Blick des Lehrers genügte, um in der Hitze des Kampfes hervorbrechende Leidenschaft zu meistern. Ich habe in den Krankenhäusern neben einer fast forciert wirkenden Reinlichkeit, die selbst von Schwerkranken oft gegen den Wunsch des Arztes aus natürlichem Triebe geübt wurde, junge und alte Menschen mit einer Geduld Schmerzen ertragen sehen, die an die Geduld und Selbstentäußerung indischer Fanatiker erinnerte. Aber während diesen Besessenen das Leid Selbstzweck und das Nichts das Ziel der Wünsche war, sehnten sich diese hoffnungslos kranken Japaner zum Leben und zur Arbeit zurück. Und Zähigkeit überwand, wie man mir sagte, hier schon oft den Tod. Wie werden diese Leiber aber auch von frühester Jugend an gestählt! Die Schulen sind auf das körperliche Wohl nicht minder bedacht als auf das geistige. Und die Natur spielt eine weit gewichtigere Rolle als bei uns. Wie viele Deutsche kennen ihr Land? Der Japaner hingegen ist mit ihm verwachsen. Die Kunst lernt er nicht aus gelehrten Büchern. Sie[[1]] geht ihm durch Schauen auf wie eine Offenbarung. Er sieht, während wir auf Grund von Studien erkennen, mittels des Verstandes, während bei ihm die Sinne Mittler sind. Daher ist er der stärkere Genießer, während uns Kritik den Genuß schmälert. Wir sind verbildet. In den geistigen Dingen literarisch eingestellt. Das ist das große Übel. Ich weiß auch, woher es kommt. Ich sag's aber nicht. Gerade jetzt, wo in Deutschland zwischen Akademie der Künste und Nationalgalerie die Meinungen aufeinanderplatzten, die nur scheinbar Fragen künstlerischen Sehens, in Wirklichkeit aber Fragen verschiedener Weltanschauungen sind, hat es sich gezeigt, wie wir dank einseitig literarisch eingestellter Kritik den Blick ins Weite, ins Leben verloren haben. Auf solche Gedanken kommt man im Verkehr mit den Japanern; vornehmlich mit Lehrern, Professoren, die uns weit besser kennen als wir sie. Die da anfangen, wo wir aufhören. Denen die Errungenschaften unseres Geistes sozusagen in den Schoß fielen. Die mit unverbrauchten Nerven nun die Nutzanwendung ziehen, während wir uns Generationen lang müde gerannt haben. Diese Japaner sind völlig voraussetzungslos. Ihnen kommt nicht einmal der Gedanke, daß wir die Gebenden, sie die Nehmenden sind. Wie ich sie sah, glaube ich, daß sie nie die Gebenden hätten sein können. Von ihnen hätte nie jemand erfahren, was wir mit freigebiger Geste verschenkten. Soll man sie darum tadeln oder loben? Ich weiß es nicht. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Schon am zweiten Abend in Tokio lehnte Beatrice es ab, mich nach dem Diner ins Theater zu begleiten. Der Lärm der Instrumente, mehr noch der schrille Ton der Chöre gingen ihr auf die Nerven. Das einzige, was sie reize, sei die Pracht der Kostüme. Aber die Kimonos, die sie im Imperial zu sehen bekäme, genügten ihr. – Ich gab mir Mühe, sie umzustimmen, ließ sie deutsche Bücher über das japanische Theater lesen. Vielleicht, daß sie sich von den Hymnen dieser falsch eingestellten Beschauer mitreißen ließ. Erstaunlich! Beatrices Instinkt ließ sich nicht täuschen. Sie[[1]] hatte schon beim ersten Besuch erkannt, daß das japanische Theater auf Auge, Gehör und Gefühl, also nicht auf den Verstand, eingestellt ist. Aber auf das Auge und Gefühl des Japaners, der anders sieht und fühlt als wir. Nirgends zeigt sich die Verschiedenheit der gelben Rasse von der weißen in so konzentrierter Form wie hier. (Außerhalb des Theaters noch im Geschmack. Denn wer die Japaner in den europäisch geführten Hotels bei den Mahlzeiten beobachtet, mehr noch, wer von uns im Osten gezwungen ist, sich vorübergehend chinesisch oder japanisch zu beköstigen, weiß, daß es in bezug auf den Geschmack keine Verständigung gibt.) Das sind ganz nüchterne Feststellungen, die nicht zu widerlegen sind. Mit ihnen wird hinfällig, was Enthusiasten über das künstlerische Niveau des japanischen Theaters zusammenfaseln. Das Wesensfremde trübt den Blick, bezaubert, führt zu Überschätzung. Der Blumensteg, ein primitiver, unkünstlerischer Notbehelf, von Reinhardt übernommen, wurde wie eine künstlerische Offenbarung gefeiert. Nach einigen Jahren war er nur noch als besserer Ulk in einer Posse möglich. – Beatrice hatte also gar nicht unrecht, wenn sie das japanische Theater als eine Qual empfindet. Und es spricht für sie, daß sie es im Gegensatz zu den meisten Europäern, die sich aus Furcht, ungebildet zu erscheinen, begeistert stellen, offen ausspricht. Wenn ich, der ich lediglich zu Studienzwecken jeden Abend ins Theater gehe, den Wunsch habe, daß sie mich begleitet, so geschieht es nur aus Furcht, sie allein zu lassen. Die Erinnerung an den Abend in Yokohama und seine für den Augenblick abgewandten Folgen haben mich vorsichtig gemacht. Zumal ich mir über Beatrices Charakter und Absichten noch völlig im unklaren bin. Eben erscheint sie mir harmlos, ja, beinahe weiblich beschränkt; eine Stunde später staune ich über ihren Intellekt und die bei einer Frau seltene Folgerichtigkeit im Denken. Ich wäre geneigt anzunehmen, daß sie aus einem Grunde und mit einer Absicht, die ich noch nicht kenne, mit mir spielt, wenn ihr Verhalten in der Affäre mit dem Grafen nicht so borniert gewesen wäre. Wäre sie aber so borniert, hätten sich dann kluge Amerikaner bemüht, sie für ihren Zweck zu gewinnen? Gedanken, daß sie mich liebt, kommen mir nicht. Freilich, bei Andernfalls[[Asien]] nahm ich es an – und ich wurde gründlich berichtigt. Ob ich auch hier irre? Ich wünsche es mir nicht. Überall in Europa, ach, auch in Indien und China, hätte ich den Zufall gesegnet, der mir als Begleitung diese Frau bescherte. Hier, in Japan, stört mich Beatrice. Aber ich sehe keine Möglichkeit, eine Änderung zu schaffen. (Bild 29) (Bild 30) Ein paar japanische Reporter haben schon am zweiten Tage über mich zwei Zeilen und auf dreifachem Raum eine Hymne auf Beatrice gebracht. Daran scheiterte meine[[Besitz]] Absicht, sie bei Besuchen, die ich bei Ministern, Deputierten und anderen Prominenten machte, zu unterschlagen. Die erste Frage lautete überall: »Wie fühlt sich Ihre Gattin in Japan?« – »Darf man sie kennenlernen?« – Beatrice wurde zu Tee[[1]]s, Diners und Soupers herumgereicht und hielt sich tadellos. Ich konnte unmöglich den Irrtum aufklären, ohne Beatrice zu kompromittieren. Aber schließlich nahm ja auch niemand Schaden daran. Der Gräfin {{Seni-Mehis}} aus Siam hätte man mit gewiß noch größerer Bereitwilligkeit die Salons geöffnet als der Frau eines Schriftstellers aus Berlin. Also war der Konflikt meines Gewissens nicht groß. Er wurde es erst an einem der nächsten Tage, als ich am Spätnachmittag aus einem Tee[[1]]haus ins Hotel zurückkehrte und Beatrice, die ich mit der Abendtoilette beschäftigt glaubte, nicht vorfand. Wir waren für sieben Uhr bei {{Ma¬sa¬gu¬ki Mat¬su¬ya¬ma}} geladen, einem der großen Mäzene Japans, durch den ich Eintritt in alle nicht öffentlichen Kunstsammlungen des Kaisers und privater Sammler in Tokio, Kyoto und Osaka zu erhalten hoffte. – Ich lief auf den Korridor, stieg in den Fahrstuhl und suchte das Riesenhotel von oben bis unten ab. Das nahm etwa zwanzig Minuten in Anspruch. Ich stieg in die Katakomben – so nannte Beatrice die unter dem Hotel entlang führenden Gänge, in denen die ersten Geschäftsleute der Stadt ihre geschmackvollen Läden hatten. Beatrice verbrachte hier oft Stunden am Tage. Ich fragte in den Geschäften, vornehmlich in den Läden, die Schmuck, Bijouterie, Seidensachen und Kimonos führten. Sie[[1]] alle kannten sie schon nach dem ersten Tage. Ich vermied es, Aufsehen zu machen. »Wenn meine[[Besitz]] Frau kommt,« sagte ich, »sagen Sie[[1]] ihr bitte, ich sei schon oben. Sie[[1]] war doch noch nicht hier?« – »Nein, mein Herr,« hieß es überall. Und da sie inzwischen auch nicht in unser Appartement zurückgekehrt war, so – Himmel! die Stelle, an dem ihr Schrankkoffer gestanden hatte, dies Ungetüm, das sich in keine Kabine unterbringen ließ und zwei Monate lang allen Passagieren den Weg versperrt hatte – war leer. Der Toilettentisch abgeräumt. Die Tür des Kleiderschranks stand offen. Außer einem Frisiermantel hing nichts mehr drin. – War diese Frau toll? In was für eine Lage geriet ich? In einer Stunde mußten wir bei {{Mat¬su¬ya¬ma}} zum Diner sein. Dort trafen wir dieselben Leute wieder, mit denen wir die letzten Tage verbracht hatten! Was sollte ich sagen? Ich wußte ja selbst nichts! Den Verlust meiner »Frau« der Direktion melden? Oder gar der Polizei? Ganz Tokio stand am selben Tage Kopf. – Ich suchte, wie immer, wenn mir das Schicksal einen Schlag versetzte, etwas Gutes heraus. Fand es auch. Denn die Situation ergab, daß kein Unglücksfall, keine Verschleppung vorlag. Auch war Beatrice nicht die Frau, die sich verschleppen ließ. Aber so ein Rikschakuli konnte sie ja nach Belieben fahren, wohin er wollte. Sie[[1]] kannte weder Stadt noch Sprache. Aber nein! Es unterlag gar keinem Zweifel. Sie[[1]] war ausgerückt. Ich ertappte mich im Spiegel, wie ich heimlich lachte. Allen Ernstes, ich sah vergnügt aus. Ich hatte am Ende auch Grund dazu. Diese Frau, eine außerordentliche Angelegenheit für Paris oder Konstantinopel, störte meine[[Besitz]] Wege in Japan, vereuropäisierte sie. Aber was sagte ich meinen[[Besitz]] Bekannten? Und wo war sie? Wer konnte wissen, an welcher Stelle sie plötzlich wieder auftauchte? – Und dann? War es nicht blamabel, daß einem innerhalb von sechs Wochen zwei Frauen fortliefen? Und was für Frauen! – Ganz mechanisch hatte ich während dieser Erwägungen Hemd und Anzug gewechselt und stand jetzt, die Krawatte bindend, im Smoking vor dem Spiegel. – Frauen sind äußerlich, dachte ich. Alle. Auch die so tun, als suchten sie Seele. Die vor allem. Aber Beatrice hatte ja nie so getan. Sie[[1]] war explosiv gewesen. Fand ich. Möglich, daß auch das Theater war. – Ich betrachtete mich im Spiegel. Frisch rasiert, sah ich noch ganz passabel aus. Aber das graue Haar an den Schläfen, die Runzeln an den Augen – und dann der leise, aber doch schon betonte Ansatz zu einem Bauch! Das war schon in Erwartung des Kommenden unästhetisch. Ein Mann mit Bauch hat keinen Anspruch mehr, geliebt zu werden. Ein Mann, der keinen Anspruch mehr hat, geliebt zu werden, hat ausgelebt. Und statt zu überlegen: wo ist Beatrice, dachte ich darüber nach: wie schütze ich mich vor einem Bauch. Ich hätte statt nach Tokio zu gehen, eine Kur in Marienbad oder Pistyan {{[Pistyan]}} machen sollen. Es klopft. Ein japanischer Boy erscheint – lächelt der Lümmel nicht verschmitzt? – und überreicht mir einen Brief. Er ist schon wieder draußen. Beatrices Handschrift! Ich lasse die Krawatte, die ich sonst im Schlaf und ohne Spiegel binde, die aber heute nicht werden will, los, öffne, lese: &&rl=5 &&rr=5 &&am Mein lieber Freund! &&ax Da ich fühle, daß ich Ihnen im Wege bin, ziehe ich mich zurück. Es ist trotzdem möglich, wenn auch unwahrscheinlich, daß ich auf Ihr schriftliches Eheversprechen zu gegebener Zeit zurückkomme. &&am Ihre Beatrice. &&rl=0 &&rr=0 &&ax Sie[[1]] hat also gefühlt …? War ich so rücksichtslos? Ich wurde nicht klug aus ihr und tat ihr unrecht. Wieviel Zartgefühl, Takt, Rücksicht! Beatrice, ich danke dir! Am Ende hat sie mich doch geliebt. – Ich schaue in den Spiegel, vor dem ich noch immer stehe. Im Smoking mache ich auch noch heute eine erträgliche Figur. Wie eitel man ist! – Ich lese noch einmal: »Es ist möglich, wenn auch unwahrscheinlich …« – Welche Kette schleppe ich da mit mir herum! Am Ende lebenslänglich. Sobald mir eine Frau gefällt, wird Beatrice erscheinen. – Die Uhr schlägt. Es ist sieben! Ich vertrödle die Zeit. – Diese niederträchtige Krawatte! Halt, jetzt habe ich dich! Dieser Knoten geht heute abend nicht auf. Ich kenn's. Ich werde rasen, toben. – Es klopft schon wieder. Derselbe Boy, mit demselben süffisanten Lächeln. Einen Strauß Blumen in der Hand. Für Beatrice natürlich. Am Ende liegt da die Lösung. Ich reiße ihn ihm aus der Hand. Ein Briefumschlag. An mich. Darin ihre Karte, und auf der Rückseite drei Worte: »Sei nicht böse!« – Ich werfe Blumen, Umschlag und Karte in die Ecke. Soll das alle fünf Minuten so gehen? Hat sie die Absicht, mich in ein japanisches Irrenhaus zu bringen? – Richtig! Irrenhäuser! die habe ich versäumt mir anzusehen. Schon in China. Interessanter gewiß als Schulen und Krankenhäuser. Aber um diese Einrichtungen am eigenen Leibe, beziehungsweise eigenem Geiste zu studieren, fühle ich mich noch nicht reif genug. – Was will sie bloß? Vor[[Präpos]] allem, wo ist sie hin? Sie[[1]] kennt doch keine Menschenseele in Japan – mit Ausnahme der wenigen, die wir gemeinsam kennenlernten. Und daß sie zu einem von diesen …? – Hm! es waren da außer einflußreichen und reichen Japanern, denen ich es aber nicht zutraue – ein paar Amerikaner – am Ende, daß sie auf diese Weise um die Welt reist. Und dann: die Rückreise über Honolulu {{[Ho¬no¬lu¬lu]}} – San Francisco – New York ist sehr viel kürzer und amüsanter. In diesem Falle am Ende auch lohnender. – Wenn ich es wüßte, ich fände mich ab. Mehr noch: ich wäre zufrieden. Aber diese Ungewißheit und der Gedanke, daß sie jeden Augenblick wieder da sein kann. In einer Stunde, in einem Monat, in einem Jahr! Das nimmt mir die Ruhe. – Ob ich bei den Amerikanern anrufe? Was soll ich sagen. »Meine[[Besitz]] Frau ist mir fortgelaufen. Ist sie bei Ihnen, so behalten Sie[[2]] sie.« – Das geht nicht. Das gibt einen Skandal. – Überhaupt, wo sie gar nicht meine[[Besitz]] Frau ist. – Die Uhr schlägt halb acht. Jetzt müßte ich bei Mr. {{Mat¬su¬ya¬ma}} zumindest absagen. – Schnell noch einen Whisky pur. Noch einen! Ekelhaft bitter! Aber den üblen Geschmack spült's hinunter. – Lift! wieder der Lümmel! Diesmal sieht er mich von unten nach oben an. Er versteht kein Englisch. Ich trampse mit dem Fuß auf. Er zieht einen Lappen aus der Tasche und beginnt meine[[Besitz]] Lackschuhe zu bearbeiten. – Wie ist sie nur aus dem Hotel gekommen? mit diesem Ungetüm von Koffer! – Was hat sie dem Empfangschef, was dem Portier gesagt? Die wissen gewiß mehr als ich. – Ich will versuchen. – Also vom Lift aus zum Chef. »Meine[[Besitz]] Frau hat Ihnen wohl schon gesagt, daß Sie[[1]] über das eine Zimmer verfügen können?« »Soll ich ein zweites Bett zu Ihnen hineinstellen?« fragt er arglos, scheint also nichts zu wissen. »Aber nein! Sie[[1]] ist voraus zu Freunden nach Kyoto.« »Ach so!« Ich gehe; er verbeugt sich. »Hören Sie[[1]],« sage ich zum Portier, »meine[[Besitz]] Frau hat vom Bahnhof aus telefoniert, daß sie ihren Plaid im Auto vergessen hat. Erinnern Sie[[1]] sich zufällig des Chauffeurs oder der Nummer …?« »Wann soll das gewesen sein?« fragt der erstaunt. »Am Spätnachmittag.« »Ist Ihre Gemahlin denn abgereist?« »Aber ja! – Sie[[2]] kennen sie doch?« »Selbstredend. Aber von ihrer Abreise weiß ich nichts.« »Und den Riesenkoffer haben Sie[[1]] auch nicht gesehen?« »Unmöglich!« »Sie[[1]] waren den ganzen Nachmittag hier?« »Ohne mich wegzurühren. Ich kenne jeden, der abgereist ist, und ich möchte sagen, ich kenne auch jedes Stück Gepäck.« Das war schon falsch von mir. Wozu mußte ich Aufsehen machen, was sie, gewandter als ich, geschickt vermieden hatte. »Richtig,« lenkte ich ab, »sie wollte ja erst noch zur Botschaft.« »Mit dem Koffer?« fragte der Hotelportier. »Nein! Nein! Sie[[1]] wissen ja, wie Frauen sind. Sie[[1]] hat sich gewiß geniert, mit dem Gepäck dort vorzufahren.« »Demnach wäre der Koffer noch im Appartement.« »Vermutlich.« »Und wegen des Plaids – ja, ich habe die Gnädige gar nicht fortgehen sehen.« »Sie[[1]] läßt überall etwas liegen. Ich bin daran schon gewöhnt.« »Ich werde sofort recherchieren.« »Gewiß liegt auch der Plaid oben – nein! diese Frauen!« Wir lachten beide und ich ging eilig in den Fahrstuhl zurück. Nicht, um nach Koffer und Plaid zu fahnden, vielmehr, um den Hausdiener einem Verhör zu unterziehen. Denn schließlich konnte dieses Ungetüm von Koffer doch unmöglich mitten am Tage, ohne daß jemand es sah, über Flur und Treppen gleiten und aus dem Hotel verschwinden. – Ich gab dem Hausdiener zwei Jen und sagte: »Für den Koffer.« Er sah mich so dumm an, daß ich sofort erkannte, er wußte nichts. »Richtig, den haben wohl Träger geholt,« fuhr ich fort, »das war gewiß 'ne Arbeit?« »Hier von dem Flur? Heute nachmittag?« – er schüttelte den Kopf: »Das hätte ich wohl gesehen.« Mir wurde unbehaglich. Ich ließ ihm das Geld, ging noch mal in mein Zimmer. Es war kein Irrtum, konnte keiner sein. Außer dem Koffer fehlten zwei Lederhandtaschen und ein verhältnismäßig großer Hutkoffer – also alles, was ihr gehörte. – Ich tat ein übriges und ließ das Mädchen kommen. »Meine[[Besitz]] Frau hat in der Eile vergessen, Ihnen Trinkgelder zu geben,« sagte ich und griff in die Tasche. Sie[[1]] wehrte ab. »Madame hat mir fünf Jen gegeben.« »Daran können Sie[[1]] sehen, wie zerstreut Frauen sind. Wer hat denn die Koffer runtergeschafft?« »Das weiß ich nicht. Als Madame mich rief, war das Zimmer leer.« Warum diese Heimlichkeit? Wer hatte ihr bei dieser Flucht – denn nichts anderes war es – geholfen? Sie[[1]] hätte die Trennung von mir, wenn der im Brief angegebene Grund wirklich das treibende Moment war, in aller Ruhe und Freundschaft vollziehen können. Zehn Minuten nach acht kam ich endlich als letzter zu Mr. {{Mat¬su¬ya¬ma}}. »Ein Nervenchok meiner Frau.« – Damit entschuldigte ich meine[[Besitz]] Verspätung und das Ausbleiben von Beatrice. Eine Hilfsbereitschaft, die mir die Japaner von einer ganz neuen Seite zeigte, setzte ein. Während des ganzen Essens wurde von nichts anderem gesprochen. Die lange Seereise, die zu schnell aufeinanderfolgenden gewaltigen Eindrücke, die fortgesetzte Veränderung der Luft wurden als fast natürliche Ursachen für den Nervenzusammenbruch Beatrices genannt. Die Damen versicherten, daß es ihnen unter diesen Bedingungen genau so ergehen würde. Sie[[1]] alle stellten ihren Besuch bei Beatrice in Aussicht. Die Frage nach dem geeigneten Arzt und, falls das Befinden sich bis morgen nicht bessern sollte, nach dem geeigneten Sanatorium wurde erörtert. Eine sehr feine, alte Japanerin wollte Beatrice aus dem lauten Hotel heraus und zu sich in Pflege nehmen, ein Ehepaar stellte uns seine Villa bei {{Na¬ka¬ne¬scha¬ku}} zur Verfügung. Wirklich, diese Japaner, die unter sich nicht einmal von dem Tode eines ihrer Angehörigen irgendwelches Wesen machten, benahmen sich rührend. Sie[[1]] fanden es auch durchaus natürlich, als ich mich, unter Berufung auf meine[[Besitz]] Unruhe, die wirklich echt war, gleich nach dem Essen verabschiedete. Mir war reichlich unbehaglich. Was sollte ich tun? Am nächsten Morgen würden alle diese guten Menschen mit schönen Blumen und guten Ratschlägen Beatrice im Hotel besuchen und erfahren, daß sie bereits seit gestern nachmittag nicht mehr im Hause war. – Froh, den Frauen und allen mit ihnen verbundenen Unbequemlichkeiten in der Heimat entrückt zu sein, sah ich mich von ihnen über sämtliche Ozeane der Welt verfolgt – und gerade in solchen Augenblicken, in denen ich sie mehr denn je zum Teufel wünschte. Als ich gegen halb zehn wieder ins Hotel kam, hatte ich das bestimmte Gefühl, irgend etwas müsse sich hier inzwischen ereignet haben. Der Gedanke, es könne was Angenehmes sein, kam mir nicht einen Augenblick. Ich fühlte, ich war unsicher. Um so fester sah ich dem Portier und dem Chef ins Auge, die höflich wie immer und offenbar ohne jeden Argwohn waren. Nur der Lümmel unten am Lift lächelte, als er mich sah. – Junge, wenn du Deutsch sprächst – keine zwei Minuten und du legtest diesen Spott ab und kramtest deine Weisheit vor mir aus. – Nur, um nicht zwei Etagen weit dies Gesicht zu sehen, ging ich statt auf mein Zimmer noch einmal in die »Katakomben«. Die meisten Läden waren noch geöffnet. Ich kaufte, nur um auf andere Gedanken zu kommen, Lackkästen, Dosen, Lederarbeiten, Zeichnungen und Holzschnitte – selbst in diesen Magazinen zu lächerlich niedrigen Preisen. In der Porzellanauslage bediente die schönste Japanerin, der ich bisher begegnet war. Nicht so puppenhaft wie die meisten. Die Stirn ein wenig höher, das Gesicht lang und schmal, schmal und weiß auch die Hände, aber mit Charakter und nicht so leblos wie die eines Kindes, und bezaubernd jede Bewegung dieses schmiegsamen Körpers, von dem unter dem kostbaren Kimono nur die schlanken Arme und der weiße Hals hervortraten. Ich quälte das Kind. Ließ es sich nach Tassen bücken, die ich unter anderem Porzellan in einer Vitrine auf der Erde sah, ließ es auf eine Leiter steigen, um einen Buddha von einem Regal zu nehmen und ließ mir schließlich alles zeigen, was sie nötigte, sich zu bewegen. Ich weiß nicht, ob Degas {{[De¬gas]}} und Rodin {{[Ro¬din]}} je in Japan waren. Ich glaube nicht. Sie[[1]] waren die einzigen, diese Bewegungen festzuhalten. Ich kann seit Japan die Zeichnungen Rodins und die Tanzskizzen von Degas nicht mehr betrachten, ohne das schmerzhaft bittere Gefühl über das, was uns verlorenging, was wir besitzen könnten, wenn diese Künstler die einzigartigen Bewegungen dieser schmiegsamen Japanerinnen gesehen und gemeistert hätten. Die schöne Porzellangeisha – sie hat mir diese Bezeichnung längst verziehen; sie ist aus gutem Hause und der Vater ist ein angesehener Mann in Aschirikotan {{[Aschi¬ri¬ko¬tan]}} – sprach Englisch und – man soll es nicht glauben – auch ein paar Brocken Deutsch. Ich kaufte ihr eine handgemalte Tasse, die so dünn war, daß man nicht wagte, sie mit den Zähnen zu berühren, und von dem Magazin nebenan eine Schleife, die zu ihrem Kimono paßte und die sie sich mit bezaubernder Grazie ins Haar steckte. Ich bat sie, mir ein halbes Dutzend Tassen zu verpacken – und ich bat sie um mehr. Sie[[1]] hieß Hana {{[Ha¬na]}}, die Blüte, und ich liebe sie noch heute. Und ich fahre sehr bald wieder nach Japan, weil ich, bevor ich sterbe, Hana noch einmal sehen will. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Sehr früh am Morgen des nächsten Tages saß ich an meinem Schreibtisch und schrieb den wenigen Bekannten in Tokio, daß ich dem Rate des Arztes folgend die geräuschvolle Stadt verlassen habe, jedoch zuversichtlich hoffe, auf der Rückreise mit meiner genesenen Frau ein paar Tage in Tokio zu verbringen. – Ich setzte mehrere Boys in Bewegung, damit alle Briefe an Ort und Stelle waren, ehe jemand den Weg ins Hotel antrat. Dann packte ich in Eile meine[[Besitz]] Sachen und fuhr mit dem Frühzug nach Kyoto. (Bild 31) (Bild 32) Tokio lag also fürs erste hinter mir. Ich habe schon zwanzig Jahre lang vor dem Kriege große Reisen gemacht, ohne je ein Programm zu haben. Auch diesmal hatte ich keins. Immerhin standen in meinem Reisebuch für Japan eine Reihe wesentlicher Dinge verzeichnet, darunter allein für Tokio elf, derentwegen allein ich eine Reise von zweimal vier Monaten für lohnend hielt. Ich verließ Tokio und hatte von diesen Dingen außer ein paar Bildern von {{Ho¬ku¬sai}} und {{Hi¬ro¬shi¬ge}} (den Gelehrten zur Kenntnis, daß der Japaner über ein Dutzend der besten Werke von {{Hi¬ro¬shi¬ge}} besitzt, die sämtlich Stadt und Ufer von {{Oiso}} wiedergeben) und ein paar nicht mal bedeutenden Fabriken für Steinzeug-, Steingutarbeiten und Töpfereien nichts gesehen. Aber alles das wog Hana auf. Nie sah ich später auch nur auf einem Bilde eine Japanerin von diesem bezaubernden Charme und mit dieser Grazie der Bewegungen wieder. Ich suchte sie. In jedem Gemälde und in jedem Druck. Einmal glaubte ich sie in einem Farbdruck von {{Su¬zu¬ki Ha¬ru¬no¬bu}}, dann auf einem lila Buntdruck von {{To¬yo¬hi¬ro}} zu erkennen. Dann wieder in einer Dienerin auf einem Buntdruck von {{Iso¬da Ko¬riu¬sai}} mit Muse und Kind. Aber immer fehlte ein letztes – und die Sehnsucht blieb ungestillt. Wenn ich auch so manches, was ich in Tokio sehen wollte, versäumte, so war mir dafür doch die Erkenntnis des Japaners geworden. Ich sah ihn nun. In Europa hatte ich den Eindruck gewonnen, daß sich die Japaner nicht nur äußerlich ähnelten. Mir schien, daß auch Charakter und Gemüt bei fast allen sich glichen – zum mindesten innerhalb eines Ausmaßes, das bestimmbar war. Möglich, daß ich sie bis dahin unter dem Einfluß der dummen Bücher über Japan und die Japaner sah. Da hieß es immer: der Japaner ist schlau, zäh, emsig, hinterhältig, verlogen, steril. So wie er auch in dem verlogenen, dramatischen Schmarren »Taifun«, der über die Welt ging und wohl von Amerika bestellte Arbeit war, gezeigt wird. In Tokio lernte ich nun Japaner fast aller Stände kennen. Ich gebe zu: nur im Rahmen der Konversation. Aber wir sprachen ja nicht über das Wetter, die Mode und den teuren Haushalt. Wir redeten über Dinge, über die jeder von uns schon oft und lange nachgedacht hatte und man verriet, je nach der Stellung, die man zu ihnen nahm, eine gewisse Weltanschauung. Wie überall ergab sich auch hier, daß Gute neben Bösen, Gerechte neben Ungerechten, Kluge neben Beschränkten lebten. Wenn Christus heute auf Erden eine Auswahl träfe, er würde unter den Japanern genau so viele finden, die im Geiste seiner Bergpredigt fühlen und – horcht auf, liebe Christen in Germany! – handeln, wie in Deutschland. So! und nun kreuziget mich! Sofern ihr meiner habhaft werdet, denn mein Zug hält augenblicklich in {{Gihe}}, inmitten einer japanischen Landschaft, die in ihrer geruhsamen, bräunlichen Tönung auf die Nerven wirkt, als führe streichelnd Hanas weiche Hand über sie. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="17._Kapitel" &&fa Siebzehntes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Die Gegend, durch die wir fuhren, bot zwar keine große Abwechslung. Aber was im einzelnen wie ein Gemälde, oft nur wie ein Ausschnitt daraus, wirkte, bekam nun, da es sich zeigte, daß es nicht eine wegen seiner besonderen Schönheit aus der Landschaft herausgehobene Stelle, vielmehr {{pars pro to¬to}} und zwar das Hunderttausendstel eines völlig gleichwertigen Ganzen war, eine tiefere Bedeutung. Ich begriff, daß dies Volk sich hier niederließ, obschon es die Gefahren des vulkanischen Bodens kannte. Ich begriff auch, daß es sich von der Welt abschloß. Auch die chinesisch-konfuzianische Kultur tat dem Bilde noch keine Gewalt an. Hätte sie sich nur rein erhalten! Aber selbst dies mittelalterlich-romanische Zeitalter des Portugiesen {{Men¬dez Pin¬to}}, der 1542 als Erster japanischen Boden betrat, paßte noch zu diesem Lande und diesen Menschen. Es war die Zeit der Samurai. Japan, in das die nach Pinto ersten Jesuitenmissionare eingedrungen waren, schloß sich wieder ganz ab. Die japanische Einheit, das Wunderland, erstand von neuem. Fahrt durch dies Land und überzeugt euch, wie dies Volk, und nur dies Volk, in diese Landschaft paßt, wie in dem kleinsten Dorf die grazile Frau, der bunte Kimono so selbstverständlich wirkt wie bei uns der Ochse im Allgäu auf der Alm. Stellt einen Allgäuer Bauern in die Landschaft – und sie ist zerstört. Am Rand der Städte, wo die letzten Häuser stehen und die Landschaft einsetzt, könnt ihr es erkennen, wie Japan, dies große Kunstwerk, dies eine, einzig große Gemälde, zu verblassen beginnt. Wo europäische oder gar amerikanische »Kultur« es berührt, ist es wie ein Fleck, den man beseitigen möchte. Ich sah bei {{Hi¬ko¬ne}}, wie ein amerikanisches Haus die Landschaft im Umkreis von ein paar Kilometern schmiß. – Unser materialistisches Zeitalter mag das Jahr 1853 segnen, da die amerikanische Flotte – warum konnte es nicht die englische sein? Der japanische Stil fiele nicht so schnell dem amerikanischen Mechanismus zum Opfer – unter Admiral {{Pe¬ry}} Japan der modernen Kultur erschloß. Für jeden, der nicht in dem stupiden Bierbottich des Materialismus watet, war es ein Disaster – für die Menschheit so schwarz beinahe wie der Tag der Entdeckung Amerikas, der aus der Welt ein Kaufhaus machte. – Meine[[Besitz]] Ruhe hielt nicht lange an. Ich hatte das Gefühl, als müßte ich aus dem Zuge steigen und in einer Rikscha durch dies Land ziehen. Wie ein Hungriger, den man stundenlang an dichtbesetzten Tafeln vorüberjagt, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, auch nur einen Bissen zu ergattern, kam ich mir vor. Voller Sehnsucht, diese Landschaft zu streicheln, die wie eine Geliebte die Arme nach mir auszustrecken schien – immer näher, immer begehrender, je weiter wir kamen – war ich Sklave und Opfer einer Maschine, die herz- und gefühllos durch das Land jagte und mich nicht losließ. Stunden noch bis Kyoto. Und was fand ich da? Europäische Hotels und im besten Falle ein paar {{Wu Tao-tses}}, {{Ghu Tuans}}, {{Shih Yuis}} und {{Ghao Tse-Kungs}}, um die man mich in China betrogen hatte. Von {{Chao Tse-Kungs}} »{{Tao Yuan-Ming}}« und {{Wu Tao-tses}} »Sommer« und »Winter« hatte man mir Wunderdinge erzählt. Ich gestehe, nach dem, was ich von ihnen sah, war meine[[Besitz]] Begierde groß. Schon die Nachbildungen, die ich von »Winter« und »Sommer« sah, warfen mich um. Was man von {{Liang' Kai}}, {{Mêng Yü-chien}} und {{Kao Yan-hui}} bei den Grafen {{Sa¬kai Tada¬michi}}, {{Ta¬na¬ka}} und {{Matsu¬daira Nao¬suke}} in Tokio gesehen hatte, ließ höchste Leidenschaft wach werden. Ich hatte in China in der Natur landschaftlich Ähnliches nie gesehen. Möglich, daß der Schmutz mein Auge trübte. Hier in Japan, das an Reinlichkeit mit Holland vergleichbar, glaubte ich alles das zu sehen, was nur das empfindsamste Künstlerauge sah und empfand – und dessen Wiedergabe nur einem dieser wenigen Gottbegnadeten gelang. Es packte mich so stark, daß ich, als der Zug eben an {{Ka¬wa¬se}} vorüberraste, beschloß, an der nächsten Station auszusteigen, sie mochte heißen wie sie wolle – ich war ja doch außerstande, mit dem Namen einen Begriff zu verbinden. Welche Glückseligkeit! Jasuda {{[Ja¬su¬da]}}, ein großes Dorf oder eine kleine Stadt, dabei ein See, in einer Landschaft, herb und süß – das ist es! – eine Süße wie Locarno {{[Lo¬car¬no]}}, das duftet wie die Pflanzen, aus denen in dem alten {{Char¬treuse}} die Mönche einst ihr Elixier für Gönner brauten. – Zu weich, um auf die Dauer zu ergötzen. Es fehlt die Herbheit, die hier in grauer Färbung anhebt und behutsam ansteigt. In eins zerflossen mit der zarten Tönung. Ja, das ist es! – Nicht hier die Jungfrau, auf der kein Leben gedeiht: grandios, kalt, einsam, majestätisch – und hart daneben die Alm, bunt, lieblich, mit weidendem Vieh und tausend zarten Blumen. Daß man die Mutter Erde wie die Geliebte tanzend umarmen will – aber plötzlich im Anblick der erhabenen Natur die Umarmung löst und in seiner Ohnmacht gegenüber dem All die Hände faltet. – Hier, in Japan, ist die Natur – das Wort sei erlaubt – ausgeglichen. Süße und Herbheit sind gleich. Und Ethnographen mögen entscheiden, ob das der Grund für die Ausgeglichenheit des Volkes ist – jener Ausgeglichenheit, die so viele Ethnographen mit Gleichheit verwechselt haben. Ich stieg, ganz hingegeben der Natur, in Jasuda aus. Ich verließ den Bahnhof. Ich ging durch den Ort, stellte die Sachen in einem Gasthaus unter, an das mich ein freundlicher Japaner wies. Ich ging stundenlang wie im Traum an diesem Tage über den Ort hinaus über das Land. Ich kam, als es dunkel war, an das Gehöft eines Bauern. Wir verbeugten uns und ich gab ihm zu verstehen, daß ich müde war. Er führte mich in sein Haus, das klein und niedrig wie ein für die Aufnahme von Schmuck bestimmtes Kästchen war. Seine Frau und eine junge Magd, die wohl die Tochter war, beide in sauberen Kimonos, brachten Schalen mit Tee[[1]][[Variante1]], trockenem Fisch, Reis und kleinen Mehlkugeln. Sie[[1]] setzten sich neben mich auf die Matte, die den halben Raum des Zimmers einnahm. Sie[[1]] ließen keinen Blick von mir und lächelten freundlich. Der Vater brachte eine {{Sa¬mi¬se¬ne}} und reichte sie der Tochter. Dann ging er wieder. Die Tochter spielte. Das Fenster stand weit offen. Draußen bedeckte die untergehende Sonne die braunen Berge mit strahlendem Gold. – Die Alte schob mir eine Rolle aus fast weißem Stroh unter den Kopf. Ich wollte ihr zum Dank die Hand geben. Sie[[1]] verstand es nicht und reichte mir die Schale mit Tee[[1]][[Variante1]]. Ich nahm sie, trank und reichte sie ihr wieder zurück. Dann fielen mir die Augen zu und ich schlief ein. Als ich nachts aufwachte, hockte die Tochter noch neben mir auf der Matte. Es war kühl. Sie[[1]] lächelte und reichte mir Tee[[1]][[Variante1]]. Ich griff nach ihrer weißen Hand, die sie leicht in meine[[Besitz]] legte. So schlief ich wieder ein, schlief bis zum Morgen. – Die Sonne stand schon wieder auf den Bergen. Ich erhob mich. Mutter und Tochter kamen. Der Bauer arbeitete schon auf dem Felde. Sie[[1]] brachten noch einmal Tee[[1]][[Variante1]], Reis und kleine weiße Kugeln aus Mehl. Sie[[1]] lächelten und verbeugten sich. Ich nickte, und sie fühlten wohl, daß es aus dem Herzen kam. Wir setzten uns zu dritt auf die Matte. Die Tochter fragte und erzählte. Sie[[1]] wollte wohl wissen, wer ich war und von wo ich kam. Sie[[1]] reichte mir Pinsel und Tusche und ein Blatt Papier. Ich malte ein Herz mit einem Speer; und eine Flamme, die aus dem Herzen schlug. Mutter und Tochter lachten. Und sie begleiteten mich ein Stück Wegs, nachdem ich vergebens versucht hatte, mich erkenntlich zu zeigen. – Es war ein herrlicher Morgen und ich mußte bis weit in meine[[Besitz]] Kindheit zurückdenken, um mich eines Glücksgefühls zu erinnern gleich diesem, mit dem ich jetzt durch die Landschaft ging. Wo ich vorüberkam, erstaunte Gesichter. Einen Europäer hatte man hier noch nicht gesehen. Jedesmal, wenn ich mich umsah, nahm ich wahr, daß sie lachten. Irgend etwas an mir – und ich bin sicher, daß es überall das gleiche war – amüsierte sie. In zwei kleinen Dörfern gingen die Kinder nicht wie bei uns, wenn es etwas zu sehen gab, hinter, sondern komischerweise vor mir her. Ich kaufte ihnen aus einem großen Glasbehälter, der in beiden Dörfern im Fenster eines Händlers stand, bunte Zuckerplätzchen, die sie ohne Streit redlich untereinander teilten, nachdem sie sich mehrmals hintereinander tief vor mir verbeugt hatten. – Nach einer Weile kam ich zwar an eine Bahnstation – aber nicht nach Jasuda. Ich hatte von zwei Richtungen die falsche gewählt und war nach {{Ka¬wa¬se}} zurückgegangen. Ich mußte lange warten, bis ein Zug nach Jasuda kam. Aber ich tat es gern und schrieb – an Hana, wie ich es ihr versprochen hatte. Nur ein paar Zeilen, unbekümmert auf eine Karte: &&rl=5 &&rr=5 »Gestern liebte ich nur dich. Seit heute, Hana, habe ich eine zweite Geliebte: dein Land. Gestern liebten wir uns irgendwo. Nun eile zu mir, Hana, auf daß wir uns in diesem Lande lieben.« &&rl=0 &&rr=0 Sie[[1]] weiß, wo sie mich in Kyoto findet. Kommt sie nicht, so kehre ich nach Tokio zurück und hole sie. In dem schmucken Gasthaus in Jasuda wunderte sich niemand, daß ich ausgeblieben war. – Glückliches Japan, in dem mich bis heute niemand nach meinem Paß, nach Name, Alter, Beruf, Religion, Vorstrafen, Steuerquittung fragte. Europa wird schon dafür sorgen, daß die Segnungen seiner Kultur auch hier endlich Eingang finden. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Beinahe wäre ich auch am nächsten Tage noch nicht nach Kyoto gekommen. Denn ich saß kaum wieder in der Bahn, voll des Erlebten, das wie ein japanisches Gedicht in mir nachwirkte, als die Landschaft mich von neuem ergriff. Ja, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß sie von mir Besitz nahm. In {{Jo¬hi¬ja¬ma}} und {{Otsu}} war ich nahe daran, wieder auszusteigen. Es war, als wenn köstliche japanische Holzschnitte durch ein optisches Wunder plötzlich lebendig wurden. Erst schlug das Wasser des dunklen Sees, auf dem die Sonne stand, leise Wellen. Dann hoben sich die Berge, die bisher bildhaft flach wirkten, plastisch von der Ebene ab. Aus dem Schornstein eines Gehöftes stieg der Rauch wie blauer Nebel in die Luft. Ein paar Frauen, die wie dunkle Striche in der Landschaft standen, beugten sich und hoben die Arme. – Ich fuhr mit einem Blatt Papier über die feuchte Scheibe und erkannte nun noch deutlicher, daß, was ich sah, kein Holzschnitt, kein Traum, sondern Leben war. Um halb neun vormittags kam ich nach Kyoto. Ehe ich ins Hotel ging, drahtete ich ausführlich an den Alten nach Yokohama. Ich versprach ihm Berge von Gin und Vermouth, wenn er mir Hana wohlbehalten nach Kyoto brächte. – Mich reizte kein Tee[[1]]haus mehr. Ich fuhr vom Hotel aus in den {{Nijo¬pa¬last}} und stand bewundernd vor den Wandmalereien des {{Ka¬no Eito¬ku}}. Was hier an Dekorativem, worin der Japaner ganz groß ist, erreicht ist, steht unübertroffen da. Und gar die Schätze im Kaiserlichen Museum! Was hier an chinesischen Gemälden ganz großen Ausmaßes zusammengetragen ist, steht gleichwertig neben Höchstem, was unsere mittelalterliche christliche Malerei geschaffen hat. So stark ich von allem, was Japan heißt, beeindruckt bin, so reißt mich doch die Leidenschaft nicht so weit hin, um zu verkennen, daß Hohes und Höchstes in japanischer Kunst chinesischem Einfluß zu danken ist. (Bild 33) (Bild 34) Am Spätnachmittag wieder im Hotel, kündet mir ein Telegramm für den nächsten Morgen halb neun die Ankunft – Hanas! – in Begleitung des Alten! Ein Gin-Vermouth auf dein Wohl, Alter! Wäre ich der Kaiser in Japan, ich erhöbe dich noch heute für deine Worte in den Ritterstand. Eine lange Nacht war noch zu überstehen. Ich verbrachte sie in dem Zimmer, das ich für Hana nahm. Einen Garten mit den zartest-farbigen Blumen werde ich morgen in aller Frühe aus ihm machen. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Hana kam am frühen Morgen. Ich stand am anderen Ende des Bahnsteigs und sah, wie der Alte sie aus dem Zuge hob. Ich lief ihr entgegen. Als sie mich sah, errötete sie und verbeugte sich tief. – Wie mußte ich mich beherrschen, um sie nicht an mich zu drücken! Der Alte redete auf mich ein. Er war mit seiner Frau gerade in {{The Shrine Iseya¬ma¬dai¬jin¬gu}} in Yokohama gewesen, als das Telegramm kam. Von da bis zur {{Ise¬sa¬ki¬cho Street}} war ein weiter Weg – selbst mit der Rikscha. Aber er sei trotzdem sofort nach Tokio gefahren und habe den Besitzer des Magazins um ein paar Tage Urlaub für Hana gebeten, da ein deutscher Dichter sie als {{Mas¬cotte}} für die Abfassung seines Buches über Japan benötige (sie!). Und der Besitzer des Magazins? – Er schlug in die Hand, und Hana, die gerade damit beschäftigt war, die Auslage zu ordnen, kam hinzu. Er erzählte ihr, aus welchem Grunde der Alte kam, Hana errötete und senkte den Kopf. Sie[[1]] folgte gern. Und er suchte mit ihr zusammen ein paar Geschenke aus, die sie mir brachte. Ein schmales Etui für Zigaretten mit handgearbeiteter Verzierung aus Gold und Silber. Ein Buddha aus Elfenbein und eine Nachbildung eines der Gräber {{Tai¬kuns}}. Ich hatte ihr erzählt, wie stark ich von diesen Gräbern in Tokio beeindruckt war. Was sie mir brachte, war die Nachbildung des Grabs des sechsten {{Tai¬kuns}} in {{Schib¬ba}}. Wunderbar in den Farben mit dezenter Goldverzierung und Lackfarbenmalerei, die wirkte, als sei sie Jahrhunderte alt. Die Tage, die ich mit Hana verbrachte, gehören zu jenen Seltenheiten des Lebens, die der Himmel unter Millionen Menschen immer nur einem beschert. Sie[[1]] haben über das Gefühl des Geschehens hinaus die Kraft, unempfindlich gegen das Schicksal zu machen. Alles, was folgt, erblaßt daneben. Und es gibt nun nichts mehr, dessentwegen es lohnt, sich im ernsten wie im frohen Sinne zu erregen. Es gibt auch niemanden – von mir zu schweigen – der imstande wäre, diese Tage des Glücks in einem Roman zu schildern. Ich sah in Kyoto ein Bild »Sommer«, Wu Tao-tse zugeschrieben, aus dem elften Jahrhundert. Gefühle, die ich nicht schildern kann – die feine Hand des Chinesen fing sie ein. In seinem »Sommer«. Dies Bild am ehesten trifft die Stimmung dieser Tage. – Aber {{Hui Tsung}}, der fast so Große, war nicht stark genug, um in seinem »Winter« den Schmerz zu schildern, als Hana ging. Sie[[1]] ging. Ich stand und sah zur Erde und sah ihr nach mit nassem Blick … – Lange stand ich. Der Zug, der sie nach Tokio zurückführte, mochte jetzt in {{Ishi¬ja¬ma}} sein. Ich sah den Ort und den See – ich sah Hanas schmales blasses Gesicht an das Fenster gepreßt. – Sie[[1]] sah in die dämmernde Landschaft. – Mir war's, als liefen schwere Tropfen die Scheibe entlang. Und ein unterdrücktes Schluchzen, das mir ins Herz schnitt, drang an mein Ohr. Mir war wie nach einem schweren Traum. Der Alte hatte mir aus Yokohama einen Band japanischer Lyrik mitgebracht. In deutscher Übertragung. Ich blätterte. Ich las: &&rl=5 Einst warst du mit mir Verbunden, wie Körper und Schatten auf allen Wegen; Jetzt wurden wir, ach! Ein ziehend Gewölk – und niedergesunkener Regen. Einst warst du mit mir Harmonisch, wie Stimme und Echo zusammenschallen; Jetzt wurden wir, ach! Ein kahles Gezweig – und Blätter, zur Erde gefallen. Einst warst du mit mir Verwachsen, wie Gold und Gestein, die sich fest umfassen: Jetzt wurden wir, ach! Ein Stern, der verlosch – und Strahlen, die einzeln verblassen. &&rl=0 Ich kam nicht los davon. Eine innere Stimme sagte: »So alt und so töricht.« – Aber sie drang nicht durch. Und heute, wo ich, wie an jedem Tage, an sie denke, weiß ich, daß mein Schicksal Hana lautet. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x »Liebe, Liebe, laß mich los!« stöhnte mein Herz, als ich meinen[[Besitz]] Kram zusammenpackte, um von Kyoto nach Osaka zu fahren. Ich hatte eine große Kiste aus Lack gekauft, in die ich alles hineintat, was Hana mir beschert und was ich unter ihrer Assistenz gekauft hatte. Sonderbar! Solange sie die Gegenstände in ihren Händen hielt, hochhob oder mir entgegenstreckte, hatte ich regelmäßig das Gefühl, daß von den hundert Sächelchen, die in den Auslagen der Geschäfte lagen, nur eben dies und kein anderes in Frage kam. Wie froh war ich mit dem Tabaksgefäß im Stile {{Ri¬tsuos}} aus Holz mit Figuren aus gefärbter Fayence {{[Fayence]}}, mit dem vierteiligen {{In¬ro}} aus farbigem Lack, mit den {{To¬bo¬ris}} aus chinesischer Schnitzerei, mit dem Glücksgott {{Hotei}} aus Elfenbein und den Tee[[1]]bechern und Gefäßen, die sämtlich mit »{{Ken¬zan}}« gezeichnet und gewiß nichts anderes als kunstvolle Imitation nach {{Oga¬ta}} waren. Aber die Farben grün, blau, braun, weiß hoben das Bild Hanas – und ich sah doch nur sie in allem. – Nun schienen alle diese Dinge, die mein Auge noch vor ein paar Stunden ergötzt hatten, fahl, farblos, tot. Und ich packte sie in den Kasten aus Lack, der sich in meinen[[Besitz]] Händen in eine Urne zu verwandeln schien. Von Kyoto nach der Millionenstadt Osaka ist es nur eine Stunde. Und doch schien die Fahrt mir eine Ewigkeit. – Hana hatte mir, als sie ging, ein Buch über ihren Lieblingsmaler {{Kyonaga}} mit vielen Abbildungen in die Hand gedrückt. Urteile von {{Tei-San}} und {{Gon¬court}} waren beigegeben. Die Ränder des Buches waren auf allen paar Seiten mit zierlichen japanischen Schriftzügen von ihr beschrieben. Ich verstand sie nicht. Auch der Alte konnte sie nicht entziffern. Er fuhr mit mir, um in Osaka seinen Sohn, der dort zur Schule ging, zu besuchen. – Er nahm auf meine[[Besitz]] Stimmung Rücksicht und sprach nicht viel. Nur einmal sagte er: »Heiraten Sie[[1]] Hana. Sie[[1]] werden in ganz Europa keine bessere Frau finden.« – Ich sah ihn an. Er meinte es ernst. – »Hana ist siebzehn Jahre alt,« erwiderte ich, »sie wird sich nach meinem Tode in Japan nicht mehr zurechtfinden und ohne mich in Europa einsam sein.« – »Dann hätten Sie[[1]] das nicht machen dürfen,« sagte er. – »Was habe ich denn gemacht?« fragte ich. – »Sie[[1]] haben sie glücklich gemacht. Das ist ein großes Unrecht. Denn wie soll sie nun ohne dies Glück weiterleben?« Ich verstand den Alten. Ich wollte nach Tokio zurück. Er wehrte ab. »Sie[[1]] haben sie gehen lassen,« sagte er. »Das versteht sie nicht. – Sie[[1]] wird Sie[[2]] noch weniger verstehen, wenn Sie[[1]] jetzt wiederkommen.« »Kann die Sehnsucht mich nicht zurücktreiben?« »Am nächsten Tage? Nein! Sie[[2]] können versuchen wollen, sie zu überwinden. Dazu gehören Monate, wenn nicht Jahre. – Kommen Sie[[1]] in einem Jahre wieder – wenn Sie[[1]] dann noch wollen?« »Und Hana? – Was wird sie tun in dem Jahr?« »An Sie[[2]] denken.« »Wenn ich die Gewißheit hätte.« »Sie[[1]] dürfen sie haben.« »Sie[[1]] werden ihr sagen, daß ich wiederkomme?« »Nein! – nur, daß Sie[[2]] sie lieb haben.« »Das habe ich ihr geschworen – nicht einmal – tausendmal!« »Und sind doch gegangen – und haben sie zurückgelassen. Aber wenn ich es ihr sage – aus mir heraus – dann wird sie es glauben – und warten und hoffen, daß Sie[[2]] wiederkommen.« »Was sind Sie[[1]] für ein Mensch,« entfuhr es mir. »Nicht der Rede wert,« gab er zur Antwort. »Einer, der schon mit einem Fuße hinüber ist; der nicht mehr mitspielt, daher um so schärfer sieht.« Wir waren in Osaka. Sein Sohn empfing ihn. Man mußte ihn für einen Japaner halten. Er gab sich auch keine Mühe, als etwas anderes zu gelten. Er fühle japanisch – sagte er –, trotz des deutschen Vaters. Aber er war – wie ich sehr bald merkte – doch deutsch in seinem Fühlen. Oder – der Gedanke kam mir nicht erst hier – war der Unterschied zwischen deutschem und japanischem Empfinden am Ende nicht so groß, wie die großen Rassetheoretiker uns glauben machen wollen? Ich war innerlich ganz und gar nicht auf die Fabrik- und Handelsstadt eingestellt. Ich riß die Augen auf und sah alles, was es zu sehen gab. Aber weit über die Netzhaut hinaus drang es nicht. Ich war voll von anderen Dingen. – In Kobe stand mein Steamer. Übermorgen fuhr er fahrplanmäßig ab. Was gab es in Japan nicht noch alles zu sehen! Was kannte ich denn? Womit hatte ich die Zeit verbracht? – Gewiß! Ich hatte die Möglichkeit, einen Monat später nach Europa zurückzukehren. Obschon dann der Monsun wütete. Für vier Wochen hätte ich nicht den Umweg durch die Hölle gescheut. Aber die Worte des Alten hatten mich überzeugt. Je eher ich heimkehrte, um so früher konnte ich die neue Reise vorbereiten. Sonderbar! Nicht einmal vor Kyoto war mir auf den Speisekarten unter Fischen der Tai aufgefallen. Hana aß ihn lieber als alles andere. Er mußte aus den Flüssen kommen, wo er rot war, während er an den Mündungen, wo der dunkle Grund des Meeres beginnt, schwarz ist. Nun plötzlich konnte ich keine Speisekarte aufschlagen, ohne daß mein erster Blick auf den Tai fiel. Ich aß ihn täglich. Immer in der Zubereitung, die Hana liebte. Und der Alte lächelte dazu, als wollte er sagen: wie die Liebe uns doch alle zu Kindern macht. – Ähnlich wie mit den Fischen ist es hier mit den Tannen. Auf sandigem Boden wachsen rote, auf weichem Boden sind sie schwarz. Sobald man sie verpflanzt, wechseln sie ihre Farbe. (Bild 35) (Bild 36) &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="18._Kapitel" &&fa Achtzehntes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Am Vormittag des Ostersonntags kam ich nach Kobe. In die eine Rikscha meine[[Besitz]] Koffer, in die zweite ich – und dann vom Bahnhof aus direkt zum Hafen. Ich rechnete damit, daß die Schiffahrtsgesellschaft wie überall ein Motorboot zwischen dem Steamer draußen und dem Hafen verkehren lassen würde. Ich suchte die italienische Flagge, aber fand sie nicht. In dem Riesenhafen nur Japaner. Ich sprach wohl zwanzig an. Sie[[1]] kannten keine Sprache außer ihrer eigenen. Es gelang mit Mühe, den Führer eines größeren Motorbootes zu bewegen, mich mit meinem Gepäck zu dem Steamer zu fahren. Wir suchten den Hafen ab. Drinnen und draußen. Einmal und noch einmal. Es ist bekannt, daß die Kapitäne der europäischen Schiffe aus Furcht vor Erdbeben gern weit draußen halten. Aber das Schiff, das ich suchte, war nirgends. Da des Ostersonntags wegen die Agentur geschlossen, der Generalkonsul auf Reisen war, das Hafenamt keine Auskunft geben konnte oder mich nicht verstand, so wiederholte ich alle paar Stunden die Rundfahrt in dem Hafen – stets mit demselben Mißerfolg, nämlich der Auskunft, daß ein großer Italiener heute früh um sechs von Kobe fortgefahren sei. Da heute der zwanzigste war, der offiziell bekanntgegebene Tag der Abfahrt aber der zweiundzwanzigste war, so konnte dies Schiff unmöglich mein Schiff sein. Am Spätnachmittag stellte ich meine[[Besitz]] Bemühungen ein. (Bild 37) (Bild 38) Ich sah jetzt endlich einen Europäer im Hafen, spreche ihn auf englisch an und er erwidert auf deutsch. Ich erzähle ihm von meinen[[Besitz]] Schmerzen, weise mich – als Legitimation, welche Bedenken sollte ich in dieser Situation gegenüber einem Deutschen haben? – mit meinem Kreditbrief aus und bitte um seinen Beistand. Er sagt zu. Ja, er tut ein übriges. Er fährt selbst hinaus und rät mir, in einem Hotel abzusteigen, in dem er selber »wohnt«. Also, denke ich, du bist halb geborgen. Bis ich vor diesem sogenannten Hotel stehe. Eine internationale Seemannsbaracke – wenn man so will. Jedenfalls ohne typisch japanischen Charakter. Verbaut mit schmalen Holzstiegen, dunklen Gängen, verdeckten Veranden. Ein Zimmer mit alten schweren, für Japan ganz ungewöhnlichen Möbeln. Eine Tür, nicht zu verschließen, da der Riegel ausgebrochen ist. In den Räumen unten lärmt ein schauderhaftes Grammophon, begleitet von dem Brüllen tiefer Männerstimmen. – Aber, denke ich, dieser Deutsche am Hafen wohnt hier. Vermutlich ist er Angestellter einer deutschen Schiffahrtslinie – also bleibe ich. Es wird spät abends. Der Deutsche läßt sich nicht sehen, noch von sich hören. Festzustellen, wer hier eigentlich als Wirt verantwortlich zeichnet, gelingt mir nicht. – Um die Rückkehr des Deutschen nicht zu verpassen, beschließe ich, meinen[[Besitz]] Bärenhunger im Hotel zu tilgen. Übelster Whisky- und Tabakgeruch schlägt mir ins Gesicht, als ich die Tür zu der Wirtsstube öffne. Betrunkene Seeleute aller Nationen. Hier und da ein altes japanisches Weib. Das da kann auch ein Mann sein. Auch dies da, das den Arm um den betrunkenen Amerikaner schlingt. Das Grammophon ist ständig in Bewegung. Das Essen ist – dementsprechend. Ich gieße nach jedem dritten Happen einen Gin herunter. Aber die Übelkeit bleibt trotzdem nicht aus. Ich werfe einen Jen auf den Tisch. Der Boy, der einen weißen Kittel nicht von gestern und nicht von vorgestern trägt, verlangt einen zweiten. Wir streiten. Ich werfe ihm das Geld hin. Nur hinaus von hier und in die Luft. Hinein in den nächsten Rikscha. – Wohin? – In den Vergnügungspark natürlich. – Eine ziemlich tote Stadt des Abends. Aber endlos zieht sie sich hin. Ich gehe in das erste beste, von klein und groß belagerte Kino. Kitschig, wie jeder japanische Film, den ich sah. Unerträglich dies ewige Sich-verbeugen, noch unerträglicher diese Rührseligkeit und zum Verzweifeln diese weinerliche Stimme, mit der ein Japaner den begleitenden Text hersagt. – Nebenan ins Theater. Bin ich aus Stein? Dies japanische Theater interessiert mich stark. Aber ich werde nicht warm. Was im Parkett Grauen erregt, ist für mich kindliche Maskerade. Ich lache. Also hinaus! Fast so schnell wie aus dem Kino. Dort hinüber zu den Fechtern! Fabelhaft diese Gewandtheit. – Und hinter den Fechtern Tee[[1]]haus an Tee[[1]]haus. In dies da, dessen Licht so leuchtet, daß man geblendet die Augen schließt. Die Schuhe aus und die belegte Stiege hinauf. Es ist in vollem Gange. Kaum, daß man von meinem Eintritt Notiz nimmt. So gerade gefällt es mir. Nur ein paar Dienerinnen kommen auf mich zu, weisen mir einen Platz an und stellen Tee[[1]][[Variante1]], Kuchen, Süßigkeiten und Sake neben mich. Ich sitze, immer wieder staunend und bewundernd vor der Kunst – nein! es ist keine Kunst, diese Bewegungen sind weder gekonnt noch gestellt. Sie[[1]] sind so natürlich und selbstverständlich wie nur irgend etwas. Sie[[1]] sind und können gar nicht anders sein. – Ich wechsle das Tee[[1]]haus mit einem andern. Genau dasselbe Bild. – Es ist mittlerweile ein Uhr nachts. – »He! Rikscha! Hotel Central!« – ich sage es auf japanisch. Viel mehr kann ich nicht. Aber ich war vorsichtig und habe mir Stadtteil und Straße aufgeschrieben. Da der Kuli mich nicht versteht, so halte ich ihm den Zettel unter die Nase. Wir sind ja in Japan! Hier kann auch der Kuli lesen und schreiben. Aber meine[[Besitz]] Handschrift liegt ihm nicht. Er schüttelt den Kopf und grinst. Andere kommen hinzu, lesen ebenfalls und grinsen noch ungenierter. Ein Auflauf. Polizei. Auch der Polizei sage ich mein Sprüchlein auf. Ich habe wenig Erfolg damit wie mit meinem Zettel. Ich sehe, ich habe kein Glück in Kobe. Hana ging und nahm das Glück mit sich. – Was fange ich an mitten in der Nacht in dieser Stadt, in der mich kein Mensch versteht? – Aber auch in Japan ist, wenn die Not am größten, Gott am nächsten. – Hier erschien er in Gestalt eines jungen Japaners, der aus der nach Hunderten zählenden Menge, die leidenschaftlich für und wider mich Partei nahm, ohne eine Ahnung zu haben, um was es ging, heraustrat und das erlösende Wort sprach: »{{Par¬lez¬vous fran¬cais, Mon¬sieur?}}« – Ich stand mehr als einmal vor dem Standesbeamten. Und ich habe die Frauen, derentwegen ich doch dort stand, geliebt. Aber nie habe ich so aus dem Herzen »ja« gesagt wie hier. – Also kamen mir die Jahre, die ich vor dem Kriege in Paris und Brüssel verlebte, doch noch einmal in meinem Leben zugute. Ich sagte dem jungen Japaner, daß ich mich seit einer halben Stunde vergeblich bemühe, dem Kuli klarzumachen, wohin er mich fahren solle – aber auch dieser hilfsbereite junge Mann war eine Niete. Sein Französisch, das so stolz einsetzte, ebbte ab. Es entsprach meinem Japanisch. Schließlich gelang es mir, ihm klarzumachen, daß ich vom Hafen aus den Weg finden würde. Wir stiegen in ein Auto und ließen uns zum Hafen fahren. Hier wußte ich Bescheid. Wir stiegen aus. Aber in der Dunkelheit glich eine Straße der andern. Es war wohl zwei Uhr nachts, als ich endlich vor diesem sogenannten Gasthaus stand. Der junge Japaner sah mich erstaunt an. Es schien ihm mehr als unwahrscheinlich, daß ich hier wohnte. In seiner Schuld – denn wie lange Zeit brauchte er, um in seinen Stadtteil zurückzukehren – wollte ich mich in irgendeiner Form erkenntlich zeigen. – Ich sprach es aus. Er verstand mich nicht. Ich wurde deutlicher und griff in die Tasche. Da ging der bis dahin zuvorkommend bescheiden Sanfte aus sich heraus und tobte nun in Japanisch auf mich ein. Wieder liefen Menschen zusammen. Aber der Charakter dieses Auflaufs, obschon es weit weniger Menschen waren, war bedrohlich. Ich weiß nicht, was er ihnen erzählte. Er wies auf mich und auf das Haus – und sie waren sich sämtlich einig, daß ich ein ganz gemeiner Mensch war. Ich versuchte auf englisch, französisch, deutsch mich verständlich zu machen. Diese Nachtschwärmer verstanden natürlich keine Silbe. Ich riß mein kleines japanisches Vokabular aus der Tasche und rief ihnen zu: »Irrtum!« – Sie[[1]] grölten noch lauter. – Da wurden von innen die Fenster der Gaststube aufgerissen. Qualm, Dunst und Grammophonklänge drangen heraus. Gesichter von Sake- und Whiskytrunkenen füllten die Fensteröffnung. Ich hatte hier am Nachmittag einen Gast Englisch sprechen hören. Ich drang auf ihn ein, bat ihn, die Leute aufzuklären. Aber der war längst hinüber und verstand mich nicht. Er kletterte wie ein Affe auf einen Stuhl, stieg durch die Öffnung, zog den Stuhl nach und schlug damit wie wahnsinnig auf die Japaner ein. Andere stiegen nach. Die Japaner setzten sich zur Wehr. Es entstand eine Rauferei, bei der es Blut und ernst Verletzte gab. Pfiffe schrillten durch die Luft. Ein Aufgebot der Polizei trieb die Kämpfenden mit Gummiknüppeln auseinander. Ein besserer Japaner, der abseits stand, wies auf mich. Zwei Polizisten traten auf mich zu und gaben mir zu verstehen, daß ich ihnen zu folgen hätte. Die Aussicht, den Rest der Nacht und darüber hinaus – denn wer kannte den Instanzenweg der japanischen Justiz? – festgehalten zu werden, war an sich schon entsetzlich. Aber im Hinblick auf mein Schiff, das aller Wahrscheinlichkeit nach heute einlief und vielleicht ein paar Stunden später wieder abfuhr, war ich der Verzweiflung nahe. – In dem Polizeibureau wurde ich von den Polizisten, die auf meine[[Besitz]] Versuche, ihnen den Fall zu erklären, höflich lächelten und zu erkennen gaben, daß sie mich nicht verstanden, in ein hellerleuchtetes Zimmer geführt, in dem ein höherer Beamter saß. Die Polizisten erstatteten Bericht. Ich sah, wie das Gesicht des Beamten immer ernster wurde. Er fragte etwas. Ich nahm an, daß er meine[[Besitz]] Personalien wissen wollte. Es war das erste und das letzte Mal in Japan, daß ich meinen[[Besitz]] Paß benötigte. Er las – und mir schien, sein Erstaunen wurde noch größer. Er trug den Namen in ein großes Buch ein – ich war in Japan damit verewigt. Er war sehr höflich. Auch jetzt, als er den Beamten den Auftrag gab, mich abzuführen – mein Fall sollte natürlich am Tage erledigt werden – tat er es mit einem Ausdruck des Bedauerns. Ich zog mein Wörterbuch heraus und las ihm vor: »abreisen morgen Europa«. – Er überlegte, widerrief seinen Befehl, telefonierte, gab mir ein Zeichen, mich zu setzen – und nach wenigen Minuten erschien ein Herr in schwarzem Rock, der Deutsch (!) und Englisch sprach. Die Aufklärung des Falles dauerte keine fünf Minuten. Was interessierte, war lediglich, wie ich in dies Quartier gekommen war. Man gab mir zwei Beamte mit. Der japanische Boy, der öffnete, mußte den Wirt holen. Es war kein anderer als der Deutsche, dem ich mich am Vormittag im Hafen anvertraut hatte. Nun, ich hatte meine[[Besitz]] Revanche: Ich war ihm ein teurer Gast geworden. Auf der Straße lagen Stuhl- und Tischbeine, Scherben von Tellern und Gläsern – und das Zimmer, das ich nicht benutzt hatte, zahlte ich auch nicht. – Die Polizisten geleiteten mich in ein Hotel – es war inzwischen schon wieder hell geworden – und ich genoß die Ruhe, Reinlichkeit und den Komfort, als wäre ich aus der Wildnis nach Europa zurückgekehrt. Das Überraschende an diesem Erlebnis war die Lösung. Der Polizei-Interpret gab sie mir. Der junge Japaner war ein Student gewesen und hatte geglaubt, als ich in die Tasche griff, um mich erkenntlich zu zeigen, daß ich ihn zu unsauberen Zwecken mitten in der Nacht in das Quartier geschleppt hatte. Ich lachte laut auf. Das mußte mir passieren! Aber es wurmt mich noch heute, daß dieser junge, höfliche Mann diesen schlechten Eindruck von mir mitnahm. – Ich wünsche keinem meiner Landsleute, daß er ihm spät abends in Kobe begegnet und nach dem Weg fragt. Er wird es für einen deutschen Trick halten und ihm die Antwort nicht schuldig bleiben. Denn ich sah, wie er drei dieser Bassermann{{[Bas¬ser¬mann]}}-Gestalten aus meinem Gasthaus mit ein paar Schlägen k o schlug. Am Vormittag des nächsten Tages suchte ich als erstes wieder den Hafen nach meinem Steamer ab. Wieder vergebens. Ich ließ mich nach dem {{Ikuta Temple}} fahren, um wenigstens etwas von den Sehenswürdigkeiten dieser Stadt zu sehen und kam bei dem deutschen Generalkonsul vorüber. Ostermorgen. Es war alles geschlossen. Ich versuchte von hinten hineinzukommen. Durch die Küche in einen Flur. Japanische Bediente geleiteten mich weiter und ich stand plötzlich vor einem Japaner, der sich höflich verbeugte. Es war der Generalsekretär. Gesegnet sei sein Name – den ich trotzdem verschweige. Es könnte seiner Karriere hinderlich sein. Denn selten zuvor sah ich in irgendeiner Botschaft oder in irgendeinem Konsulat der Welt einen Mann von dieser geistigen Beweglichkeit. Er sprach und schrieb Englisch wie ich. Aber das tun auch andere. Er begriff sofort, worauf es ankam. Er stellte trotz des Feiertags in wenigen Minuten fest, daß mein Schiff tatsächlich fahrplanwidrig schon seit Sonntag früh um sechs Uhr – vermutlich aus Furcht vor Erdbeben – aus Kobe fort war, heute früh bereits Moji {{[Moji]}} verlassen habe und – nach Angaben eines Beamten des Lloyd[[1]], den er Gott weiß wo aufstöberte – in Schanghai vermutlich nur zwei Tage bleiben werde, da es Ladung in Bombay und Carachi {{[Ca¬ra¬chi]}} erhalte. – Was nun? – Es dauerte keine zwei Minuten, da war nach Nagasaki mit telegrafischer Rückantwort auf der {{Na¬ga¬sa¬ki Ma¬ru}} eine Kabine für mich bestellt, zehn Minuten später hatte ich meinen[[Besitz]] Schlafwagen nach {{Schi¬mo¬no¬se¬ki}} und in wenigen Stunden einen japanischen Begleiter, der bei der Umständlichkeit der Reise dafür zu sorgen hatte, daß ich richtig ein- und umstieg und in Nagasaki, wo ich die zweite Nacht blieb, am darauffolgenden Morgen auch auf das richtige Schiff kam. Die Zeit war mehr als knapp. Von Kobe bis Nagasaki waren etwa achtzehn Stunden. Dort verlor ich eine Nacht. Aber die japanischen Schiffe fuhren in vierundzwanzig Stunden nach Schanghai. Wir durften damit rechnen, daß der italienische Steamer sechsunddreißig bis achtundvierzig Stunden brauchte. Nach unserer Berechnung kam ich in Schanghai ungefähr zur gleichen Zeit an, zu der mein Schiff dort abfuhr. Die Aussichten waren nicht rosig, aber die vornehme und sichere Art dieses Japaners hatte etwas unendlich Beruhigendes. – Ich nutzte den Tag, sah {{Ika¬riya¬ma}}, den {{Mi¬na¬to¬ga¬na}} Park und den Wasserfall {{Nu¬no¬bi¬ki-¬taki}}. Aber meine[[Besitz]] Nerven waren gespannt bis zum Springen. Aufnahme- und Genußfähigkeit beengt. Ich schlenderte durch {{Sa¬kae¬ma¬chi¬dori}}, kaufte in {{Mi¬na¬to¬ga¬na Shin Kai¬chi}} sinnlose Spielereien und ertappte mich dabei, daß meine[[Besitz]] Gedanken nicht mehr bei der Jagd hinter meinem Steamer auf der Fahrt nach Schanghai, sondern längst wieder bei Hana in Tokio waren. (Bild 39) (Bild 40) Um zehn Uhr abends reichte ich aus meinem Schlafwagen heraus dem japanischen Sekretär die Hand. Derart kräftig, daß er in Kniebeuge ging. So dankbar war ich ihm. Der Begleiter, den er mir gestellt hatte, war ein junger Japaner Anfang der Zwanziger, der, ehemals auch am deutschen Konsulat angestellt, beim Abbau aber entlassen worden war. Auch er besaß natürlich Höflichkeit und Takt, wie man sie bei uns so selten findet. Im Gegensatz zu den scheußlichen amerikanischen {{Pullman Cars}}, die von Tokio nach Kobe fahren, waren die Schlafwagen von Kobe nach {{Schinovischi}} wie kleine Zimmer in einem peinlich sauberen Hotel. Zwar ohne Waschgelegenheit, aber mit einem Bett, daß man sich wie zu Hause &&c=8 fühlte. &&c=0 Und ein Boy, der mit einer Ruhe bediente und einem die Schuhe anzog, daß es war, wie man es sich zu Hause &&c=8 wünschte. &&c=0 Am Dienstagmorgen bei hellstem Sonnenschein wieder ein japanisch-amerikanisches Intermezzo. Diesmal im Schlafwagen. Der hat am vorderen Ende zwei durch Gardinen verdeckte Waschnischen. Natürlich nur für die Schlafwagenreisenden. Als ich gegen acht Uhr hinausgehe, um mich zu waschen, stehen die Japaner den Flur entlang an. Hinter beiden Gardinen reges Leben. Hin und wieder trifft die Vorderen über die kaum mannshohe Gardine hinweg ein Spritzer. Wir stehen und stehen und warten geduldig. Hinter den Gardinen ist es inzwischen ruhig geworden. Sind die Japaner, die sich dort so leidenschaftlich wuschen, eingeschlafen? Ich, der einzige Nicht-Japaner, sage auf englisch: »Ich will doch mal sehen.« – Ich schlage rechts die Gardine zurück: ein Amerikaner rasiert sich. – Ich schlage links die Gardine zurück: ein zweiter Amerikaner rasiert sich. Beide mit einer Ruhe, als wenn sie an einem Sonntagvormittag in ihrem home wären. Beide gehörten, das wußten auch die Japaner – nicht in diesen Schlafwagen erster; sie reisten in einem ganz anderen Wagen zweiter Klasse. Das aber hinderte sie nicht, beide Waschgelegenheiten den ganzen Morgen über mit Beschlag zu belegen. – »Lassen Sie[[1]] sich das gefallen, meine[[Besitz]] Herren?« fragte ich. Und ein Japaner erwiderte: »Wir sind das gewöhnt.« Die übrigen, soweit sie Englisch verstanden, nickten. »Wir nicht,« sagte ich und fuhr die Amerikaner an, sich hinzuscheren, wo sie hingehörten und sich sonstwie und -wo zu rasieren. Sie[[1]] überlegten wohl und zählten, wieviel Japanern sie gegenüberstanden. Sie[[1]] zerquetschten irgendein Schimpfwort zwischen den Zähnen, das ich aber nicht verstehen wollte, und zogen ab. Die Japaner bestanden darauf, daß ich mich vor ihnen wüsche. Es gab ein sehr nettes Hin und Her. Ich trat das mir angetragene Vorrecht an einen sehr alten japanischen Herrn ab, der so ziemlich als letzter stand. Ich tat es sehr bewußt, wobei ich mir klar war, daß ich damit ihrem Empfinden nahe kam. Es kostet so wenig Mühe, sich im Ausland Sympathien zu erwerben, ohne daß man sich etwas zu vergeben braucht. Als ich eine Stunde später den Zug verließ, grüßten sie alle tief und wiederholten die Verbeugung, als ich mich schon im Bahnhofsgebäude noch einmal umsah. Hier erschloß sich mir ein neues Panorama, das an Pracht und Herrlichkeit alles, was ich bisher sah, übertraf. Der See mit Moji lag vor mir. In hellstem Sonnenschein. Wieder diese von den herb ansteigenden Bergen gemilderte Süße! – Man kann sich nicht satt sehen. Ein alter Japaner, wohl ein Mann dieser Gegend, ein Bauer oder ein Arbeiter von der großen Zementfabrik drüben in Moji – der meine[[Besitz]] Ergriffenheit sieht und, was mehr ist, versteht, sagt stolz, als sei all die Herrlichkeit sein: »Nicht wahr, das ist schön!« – Ich hätte es auch verstanden ohne die Übersetzung meiner Begleitung. – Jetzt, als wir vom Bahnhof {{Schi¬mo¬no¬se¬ki}} aus auf die große Fähre steigen, um über den See zu setzen und nach dem Bahnhof von Moji zu gelangen, wo der Zug nach Nagasaki schon bereitsteht, nimmt mich mein Begleiter bei der Hand. Und die Japaner staunen über die Hilflosigkeit des Europäers, der hier noch selten auftritt. Ganz in die Schönheit der Landschaft versunken, sehe ich vor mir im Hafen ein Schiff aufsteigen, das – mein Steamer sein könnte. Ich verständige meinen[[Besitz]] Begleiter. Der den Führer der Fähre. Der weiß nur, daß es ein Italiener ist. Meine[[Besitz]] Chance steigt. – Hat denn kein Mensch ein Glas bei sich? – Die Fähre hält. Die Masse Mensch strömt von der Fähre auf den tiefen breiten Steg, der rechts zum Bahnhof, links zur Stadt führt. Ein Träger hat schon in {{Schi¬mo¬no¬se¬ki}} meine[[Besitz]] Koffer genommen und in den Zug nach Nagasaki verstaut. – Da! der Brückenwärter hat ein Glas. Her damit! Ich stelle ein. Ich kann nur den ersten Buchstaben erkennen. – Hurra! es ist ein F! – Und das in der Mitte ein U. – Kein Zweifel mehr! Es ist mein Schiff! – Zum Überfluß stürzt jetzt ein Japaner auf mich zu. »Sind Sie[[1]] …?« – »Ja, ich bin's!« – »Mr. Landsberger?« – »Ja doch, ja!« – »Dann schnell, das Schiff fährt in zehn Minuten ab.« – »Meine[[Besitz]] Koffer sind …« – »Ich hole sie,« sagt mein Begleiter. Der Japaner ist der Agent des Lloyd[[1]] in Moji. Er hat einen Brief für mich. Jetzt ist keine Zeit, ihn zu lesen. – Schnell in ein Motorboot. – Mein Begleiter und ein Träger kommen mit meinen[[Besitz]] Koffern gerannt. – Aus dem Schornstein des Italieners steigt der Rauch pechschwarz zum Himmel hoch. – »Schlimmstenfalls fahren wir hinterher!« scherze ich. Das Motorboot fährt. – Ich winke meinem Begleiter zu. Er erwidert durch tiefe Verbeugung. – Bevor wir zu dem Steamer fahren, müssen wir zum Zoll. – Nicht meiner Person wegen. – Die Bewegungsfreiheit der Menschen ist in Japan gewährleistet. Genau wie in China. Im Gegensatz zu Europa. Aber was im Gegensatz zu Japan in China nicht gewährleistet ist, ist die Sicherheit! – Aber Ausfuhrkontrolle gibt es auch hier. Das erfordert die Selbsterhaltung. Also zum Zoll. – Ein Zolloffizier hat vom Ufer aus den Vorgang beobachtet. Als wir auf etwa fünfzig Meter heran sind, winkt er ab und gibt die Fahrt frei. – Stolz fahren wir auf den Steamer zu. Hallo empfängt uns. Es fehlen noch zwei Minuten an zehn. Die Leiter hinauf. Begrüßung. Wiedersehen. – Das Abfahrtssignal. Wir verlassen Moji. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Das Schiff ist leer. Wer von Japan nach China fährt, benutzt japanische Schiffe. Entgegen der vorgeschriebenen Reiseroute fahren wir nach Nagasaki. Die Ladung, die wir dort nehmen, ist gering. Unser Aufenthalt daher nur auf wenige Stunden berechnet. Aber für den Nichtkundigen birgt die Schiffahrt in den japanischen Gewässern große Gefahr in sich. Hinsichtlich der Klippen sind selbst die besten Karten nicht absolut zuverlässig. Kein Wunder, wo die vulkanische Erde fortgesetzt das Bild verändert. Das Tempo, in dem wir fahren, ist dementsprechend. Der Commandante verläßt auch nachts nicht die Kommandobrücke. Trotz seiner Jahre. – Im Hafen von Nagasaki liegen riesenhafte japanische Schiffe, die alle so sauber gehalten sind, daß sie aussehen, als seien sie neu. Ich bedauere fast, um den Genuß gekommen zu sein, auf der {{Na¬ga¬sa¬ki Ma¬ru}} von hier nach China zu fahren. Neugier treibt mich im Hafen an Bord eines dieser Schiffe. Der Japaner in Kobe hatte mir in japanischer Schrift eine Empfehlung an den Kapitän und den Maestro mitgegeben. Dementsprechend war der Empfang. Man begnügte sich nicht damit, mir das Schiff mit allen seinen Einrichtungen zu zeigen, man bewirtete mich und lud mich ein, als Gast in einer der besten Kabinen mit nach Schanghai zu fahren. Ich versprach, wenn möglich, meine[[Besitz]] nächste Reise von London aus auf einem dieser Schiffe zu machen. Der erste Offizier begleitete mich gegen Abend auf dem Motorboot zu meinem Steamer. Ich saß kaum eine Viertelstunde mit ein paar Italienern beim {{Mah-Yongg}}, dem besten Veronalersatz für Menschen, die an Schlaflosigkeit leiden, als ein Motorboot mit vorschriftswidrig abgeblendeten Lichtern auf unser Schiff zufuhr. Der zweite Offizier hatte es in dem Augenblick, in dem der Scheinwerfer des Leuchtturmes es traf, gesichtet. – Welche verwegene Fahrlässigkeit! Wir sprangen auf und stiegen die Treppe hinunter. – Unser Schiff lichtete eben die Anker. Die Maschine war im Begriff, sich in Bewegung zu setzen. Man erkannte in der Dunkelheit nichts. Bewundernswert die Geschicklichkeit des Mannes am Steuer. Das Boot glitt eben in verlangsamtem Tempo parallel unserem Schiffe an der Hängetreppe vorbei. – »Einer ohne Urlaub,« meinte ich. Aber der Offizier neben mir erwiderte: »Wegen unerlaubten Urlaubs riskiert niemand sein Leben.« – »Also?« frage ich. – »Jemand, der sich an Bord schmuggelt!« – Jetzt, als das Ende des Bootes an der Falltreppe vorüberglitt, sprang jemand heraus und kletterte mit der Behendigkeit eines Affen die Treppe hinauf. Die Wache des Schiffes rief: »Halt!« – Die in schwarzen Mantel mit Kapuze gehüllte Person blieb stehen, sagte irgend etwas und stieg dann ungehindert weiter die Treppe hinauf. Wir ihr entgegen. Wir standen zehn Schritte von ihr entfernt im Dunkeln – da warf sie den Mantel zurück und – warf sich mir an den Hals. Ich wußte noch immer nicht, wer es war. So fern war mir der Gedanke an – Beatrice. – Erst als sie aufatmend rief: »Endlich!« – erkannte ich ihre Stimme und brachte vor Staunen nur das Wort heraus: »Du?« Sie[[1]] ließ mich los; der Zweite Offizier half ihr aus Mantel und Pelerine – und vor uns stand die elegante, schöne Frau. Blaß, müde und, wie mir schien, schmaler als vor Tagen in Tokio, ehe sie mich verließ. Ich rede mir ein, nicht ungewandt zu sein. Ich habe mich schon in Situationen zurechtgefunden, in denen eine von früher her mir bekannte Person plötzlich als ein neuer Mensch auftrat, der nicht gekannt sein wollte. Auch Situationen, in denen das Gegenteil der Fall war, wo Frauen, die ich nie gesehen hatte, plötzlich auftraten und verlangten, wie jahrelange Bekannte behandelt zu werden, hatte ich gemeistert. Hier aber folgte einem Rätsel, über dessen Lösung ich dadurch, daß Hana in mein Leben trat, nicht einen Augenblick lang nachgedacht hatte, ein neues, das Beatrice mir aufgab. Was trieb sie wie einen Verbrecher in letzter Minute auf dies Schiff? Kam sie als Gräfin Beatrice, als meine[[Besitz]] Frau, als meine[[Besitz]] Geliebte oder in einer neuen Gestalt? Flüchtete sie? Vor[[Präpos]] wem? Zu wem? – Nur auf die letzte Frage gab es eine Antwort: zu mir! Unser Schiff setzte sich langsam in Bewegung. Das Motorboot war nicht mehr zu sehen. Beatrice stand an mich gelehnt, kehrte der Stadt den Rücken und sagte erschöpft: »Einen Kognak, bitte!« Der Zweite Offizier gab dem Maestro, der am Reling lehnte und tat, als ob er aufs Meer sah, in Wirklichkeit uns aber beobachtete, ein Zeichen, und der gab es an einen der Stewards, die in einiger Entfernung standen, weiter. Ich vermied es absichtlich, zu fragen. Außer dem Offizier und dem Maestro standen noch ein paar Italiener so nahe, daß sie hören mußten, was wir sprachen. Das sah auch Beatrice. Sie[[1]] schien völlig erschöpft. Der Steward kam mit Glas und Flasche. Beatrice goß ein Glas herunter, ein zweites, ein drittes. Die Lichter der Stadt verschwammen im Nebel. Die Maschine des Schiffes arbeitete schneller. – Beatrice fragte – so laut, daß alle es hören mußten: »Was hättest du getan, wenn ich das Schiff versäumt hätte?« »Ich weiß es nicht.« »Wärst du ohne mich gefahren?« »Ich glaube,« sagte ich zögernd. »Ein netter Mann!« – Sie[[1]] wandte sich an den Offizier. »Finden Sie[[1]] nicht? Vor[[Präpos]] einer Woche haben wir geheiratet und schon kümmert er sich nicht mehr um mich.« Sie[[1]] steckte mir ihren Paß zu. Der Offizier fragte berechtigterweise: »Von wo kamen gnädige Frau denn im letzten Augenblick in diesem Gespensterboot?« »Das lassen Sie[[1]] sich von ihm erzählen,« erwiderte sie. Ich sagte mechanisch: »Sag du!« – Denn ich fühlte, wie ich blaß wurde und meine[[Besitz]] Knie zitterten, als ich den Paß aufschlug und las: »Beatrice Landsberger, geborene von Horst, aus Baden in Deutschland.« – Dahinter ein chinesisches, ein englisches und deutsches Visum – mit Stempeln, Marken und Unterschriften. Beatrice aber erzählte: »Das ist sehr einfach: Da mein Mann in einem halben Jahre zu Studienzwecken nach Japan zurückkehrt, so wollte er mir die Mühe der doppelten Reise ersparen und brachte mich bei einer befreundeten Familie in Osaka unter. – Ich riß aus. Teils weil es mir nicht gefiel, teils aus dem Wunsch, bei meinem Mann zu sein.« Beatrice fand Glauben und Beifall. Ich aber fühlte ein starkes Unbehagen. – Ich ließ ihr eine Kabine anweisen. Es stellte sich heraus, daß das Motorboot außer ihr noch einen kleinen Koffer mit den nötigsten Sachen ausgeschifft hatte. Der Gong läutete zum Abendessen, das der späten Abfahrt wegen ausnahmsweise serviert wurde. Ich spürte keinen Appetit und blieb an Deck. Es war mir unbegreiflich, daß ich die ganze Zeit über nicht einmal auf den Gedanken gekommen war, in Beatrice eine Hochstaplerin ganz großen Formats vor mir zu haben. Ich ging noch einmal alle Situationen durch. Beatrice hatte meisterhaft gespielt. Wie vor allem hatte ich das Märchen von den amerikanischen Missionaren glauben können? Aber hatte sie nicht Belege? Geld, Empfehlungen, Pläne? Von Leuten, die mir mehr, als nur dem Namen nach bekannt waren. Sie[[1]] hatte auch die hinters Licht geführt. – Alles ging jetzt bei mir durcheinander. Ich fand für alles eine Erklärung. Das einzige, was mir hätte auffallen sollen, war ihre Abneigung, sich fotografieren zu lassen. In der Tat, ich besaß kein Bild von ihr. Niemand besaß eins. – Aber teilte sie auch nicht diese Abneigung mit vielen? – Freilich: einer Frau, die aussah wie sie, und sich nicht fotografieren ließ, war ich in meinem abwechslungsreichen Leben noch nicht begegnet. Ich erinnerte mich, sie auch einmal danach gefragt zu haben. »Ich werde häßlich auf Bildern,« hatte sie geantwortet. War das kein ausreichender Grund? Ich kenne sehr viele hübsche Frauen, die sich schlecht fotografieren und die man daher eher zu einem Ehebruch als vor den Photografenkasten bringt. – Nein! diese Frau spielte ihre Rolle meisterhaft, und ich wußte auch jetzt noch nicht, welche. Der Liegestuhl, auf dem ich saß, stand vor dem offenen Fenster des Diningraumes. Ich konnte deutlich die Stimme eines jeden unterscheiden, wenn ich auch nicht alles verstand, was gesprochen wurde. Plötzlich brach das Gespräch ab. Ich hörte Beatrices Seidenrauschen. Sie[[1]] wünschte guten Appetit. Alle dankten. Sie[[1]] setzte sich. »Wo ist mein Mann?« hörte ich sie fragen. – Dann war es wieder ein Durcheinander von Stimmen. Ich dachte über meine[[Besitz]] Lage nach. Es war natürlich, daß ich einer Frau in einer Bedrängnis beistand; zum mindesten sie nicht desavouierte. – Ob ich ein Recht dazu hatte, sie nach dem Grund ihrer Bedrängnis zu fragen, wird der Engländer anders beurteilen als der Italiener; der Franzose anders als der Amerikaner. – Ein Anrecht darauf schien ich daraus herleiten zu können, daß sie mit einem falschen Paß als meine[[Besitz]] Frau auftrat. Mich der Beihilfe an einem Verbrechen – noch dazu in einem fremden Erdteil – schuldig zu machen, spürte ich keine Neigung. Auch nicht der Begünstigung. Mochte ich mit diesem Mangel an Opferfreudigkeit gegenüber einer schönen Frau mich auch von dem Ehrenkode eines Gentleman entfernen. Soviel Recht auf Selbsterhaltung leitete ich ganz einfach aus meiner Liebe zu Hana her. Ich redete mir einfach ein, daß ihre Liebe genau so groß und ernst sei wie die meine[[Besitz]]. Kam ich also ins Unglück, so riß ich auch sie hinein. Die Rücksicht auf eine Frau, die mir näher stand als Beatrice, legte mir geradezu die Pflicht auf, Klarheit zu schaffen. Als sie nach dem Diner in bester Stimmung aus dem Saal trat, reichte ich ihr artig den Arm und führte sie in ihre Kabine, die ich hinter mir verschloß. »Aha,« sagte sie, »das Verhör.« »Erraten!« »Daß ihr Männer doch alle so kleinlich seid. Verdirb dir doch nicht den Geschmack! So bleibe ich dir ein rätselhaftes Erlebnis, bei dem du dir alles mögliche Schöne denken kannst. Zwingst du mich aber zu reden, so geht die Poesie flöten und es legt sich dir ein bitterer Geschmack auf die Zunge, den du so bald nicht wieder los wirst.« »Du bist sehr klug, und ich glaube auch, daß du recht hast. Ich bin an sich auch wirklich nicht kleinlich. Ich würde auch die Gefahren, die mit diesem Abenteuer verbunden sind, nicht fürchten. Aber …« »Aber?« fragte sie. »Ich will dir mit Offenheit vorangehen. Es geschieht nicht meinetwegen.« »Sondern?« »Mit Rücksicht auf eine Frau.« »Du bist verliebt?« »Ich liebe.« »Eine Japanerin?« »Ja!« »Und derentwegen …?« – Beatrice verlor die Beherrschung und brach in helles Gelächter aus. – Sie[[1]] konnte sich gar nicht beruhigen. – Als sie sich ein wenig wieder in der Gewalt hatte, fragte sie: »Ist es eine Geisha?« »Nein!« »Was denn?« »Das ist Nebensache.« »Ich möchte doch wissen, für wessen Liebe ich mein Leben lasse.« »Dieses Pathos steht dir nicht.« »Es ist nüchterne Wahrheit.« »Dann war also alles Theater?« »Du gefielst mir. – Aber ich hätte mich genau so benommen, wenn du mir nicht gefallen hättest.« »In Yokohama die Geschichte mit der Ehe – was bedeutete das?« Beatrice lächelte, wie mir schien, etwas höhnisch. »Mein Leben an deins zu ketten, war natürlich nicht meine[[Besitz]] Absicht.« »Was?« fragte ich. »Diese Bürgerlichkeit, die auch dir anhaftet – wenn auch weniger als den meisten. – Aber in einer vorübergehenden Verbindung lag für mich größere Sicherheit.« Ich begann zu begreifen. »Mit bürgerlich meinst du Bourgeois – stimmt das?« »Ja!« »Aus Überzeugung?« »Warum fragst du das?« »Antworte!« »Des Geldes wegen jedenfalls nicht.« »Du mußt Sensationen haben.« »Das muß ich. – Ein anderes Leben ertrüge ich nicht. Am liebsten täglich zwischen Leben und Tod.« »Also nicht aus Überzeugung zur Sache, der du dienst?« »Du bist nicht dumm.« »Wer bezahlt dich?« »Möglichst immer die Anderen.« »Du betrügst demnach.« »Betrug ist ein dehnbarer Begriff.« »Du nimmst den Amerikanern, bei denen du in London gesellschaftlich verkehrst, das Geld ab, unter dem Vorwand, in Asien Mission zu treiben, in Wirklichkeit aber …« »Wie klein! Wie eng! – Ich hatte dich überschätzt. – Du bist ja der geborene Untersuchungsrichter.« »Verzeih! Ich dachte nur laut. – Natürlich sind diese Reflexionen kindisch.« »Wenn du es nur einsiehst.« »Sie[[1]] sind sogar dumm, weil sie das Gesamtbild stören. – Du bist ein interessanter Mensch.« »Albern, mir das zu sagen.« »Das ist beinahe schon Größe. Und ich wünschte, ich stände diesem Erlebnis – denn das bist du für mich – völlig frei gegenüber.« »Wie feige du bist.« »Ich sagte dir schon, ich habe in Tokio eine Japanerin …« »Komm mir nicht wieder mit dieser Dummheit.« »Für mich ist es das nicht.« »Wenn du wüßtest, wie dich das entstellt und dir jeden Ernst nimmt.« »In deinen Augen?« »Du sprachst mir eben Größe zu. Also muß dir auch mein Urteil gelten.« »Nicht in Fragen des Gefühls.« »Alles ist Gefühl. Deins erschöpft sich in Liebeslyrik.« »Wie kommst du darauf?« »Jeder Durchschnittseuropäer, der das erstemal nach Japan kommt, verliebt sich.« »Dann müßte es in Europa von japanischen Frauen wimmeln.« »Ich bitt' dich, die erste Seekrankheit spült das weg.« »Du schüttest das Kind mit dem Bade aus.« »Ich stelle nur fest, daß die vernünftigen Männer immer seltener werden.« »Und was du treibst – hat das Vernunft?« »Tempo hat es – und Format.« »Ist das alles?« »Ist das nicht genug? Emotionen vor allem, im Vergleich zu denen deine Verliebtheit ein Flohstich ist.« »Ich gebe zu, daß in deiner Auffassung vom Leben mehr Größe liegt.« »Und es reizt dich nicht, diese Größe auch in dein Leben zu legen?« »Ich fürchte, man kann sie nicht legen, man muß sie haben.« »Versuche es.« »Es reizt mich schon. – Aber dazu müßte ich wissen, was es ist.« »Du weißt es ja.« »Nicht bestimmt genug.« »Sondern?« »Ich weiß nur, daß du nicht im Dienste der Mission, sondern des Bolschewismus stehst. Der aber ist nicht meine[[Besitz]] Weltauffassung.« »Meine[[Meinung]] auch nicht.« Ich traute meinen[[Besitz]] Ohren nicht. »Ja, verstehst du denn noch immer nicht? Ich suche die Gefahr! Ich begreife nicht, daß nicht Millionen Menschen in Arbeit, Essen, Kleidung und Zerstreuungen erschöpft, die immer gleich kindisch sind und zu denen auch die Liebe gehört, vor Langeweile sterben.« »Was sollte es dagegen für ein Mittel geben?« »Die Liebe zu einer Geisha nicht. – Wohl aber das Spiel mit dem Leben. – Nach Möglichkeit täglich wiederholt. Immer in anderer Form. Das wird nie langweilig. Das spannt die Nerven in jeder Stunde aufs neue.« »Und endet?« »Ganz gewiß nicht mit Arterienverkalkung.« »Mit dem Galgen.« »Ist das vielleicht keine Sensation? Ich für meine[[Besitz]] Person werde es im gegebenen Falle vorziehen, Gift zu nehmen.« »Also stündliche Bereitschaft.« »Ja, mein Lieber, für Leute, die das Leben noch nicht überwunden haben und die in der Liebe und im Bridge die genügende Zerstreuung finden, ist das freilich keine Beschäftigung.« »Ich fühle das nach. Aber es ist doch unmöglich, sein Leben für etwas aufs Spiel zu setzen, was gegen die Überzeugung geht.« »Das ist ganz klein gedacht. Menschliche Überzeugungen sind allemal dumm. Für mich sind sie nur Mittel zum Zweck. Es wiederholt sich doch alles. Und die Menschen werden nicht klüger.« »Um wie du zu handeln, darf man kein Gewissen haben und nicht an Gott glauben.« »Das Gewissen ist ein Produkt der Feigheit und der Liebe, Gott ein Gegenspieler des Teufels. Der unterhält die Anspruchsvollen, jener alle, die an Gemüt leiden. Man muß nur verstehen, die Diagnose zu stellen.« »Sich selbst meinst du?« »Auch anderen. In dir erhoffte ich einen Weggenossen. Ich hatte den Eindruck, daß auch dir alles ein Spiel war, daß du nichts wichtig nahmst: weder die Menschen, noch die Reise, noch Andernfalls[[Asien]]. Mir sind die menschlichen Dinge viel zu unwichtig und zu langweilig, um mir ein Urteil über sie zu bilden. Auf die Urteilbildung folgt die Überzeugung. Überzeugung macht unfrei. Ich habe keine.« »So weit bin ich noch nicht.« »Bedauerlich für dich!« »Ich sehe, du bist mir weit voraus, und ich wünschte, ich könnte dir folgen.« »Dafür, daß du noch Überzeugungen hast, ist dein Benehmen mir gegenüber mehr als ritterlich.« »Es wird es bleiben.« Beatrice reichte mir die Hand, sah mich mit Augen an, wie ich sie nie zuvor an ihr gesehen hatte. Die Verstellungskunst dieser Frau war meisterhaft. Einen fast nichtssagenden Eindruck hatte sie die ganze Zeit über auf alle gemacht. Eine Frau, der man jede Dummheit, aber keinen eigenen Gedanken zutraute. – Es gab auf der Welt keinen Mann, der in sich diese Klugheit, Verstellungskunst und Tatkraft vereinigte. Mein Respekt vor dieser Frau war viel zu groß, als daß ich sie gefragt hätte, was sie zur Reise nach Japan und der fluchtartigen Rückkehr auf das Schiff veranlaßt hatte. (Bild 41) (Bild 42) &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="19._Kapitel" &&fa Neunzehntes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Die Reise nach Schanghai verlief ohne Zwischenfälle. Beatrice war eine liebevolle Gattin, um die mich Offiziere und Passagiere beneideten. Sie[[1]] schien heiterer als auf der Hinfahrt, aber im Gegensatz zu damals mit ihren Gedanken ganz wo anders. Auch fand sie allabendlich Gründe, bis tief in die Nacht aufzusitzen. Ich entnahm daraus, daß sie Unruhe litt und keinen Schlaf fand. Aber da sie zweifellos Gründe hatte, aus denen sie sich mir nicht erschloß – ich nehme an, es geschah aus Rücksicht –, so drang ich nicht in sie – so stark es ihr hin und wieder Bedürfnis schien, sich zu erleichtern. Bei aller Zurückhaltung Dritten gegenüber unterhielt sie sich öfters mit dem Radiotelegraphisten. Ich war überzeugt, daß dies Interesse nicht dem jungen Mann galt, der in jeder Hinsicht belanglos war. – Ich bin keine ängstliche Natur. Aber behaglich war mir als Ehemann einer Frau, die auf falschen Paß reiste und eine politische Agentin war, die vor nichts zurückschreckte, gerade nicht. Eines Abends fragte ich Beatrice: »Sage mir nur eins: dein Reiseziel.« »Glaubst du, ich habe ein Reiseprogramm?« »Du hattest es, als du nach Japan fuhrst.« »Erraten.« »Du hattest nie die Absicht, nach Siam zu gehen.« »Auch das ist richtig.« »Du kehrst also nach London zurück.« »Ich wünsche es mir.« »Hängt es nicht von dir ab?« »Zum Teil.« »Deutlicher willst du nicht werden?« »Nein! – In deinem Interesse.« »Ich dachte es mir.« »Ich bin tief genug in deiner Schuld.« Ich wehrte ab. Aber sie schien bewegt, fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte: »Es ist ein schweres Gefühl, anderen eine Verantwortung aufzuladen für das, was man selbst tut.« »Hast[[Besitz]] du mich denn irgendwie vorgeschoben?« »Auf Wort nicht. – Aber daß du mich hier deckst, ist gerade genug.« »Ich werde niemals eine Frau preisgeben.« Sie[[1]] hielt noch immer meine[[Besitz]] Hand, schien bedrückt und sagte: »Weißt du, was ich möchte? Mit dir ein paar Tage ganz losgelöst von allem irgendwo leben.« »Nichts leichter.« »Und deine Japanerin?« »Solange wir nicht zusammen sind, kann sie nichts dagegen haben.« »Hat sich die Liebe schon so weit abgekühlt? Ich sagte dir ja: sieh dich vor! Nichts ist der Liebe schädlicher als Seefahrt und Luftveränderung.« »Du läßt mir nicht viel Zeit, darüber nachzudenken.« »Das genügt. Du versprichst mir also, wenn ich bis Europa komme …« »Warum solltest du nicht?« »Ich hoffe ja auch. Aber man kann nicht wissen. Wir steigen dann in Venedig aus. Am Lido sind dann noch nicht viel Menschen – es ist noch kühl.« – Sie[[1]] fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Weißt du, ein paar Tage, das ist für meine[[Besitz]] Nerven genug – länger halt ich's nicht aus. Du verstehst das? – es richtet sich nicht gegen dich – wenn du dann bleiben möchtest und ich gehe fort – ich sage das lieber gleich – obschon es ja nicht sehr wahrscheinlich ist, daß ich bis Venedig komme – jetzt kommt Schanghai – neun Tage! nicht zu ertragen! – dann Hongkong, Singapore, Colombo, Bombay, Carachi! – wenn wir das hinter uns haben! – Aber bis dahin …!« »Du überschätzt deine Kräfte und ruinierst dich.« »Laß!« wehrte sie ab. »Es geht vorüber.« Der Erste Maschinist kam an uns vorüber. Wir waren schon im Fluß vor Schanghai. Der Lotse war an Bord. In zwanzig Minuten vielleicht waren wir im Hafen. »Willst du lieber auf dem Schiff bleiben?« fragte ich. »Aber nein! Ich möchte so schnell wie möglich an Land.« »Mit wem? Etwa mit mir?« »Mit wem sonst?« »Gib mir dein Ehrenwort, daß du in Schanghai keinerlei Geschäfte hast.« Sie[[1]] gab es mir. Ich sagte: »Ich habe keine Lust, eine Wiederholung von Tokio zu erleben.« »Ich schwöre dir, daß ich keinen Schritt tue.« »Also {{Astor-House}}?« »Bitte nicht. Es ist so laut und protzig. Laß uns ins {{Pa¬lace}} oder {{Ka¬lee}} gehen.« »Mir ist es völlig einerlei.« Beatrice krampfte plötzlich ihre Hand in meine[[Besitz]] und starrte auf den Fluß. »Das Polizeiboot,« sagte ich. »Wie in jedem Hafen.« »Schwöre, daß es in jedem ist.« »Das weißt du so gut wie ich.« »Sieh! wie gräßlich diese Menschen aussehen.« »Ich kann das nicht finden.« Zwei Beamte der Hafenpolizei kamen an Bord. »Komm!« sagte Beatrice. Wir gingen an den Beamten vorüber, die gar keine Notiz von uns nahmen. Eine halbe Stunde später waren wir im Kalee-Hotel. – Was mich an Schanghai reizte, war die verhältnismäßige Nähe von Hangchou. Dahin fuhren wir noch am Nachmittag desselben Tages und stiegen im {{New}} Hotel ab. Es war ein glühend heißer Tag gewesen. Trotzdem fuhren wir nach unserer Rückkehr in Schanghai noch in die alte Chinesenstadt, um ein paar {{Mah-Yonggs}} zu kaufen. – So europäisch ganze Teile Schanghais sind – konzentrierter als in der alten Stadt findet man chinesisches Wesen auch im Innern des Landes kaum. Freilich: sie alle, die hier wie ein großer Klumpen zusammengeballt arbeiten und leben – was man hier leben nennt: achtzehn Stunden Arbeit und zweimal am Tage ein Teller Reis und ein paar Stück getrockneten, übelriechenden Fisch –, haben sich in irgendeiner Form mit den Europäern gerieben. Ihnen allen, obschon sie mit tausend Mitteln versuchen, ihre Ware gerade an Europäer loszuwerden – die zwar auch die Preise selbst machen, sie doch aber an einem {{Yongg}}, der Arbeit von vier Tagen und Nächten, wenigstens einen oder zwei mexikanische Dollars verdienen lassen –, steht passive Resistenz gegenüber den Europäern auf dem Gesicht geschrieben. An Orten, an die kaum je ein Europäer kam, wird man angestaunt und ausgelacht, hier erregt man Gegendruck. Der Empfindsame spürt, wie sich in dem Chinesen innerlich alles auflehnt. Auch die vielen höflichen Worte des Chinesen, bei dem wir {{Mah-Yonggs}} erstehen, sind die Unehrlichkeit selbst. Für acht, zehn und zwölf mexikanische Dollars, also durchschnittlich fünfundzwanzig Mark, kaufe ich Stücke, für die man bei uns hundertsechzig Mark und mehr bezahlt. Wir steigen über eine Witwe, die mit ihren Kindern sechzehn Stunden lang an der gleichen Stelle schreiend auf der schmutzigen Gasse liegt, und müssen, um zu dem alten Tee[[1]]haus zu gelangen, Krüppel mit den ekelhaftesten Geschwüren zur Seite stoßen, um vorwärtszukommen. Die alte Holzbrücke zum Tee[[1]]haus scheint, genau wie damals, mit alten Lappen belegt zu sein. Alle paar Schritte liegt so ein lebloser Klumpen Tuch und verbreitet Pestgeruch. Ist man zwei Schritte davor, so bewegt er sich und ein knochiger Arm ohne Haut oder ein Gesicht, das so schmutzig ist, daß man nicht erkennen kann, ob es einem Manne, einer Frau oder einem Kinde gehört, lugt hervor. Wirft man nicht schnell einen Kupfer hin, so krauchen diese gewesenen Menschen – oder waren sie es nie? – an einen heran und versperren den Weg. – Ich fotografierte das Tee[[1]]haus. Genau wie bei meiner Hinfahrt, am Tempel sammelten sich Chinesen, und eine hübsche, junge Chinesin, die ein paar Worte Englisch sprach, bat, sie und ein paar Dutzend Chinesen, die bei ihr standen, mit auf das Bild zu nehmen. Ich tat's. – Nun aber streckten sich hundert Hände nach uns aus. Geld! schrien sie. Frech, zynisch, bedrohlich. Und die junge Chinesin reizte die Anderen in gehässiger Weise auf. Ein paar Chinesen traten drohend ganz dicht an uns heran. Ich hatte vor wenigen Minuten zwei etwa ein Meter breite Bildrollen gekauft. Ich hob eine und zerschlug sie auf dem Kopf eines der Chinesen, der eben den Arm gegen Beatrice erhob. Im selben Augenblick schrien sämtliche, etwa hundert Chinesen, auf und liefen davon. – Ähnliches: Vor[[Präpos]] der Station der Bahn nach Souchou–Hankau–Nanking standen etwa fünfzig Rikschakulis. Der vorderste hatte seinen Wagen wohl ein paar Handbreit über die vorschriftsmäßige Stelle hinausgeschoben. Der Polizist, ein Inder – man spricht nicht viel mit den Chinesen –, berichtigte ihn, indem er ihn mit seinem Gummiknüppel einen Schlag über den Rücken versetzte – daraufhin schlugen sämtliche fünfzig Rikschakulis zu Boden. Am Morgen des nächsten Tages fuhren wir nach Hangchou. – Wer wird {{Su-Tung-po}}, den Gouverneur und Dichter, der Hangchou besang, endlich ins Deutsche übersetzen? – Bitte, lieber Rainer Maria Rilke! Oder wer kann es sonst? Einst die größte Stadt der Welt, von der Perzynsky {{[Per¬zyns¬ky]}} himmelt: &&rl=5 &&rr=5 »Die Atmosphäre um den See herum ist geschwängert mit Erinnerungen an dieses Dichters Zeit, als man zum Takt der Ruderschläge die Bambusflöte blies, {{Sus}} Lieder anstimmte und die Kürbisflasche im Boot herumging, bis alles trunken war vom Wein, von der Schönheit {{Che¬kiangs}}, von den süßen und wehmütigen Tönen, die wie Seidenfäden über die blaßblaue Fläche des Sees hinflatterten. Als Hangchous Blüte, Venedigs Ruf überschattend, im Mittelpunkt der Erzählungen aller seefahrenden Abenteurer stand, die hierherströmten, um die Paläste, Gärten und Mausoleen kunstbegeisterter Kaiser, die zwölftausend Brücken der Lagunenstadt, die dreitausend öffentlichen von warmen Quellen gespeisten Bäder, die Kaufmannsgüter in den Basaren und das Leben in den Straßen zu bewundern, deren größte ebenmäßig wie der Boden eines Ballsaales und so breit gebaut war, daß neun Reisekarren nebeneinander darauf fahren konnten.« &&rl=0 &&rr=0 Zwar sind die Lagunen verschwunden und die Zahl der Brücken schrumpfte auf einhundertsechsunddreißig zusammen – aber schön, schön ist es auch heute noch. (Bild 43) (Bild 44) Die {{T'ai'ing}}, Chinas Wiedertäufer, haben das meiste vernichtet. »Im Namen Gottes und Christi« brannten sie im Mai 1862 neun Zehntel der Stadt nieder und brachten sechshunderttausend Menschen um. Es wird berichtet, daß man auf dem {{Hai hu}}, dem Fluß, an dem Hangchou liegt, einen halben {{Li}} hinaus auf Leichen wie auf einem Steg schreiten konnte. Und da die Kanäle mit Leichen verstopft waren, so ertränkten sich Frauen und Kinder im Westsee. – Aber im Jahre des Heils, 1924, mutet das beinahe harmlos an. Wenn man die Ruhe und Schönheit des {{Ling ying}}-Klosters genießt, glaubt man nicht, daß es je eine solche Zeit gab. Aber die Nähe von Yo feis {{[Yo feis]}} Grab mahnt nur zu laut an die Niedertracht der Menschheit, die überall, wo ihr Fuß die Erde berührt, die Natur entheiligt. Yo feis Fall ist zu charakteristisch für die – chinesischen Generäle, in deren Hand auch heute wieder Chinas Schicksal und darüber hinaus das der in China lebenden Fremden ruht, als daß ich ihn nicht erzählen müßte. Denn – ich sagte es schon mehrmals – Chinas Schicksal wird mitbestimmend für die Neugestaltung der Welt sein, die mit dem Weltkrieg ihren Anfang nahm und deren Ende Jüngere als ich miterleben werden. Zur Zeit ärgster Bedrängnis der Hauptstadt Hangchou durch die Tataren rettete Yo fei {{[Yo fei]}}, ein junger honasesischer {{[ho¬na¬se¬si¬scher]}} Bandenführer mit einer selbst gebildeten Truppe die Stadt und damit den {{Sung}}-Kaiser {{Kao tsung}}. Darüber hinaus schlug er das Mongolenheer entscheidend. Nach zehnjährigem Krieg im heutigen {{Kai¬feng fu}} in {{Ho¬nan}} eingeschlossen, war es dem Untergange geweiht. Als Yo fei eben den Vernichtungsschlag führen wollte, rief {{Ch' in Kuei}}, der Premierminister, ihn zurück. Der widersetzte sich. Aber der von seinem Minister falsch beratene Kaiser befahl. Der ersten kaiserlichen Rückberufungsorder folgte eine zweite, dritte. Bei der zehnten gehorcht Yo fei. Und die Mongolen eroberten alle Gebiete, die Yo fei ihnen abgerungen hatte, zurück. Der verzweifelte {{Kao-tsung}} wandte sich ein zweites Mal an Yo fei. Zum zweiten Male rettete er sein Land. – Jetzt setzte erneut Intrigenspiel {{Ch's in Kuei}} gegen Yo fei ein. Ein von ihm bestochener Gerichtshof warf ihn in den Kerker. Das Volk war beunruhigt. Von neuem drängten die Tataren. Da sandte {{Ch' in Kuei}} dem Kerkermeister in einer Orange, die sein Weib ausgesogen hatte, den Befehl, Yo fei zu erdrosseln. Der Kerkermeister gehorchte; mußte gehorchen, wollte er nicht selbst sein Leben verlieren. – Siege der Mongolen folgten. Kaiser {{Kao}} starb. Erst sein Sohn {{Hsias tsung}} brachte Licht in das Dunkel. {{Ch' in Kuei}} war von den Mongolen gekauft. Sein Weib die Geliebte des Tatarengenerals. Der Meuchelmord fand seine Sühne. Yo fei wurde ein Tempel am {{Hsi hu}} errichtet und seine Familie hochgeehrt. Das Sonderbare an dem Grabe, das man Yo fei errichtet hat, sind vier eiserne Bildsäulen, zwei zu jeder Seite, mit Gestalten, denen die Hände auf dem Rücken gebunden sind. Zur Rechten {{Ch' in Kuei}} und sein Weib, links Yo feis Richter. Oberhalb des Nabels ist jeder der Figuren in chinesischer Schrift der Name eingekratzt. Vor[[Präpos]] Yo feis Grab wimmelt es von Chinesen, Pilgern aller Art, Kranken, Verkrüppelten, Lahmen, Aussätzigen, Blinden. Die Formen, in denen die Chinesen noch heute, nach siebenhundertundfünfzig Jahren, den vier Verrätern ihren Abscheu zum Ausdruck bringen, spotten jeder Beschreibung. – Der Eifer könnte nicht leidenschaftlicher, die Form nicht ausdrucksvoller sein, ständen statt der vier Siebenhundertundfünfzigjährigen dort die Statuen der chinesischen Generäle, die heute in China gegeneinander kämpfen – nachdem sich herausgestellt hätte, daß ihre Motive keine edleren als die {{Ch' in Kueis}} und seiner Gehilfen waren. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Erst am übernächsten Tage fuhren wir nach Schanghai zurück. Beatrice sagte zu mir, als wir abfuhren: »Du hast mir meinen[[Besitz]] Wunsch nach ein paar Tagen Ruhe schnell erfüllt; ich fühle mich wie neugeboren.« Obschon Vergnügungsreisende in Hangchou meist auf dem Wasser liegen, waren wir immer nur den Blumen und Bäumen nachgegangen. Das Meer hatten wir zur Genüge genossen – und sollten es noch wochenlang genießen. – Ich hatte nach Hangchou, der Stadt der reichen Chinesen, ein paar Empfehlungen mit, von denen ich aber keinen Gebrauch machte. Wir sahen uns die Häuser und die Gärten an – vor allem aber die Grabmäler der wohlhabenden Familien, an denen Hangchou reicher ist als irgendeine andere Stadt in China. Als wir in Schanghai ankamen, ging Beatrice zum Coiffeur {{[Coif¬feur]}}, während ich die deutsche Buchhandlung aufsuchte und im Anschluß daran dem im ganzen Osten bekannten Restaurateur Neumann einen Besuch abstattete. Ein Berliner Original mitten in China. Ein paar freundliche Chinesen hatten ihm vor nicht langer Zeit seine Frau erschlagen. Der Krieg hatte ihm viel von seinem Glanz genommen. Aber er stand noch fest auf beiden Beinen und trotzte dem Schicksal. Er sprach von Abbau und Rückkehr nach Berlin. Er möge kommen! Wer in Asien bei Neumann aß, vergaß ihn nicht. Nach den Abfütterungen auf dem Steamer und in den internationalen Hotels nach Monaten wieder ein Essen wie zu Hause. Ich bedauerte, daß Beatrice nicht bei mir war. Sie[[1]] war auch noch nicht im Hotel. Mußte sie beim Coiffeur warten? War sie noch woanders hingegangen? – Ich dachte an Tokio. Koffer und Sachen lagen unberührt. Aber ich dachte auch an anderes. Unruhig ging ich hinunter ins Vestibül. Eine halbe Stunde verging. Beatrice kam nicht. Diesmal war ich in Sorge. Ich fragte den Portier. »Gnädige Frau kam vor etwa einer Stunde, trat ins Vestibül und kehrte sofort wieder um. Sie[[1]] sah flüchtig nach dem Brieffach – und verschwand dann schnell.« »Nicht möglich!« »Ich wunderte mich auch.« Ich sah zum Brieffach. Es war leer. Ich griff hinein und zog eine kleine Dose Chinin heraus. – Ich überzeugte mich, es war nichts darin als ein paar Tabletten dieses Medikaments. – Aber gekritzelt stand irgend etwas auf dem Etikett. Ich entzifferte mit Mühe: Phönix. Ich wollte den Portier fragen; überlegte es mir, ließ es. – Ich blätterte in dem Telefonbuch; fand es nicht. Ich ging – wie ich erst später wahrnahm, ohne Hut – aus dem Hotel, schob die Rikschakulis, die mich bedrängten, zur Seite und sprang in ein Auto. »Phönix,« sagte ich. Der Chauffeur verstand mich nicht. – »So fragen Sie[[1]],« fuhr ich ihn an und versprach hohen Lohn. Er fuhr zum nächsten Policeman. Der schlug in einem Buch nach, blätterte, schüttelte den Kopf. Sofort sammelten sich Leute. Ich schrie ihnen fragend Phönix ins Gesicht. Einmal. Noch einmal. So laut, daß immer mehr hinzukamen. Sie[[1]] stritten schon. Der wollte es kennen – ein Hotel im alten Chinesenviertel. »Unsinn!« wie sollte das zu dem Namen kommen. »Eine Stahlgesellschaft in der Nähe der Post,« sagte ein Anderer. – »Hin!« rief ich eben dem Chauffeur zu, als eine junge Chinesin, Arbeiterin oder Dirne, erklärte: »Ein Restaurant nahe beim Hafen.« – Nun kannten es plötzlich mehrere. In der Nähe der {{Yang¬tsze¬poo Road}}. – »Rasen Sie[[1]]!« trieb ich den Chauffeur. – Der Wagen flog. Polizisten zogen ihre Bücher. – »Ich zahle alles!« – Kinder schrien. – Nach wenigen Minuten standen wir vor dem Restaurant Phönix. – Ich springe heraus, rufe dem Chauffeur zu: »Warten!« – Das Lokal ist leer. Ein alter Chinese verbeugt sich, spricht aber kein Wort Englisch. Ich rufe den Chauffeur heran. Frage: (Bild 45) (Bild 46) »War hier vor einer Stunde eine europäische Dame?« Schütteln des Kopfes. »Brüllen Sie[[1]]! Schüchtern Sie[[1]] ihn ein!« rufe ich dem Chauffeur zu. Der geht ihm an die Kehle, würgt ihn. – »Nicht doch!« rufe ich und ziehe eine Geldnote aus der Tasche. Der Chinese hockt in den Knien und verdreht die Augen. Er redet irgend etwas Unverständliches. Der Chauffeur läßt ihn wiederholen und übersetzt: »Er sagt, bei ihm verkehrten keine Russen.« &&c=8 Also weiß er Bescheid. &&c=0 Ich werfe das Geld auf den Tisch. Der Chinese flitzt darauf zu. Der Chauffeur stellt ihm ein Bein. Er stolpert, fällt. – Ich verdoppele die Summe. – Er gibt dem Chauffeur ein Zeichen. Sie[[1]] verhandeln. Resultat: Bei ihm hätten Russen verkehrt. Drei, vier. Manchmal wären es auch mehr gewesen. Sie[[1]] hätten gut bezahlt und wenig verzehrt. Da sie mit den Chinesen nicht zusammensitzen wollten, so habe er ihnen nebenan serviert. Auch heute mittag. Da waren es fünf. Drei Damen und zwei Herren. Plötzlich sei ein Wagen vorgefahren – mit einer europäischen Dame. »Weiter! Weiter!« drängte ich. »Alle seien sehr erregt gewesen. Vor[[Präpos]] allem die Dame. Was sie gesprochen haben, habe er nicht verstanden. Gleich darauf fuhr wieder ein Auto vor – mit ein paar Herren. Englische Polizei. Sie[[1]] seien ins Lokal gestürzt – aber als sie in das Zimmer kamen, sei die Dame fortgewesen. Alle anderen waren noch da.« »Wo war sie hin?« Der Alte wußte es nicht. »Und die Anderen?« »Die kommen nicht wieder.« Ich wende mich an den Chauffeur: »Ich muß wissen, wo die Frau hin ist.« Der Chauffeur dringt wieder auf ihn ein. Er ruft nach unten. Eine chinesische Magd, gräßlich häßlich und unsauber, erscheint. Der Alte redet mit ihr. Sie[[1]] schüttelt den Kopf. Er wird bestimmter. Sie[[1]] gibt ihm ein Zeichen und er tritt an sie heran. Der Alte fährt zusammen. Das gelbe lederne Gesicht sieht jetzt wie eine Maske aus. »Reden soll er!« treibe ich den Chauffeur an. Aber der Chinese ist stumm, als habe er die Sprache verloren. – Der Chauffeur rüttelt ihn. Er schweigt. – Er taumelt gegen die Wand, als ihm der Chauffeur einen Tritt versetzt – und bleibt liegen. Auf mein Zeichen hin nimmt er das Mädchen beim Arm. Sie[[1]] folgt, ohne sich zu wehren. »Versprechen Sie[[1]] ihr zehn Dollars!« Das Mädchen sieht uns verklärt an. Der Chinese an der Wand kommt zu sich und müht sich hoch. Wir stürzen aus dem Lokal. Hinein in den Wagen. Das Mädchen setzt sich neben den Chauffeur und gibt die Richtung an. – Durch eine fürchterliche Gegend fahren wir. Parallel dem Hafen entlang. Der Chauffeur und das Mädchen reden miteinander. »Was ist?« frage ich und der Chauffeur erwidert: »Sie[[1]] ist bei einem Chinesen {{Foo Kee – Woo Kee}} oder so ähnlich.« »Woher weiß sie das?« »Sie[[1]] selbst hat sie hingebracht.« »Wer ist das?« »Er hat eine Sampan {{[Sam¬pan]}} – vermutlich also Hafendieb.« »Ist es weit?« Das Mädchen ließ gerade stoppen und in eine Gasse biegen, die aus verfallenden, vor Schmutz strotzenden Hütten bestand. Wüst, wüst ist das! ging es mir durch den Kopf. An der Straßenecke las ich: {{Che¬mul¬po Road}} – oder so ähnlich. – Chinesen, die Fetzen statt Kleider trugen. Der Wagen hält. Ich springe heraus. Ich stürze ins Haus. »Vorsichtig!« ruft mir der Chauffeur nach – und ist auch schon neben mir. – Das Mädchen schiebt uns zur Seite und geht voraus. – Ein ekelhafter Gestank schlägt uns entgegen. – Chinesen hocken auf der Erde und sortieren Lumpen. Das Mädchen fragt: »Wo ist die Dame?« Einer der Chinesen weist, ohne aufzusehen, zur Wand. Ich kann keine Tür entdecken. Aber plötzlich rufe ich, um nicht zu ersticken, laut: »Beatrice!« Ich erschrecke selbst vor mir. Der Chauffeur stürmt gegen die Wand. Eine Tapetentür stürzt ins Zimmer. Eine alte Chinesin hockt auf einer Kiste. Ein paar Strähnen weißen Haares fallen ihr in das zerfurchte Gesicht. Das Mädchen geht dicht an sie heran, flüstert ihr was ins Ohr und steckt ihr Geld zu. Sie[[1]] zählt nach und sieht uns mißtrauisch an. Ich weiß nicht, wie ich dazu komme – aber mir schießt es durch den Kopf: Schwarze Messe! – Ich sehe entkleidete Menschen – weiße und gelbe – in höchster Ekstase und irrem Taumel sich auf der Erde wälzen. Ich höre lärmende Musik und mir ist, als wenn vor mir leise, weiße Rauchwolken aufsteigen, die einen betäubenden Geruch verbreiten. Ich sehe Beatrice – splitternackt – auf ihrem Leib das Tabernakel. – Ich sehe die steigenden Dämpfe sich verdichten – ich sehe nichts mehr. – Als ich zu mir komme, liege ich hingestreckt im Auto. Blutend aus Mund und Nase. Der Wagen rast wie irre. Stoppt. Hält. Der Chauffeur springt ab. Öffnet. Hebt mich aus dem Wagen und führt mich in ein Haus. Ich bin bei einem Arzt. Einem Engländer. Er untersucht mich. Eine kleine Gehirnerschütterung infolge eines Schlages auf den Hinterkopf. Das ist alles. Eine Stunde Ruhe – und alles ist vorüber. Der Chauffeur mein Lebensretter. Während wir in der Stube bei der Alten standen, hatten die scheinbar mit dem Sortieren von Lumpen beschäftigten Chinesen sich erhoben, hereingeschlichen und uns von hinten überfallen. Aber der Chauffeur hatte sich zur Wehr gesetzt. Seine rechte Daumenwurzel war gebrochen, das linke Auge unterlaufen. Die Chinesen waren ausgerissen und hatten versucht, in dem Auto zu entkommen. Aber der Chauffeur war schneller. Als die Polizei kam, war das Nest leer. Die Zusammenhänge blieben völlig im Dunkeln. Als ich gegen Abend blaß wie der Tod und schwach wie ein Schwindsüchtiger ins Hotel kam, lag Beatrice auf der Chaiselongue {{[Chaise¬longue]}}. Stark beunruhigt über mein Ausbleiben. Sie[[1]] hatte durch einen Boy telefonisch in der Buchhandlung und im Hotel Astor nach mir geforscht und überlegte gerade, ob sie die Polizei in Anspruch nehmen sollte. »Du begreifst,« sagte sie. »Ich hatte Bedenken.« Sie[[1]] wußte von nichts. Weder von einer Glasröhre mit dem Stichwort Phönix, noch von einem Lokal dieses Namens. Sie[[1]] war vom Coiffeur aus noch einmal im Hotel gewesen, da sie ihre goldene Tasche auf der Frisiertoilette hatte liegen lassen, und war dann zum Tee[[1]][[Variante1]] ins Trocadero {{[Tro¬ca¬de¬ro]}} gefahren. Infolge innerer Unruhe, die sie sich selbst nicht erklären konnte, war sie bald wieder gegangen und lag nun – wie sie versicherte – seit über zwei Stunden auf der Chaiselongue und wartete auf mich. War es Egoismus und Selbsterhaltungstrieb? Oder entdeckte ich in mir plötzlich Grundsätze? – Ohne ihr zu erzählen, was ich erlebt hatte, ohne darüber nachzudenken, ob sie die Wahrheit sprach, sagte ich zu ihr: »Beatrice, denk über mich, wie du willst – verurteile mich, finde mich verächtlich – ich bin entschlossen, mich von dir zu trennen.« Der Ausdruck ihres Gesichts veränderte sich nicht im geringsten. Sie[[1]] blieb vollkommen ruhig. »Schade,« sagte sie. »Aber ich verdenke es dir nicht. Nur um eins bitte ich dich: geschieht es dieser Frau in Japan wegen?« »Ich gebe dir mein Wort darauf: nein! – Meine[[Besitz]] Nerven geben nach. Einzig und allein darum.« »Ich danke dir,« sagte sie und reichte mir die Hand. – »Und wann, meinst du, wollen wir die Trennung vollziehen?« »Du wirst es herzlos finden, wenn ich dir sage …« »Also gleich.« »Ja, Beatrice. – Wenn es dir recht ist, so nehme ich für dich eine Kabine auf dem Engländer, der morgen nach Genua fährt.« »Ich bin einverstanden. Je eher ich hier fortkomme, um so besser.« »Du hast Schwierigkeiten hier?« »Ja. – Und darum hätte ich den Vorschlag gemacht – wenn du mir nicht zuvorgekommen wärst.« »Kann ich noch irgend etwas für dich tun?« »Leider nicht. – Hier!« sie reichte mir ihren Paß. »Ich denke, es ist dir lieber.« »Und was machst du?« Sie[[1]] lächelte und sagte: »Es ist nicht der einzige.« »Auf welchen Namen wirst du jetzt reisen?« »Es ist besser, du weißt es nicht.« »Wenn ich dir doch die Kabine besorge.« »Ich werde es selber tun.« Ich warf den Paß ins Feuer und setzte mich zu ihr. Wir blieben bis zum nächsten Mittag zusammen, ohne das Hotel zu verlassen. Die Kabine bestellten wir telefonisch. – Auf Beatrices Wunsch sprachen wir nur von mir und meinen[[Besitz]] Plänen. Ich fragte sie nichts. Aber dann sprach sie doch von ihrer Jugend. Und ich mußte ihr versprechen, alles, was sie mir erzählte, als Geheimnis zu bewahren. Treu erfüll' ich's. Als ich mich am nächsten Tage von ihr trennte, wußte ich, daß mit ihr eine Persönlichkeit von mir ging, wie ich keiner zweiten im Leben begegnet bin. Welcher Mann war stark genug für diese Frau? Gab es einen? Ich kannte niemanden. – Ihr Geheimnis aber werde ich mit mir ins Grab nehmen. Leb wohl, Beatrice! Von allen Menschen, die ich kannte, warst du der einzige, der sich dem Schicksal nicht unterwarf. Ob du es auch meistern wirst? &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="20._Kapitel" &&fa Zwanzigstes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Die immerhin ungewöhnliche Art, auf die Beatrice in Nagasaki an Bord gekommen war, hätte den Durchschnittseuropäer, den der Zufall zum Zuschauer machte, vielleicht nachdenklich gestimmt. Auf dem Meer ist man vorurteilsfreier. Wenn vor der Einfahrt in den Hafen von Singapore ein Hai morgens den Taucher verschlingt, der von seinem kleinen Boot aus ins Wasser sprang, um ein Zehncentstück zu ergattern, so greift man, statt zu erschauern, in christlicher Nächstenliebe schnell nach dem Zeiß oder dem fotografischen Apparat, um diese allerliebste Szene beschaulich zu betrachten, oder als Reisesensationserinnerung festzuhalten. »Für die Platte zahlt mir jedes illustrierte Blatt in New York dreihundert Dollars,« sagt ein Amerikaner neben mir, und frühstückt gleich darauf mit doppeltem Appetit. Aber das war vor Singapore. Noch sind wir in Schanghai. Leider! Denn als ich jetzt wieder ohne Beatrice an Bord kam und erzählte, sie sei aus Furcht vor dem Monsun bei guten Freunden geblieben und warte dort meine[[Besitz]] Rückkehr im Spätherbst ab, da gab es erstaunte und enttäuschte Gesichter. Besonders bei den Offizieren, denen wohl jetzt erst die seltsame Art ihrer »Schiffsbesteigung« – so nannte es der erste Offizier – so recht zum Bewußtsein kam. Ich hatte jedenfalls das Gefühl, daß man mich mit ein wenig Mißtrauen betrachtete. – Das behob ich, indem ich einer geschwätzigen Italienerin erzählte, daß meine[[Besitz]] Ehe mit Beatrice wohl nicht kinderlos bleiben würde. – »Darum also!« rief sie erleichtert. Und schon am Abend desselben Tages betrachtete mich jeder auf dem Schiff als künftigen Vater. Ja, der Schiffsarzt, der deutlich genug gezeigt hatte, daß Beatrice nach seinem Geschmack war, sagte während eines Gesprächs über chinesische Silberarbeit ziemlich unvermittelt zu mir: »Wissen Sie[[1]], daß es für Frauen, die in Hoffnung sind, nichts Besseres gibt als die Meerfahrt?« – Ich überhörte es. Aber schon am nächsten Tage dachte niemand mehr an sie. Denn das große Motorboot des Lloyd[[1]] brachte die Passagiere an Bord. Ein ganzes Rudel. Mit Feuerwerk und – meine[[Besitz]] Ruhe ist hin! – Grammophon. Es gehört einer italienischen Familie, die aus Frau und drei Töchtern – achtzehn, sechzehn, zwölf Jahre alt – besteht. Auch sonst meist Italiener. Hübsche Frauen darunter. Ein Ehepaar von den Philippinen, ein paar Holländer, Engländer und Amerikaner. Ein Konsul aus Mexiko. Zwei Deutsch-Schweizer. Aber von Anfang an dominierend: das Grammophon und dessen Besitzerinnen. Um halb neun Uhr früh beginnt der Tanz an Bord, unterbrochen durch die Mahlzeiten und allerlei Spiele, made in Schanghai, also laut und aufdringlich. Ein Teil der Passagiere, darunter ich, treibt noch Obstruktion. Aber Laura, die Achtzehnjährige, wird sie bekehren. Sie[[1]] ist schön und klug und – wie mir scheint – voraussetzungslos. Am Vormittag spielen wir {{Deauille}}. Das heißt, wir laufen sozusagen nackt herum. In dem Schwimmbassin, das die Matrosen am Vorderdeck kunstvoll errichtet haben, wird unter Leitung des zweiten Offiziers eine allmorgendliche »Wasserpantomime« aufgeführt, an der sich die gesamte Jugend zwischen sechs und fünfzig Jahren beteiligt. Wir Außenseiter, die wir am Hauptdeck eine Etage tiefer noch immer den Versuch machen, Schach zu spielen, zu lesen oder gar zu arbeiten – ja, wovon glaubt ihr, daß ich lebe? – werden außer durch den Lärm alle paar Minuten durch einen Wasserstrahl, der sich von oben auf uns ergießt, unfreiwillig in das Spiel der Jugend hineingezogen. Da wir uns noch immer nicht den Verhältnissen angepaßt haben und Sachen auf dem Körper tragen, so werden wir voraussichtlich bald die Waffen strecken. Unsere Verdummung macht jedenfalls Fortschritte. Bald werden wir reif sein. Es gibt kein besseres Mittel der Verblödung, als Reisen dieser Art. Jeder geistige Mensch sollte sie mindestens einmal im Leben machen. Politiker vor allem. Der Deutsch-Schweizer freilich meint: »Unter den Politikern hat's keine.« Vor[[Präpos]] wieviel Torheiten, die der menschliche Geist gebiert, würde die Welt verschont bleiben! &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x In Hongkong verließ ich fluchtartig den Steamer. – Da die Komödianten des Schiffs – außer mir waren jetzt nur noch die beiden Engländer noch nicht von Laura eingefangen – ihren Betrieb während des Hongkonger Aufenthaltes nachmittags nach dem {{Astor House}} und {{Carl¬ton}} verlegen wollten. Zwei ruhige, wenn auch nicht glückliche Tage. Denn jetzt erst kam ich zum ersten Male wieder dazu, nachzudenken. Ich stellte fest, daß Beatrice mit ihrer Prophezeiung nicht ganz unrecht hatte. Hana, so sehr ich sie mir herbeiwünschte, verlor in meiner Vorstellung an Wirklichkeit. Sie[[1]] begann beinahe bildhaft zu wirken – als wäre sie mir nur im Film erschienen. Wesensfremdheit – so sehr gerade die mit ein Grund des Reizes war – schuf irgendeine Distanz. Wohl begehrte ich sie auch jetzt noch, aber ich sehnte mich seelisch und körperlich nicht mehr so stark nach ihr wie damals, als ich in Kyoto Abschied von ihr nahm. Möglich, daß der Eindruck Beatrices daran schuld war. Sie[[1]] beschäftigte mich noch immer. Ich empfand Reue, sie verlassen zu haben. Nicht, daß Liebe mich zu ihr zog. Viel eher Furcht vor Langeweile. Ich, der ich bis dahin auf mein vieles, teils großes Erleben stolz war, hatte in Gegenwart Beatrices erkannt, wie klein und nichtig alles im Verhältnis zu dem war, was sie erlebte. Und da es für einen denkenden Menschen heute weniger denn je eine Möglichkeit gibt, Sinn in das Leben zu legen, so kann man es nur so meistern, wie sie es tat. Geld hatte nur Sinn als Macht. Aber wer hatte die heute? Die Zeiten Neros waren vorüber. Beatrice schuf sich Macht ohne Geld. – Oder lag Macht vielleicht darin, Hunderttausende von Menschen zu beschäftigen und ebensoviel Autocars im Jahr zu bauen, wie Ford es tat? Welch ein Stumpfsinn. Oder kraft seines Geldes mit schönen Frauen auf seiner Yacht nach Trouville oder Rio zu fahren? Ausgesuchteste Langeweile! Oder Manets{{[Ma¬nets]}} und Rembrandts, alte Porzellane und Gobelins zu sammeln und sich ihres Besitzes zu freuen? – Sprecht mir nicht von der Psychologie des Genusses. Ich kenne alles, was darüber geschrieben wurde. Geistreiche Konstruktionen. Auch der Sammler ist eitel. Und wo die Eitelkeit beginnt, fängt mir an übel zu werden. – Nur das Genie darf sich den Luxus leisten, über das Leben nachzudenken. Denn für das Genie allein – das nach Belieben auf die Menschheit verzichtet oder auf ihr herumtrampelt – hat das Leben einen Sinn, der ehrlicher Kritik standhält. Wer sonst den Leichtsinn begeht, über das Leben nachzudenken und weder eitel noch verlogen ist, muß verzweifeln. Aber reise ich solcher Nachdenklichkeiten wegen nach Asien? Habe ich schon den großen Fehler begangen und Beatrice, die ein glücklicher Zufall mir in den Weg führte, allein gelassen, statt mein Leben auf dieselbe Karte zu setzen wie sie, so muß ich jetzt die Kraft aufbringen, mich wieder da einzureihen, von wo ich mich heraussehnte, ehe ich Beatrice begegnete. Denn ein zweites Mal wird sie mir der Zufall nicht bescheren. Die Holländer aus den Kolonien sind die strammsten Trinker, die mir je im Leben begegnet sind. Sie[[1]] tun eigentlich nichts anderes als trinken. Außerhalb ihrer Tätigkeit natürlich. Aber sie versichern, daß sie zu Haus noch mehr trinken. Für sie macht es weder einen Unterschied, ob sie auf dem Platz in Hongkong oder auf dem Kreuzberg sitzen, noch ob es regnet oder die Sonne scheint. Gin und Whisky, ein paar Zoten und fettes Essen – und die Anforderungen, die sie ans Leben stellen, sind erfüllt. Zwar verachten sie auch die Frauen nicht. Aber es darf nicht umständlich sein. Sie[[1]] müssen sie sozusagen zum Gin serviert bekommen. Dabei friedfertig, höflich und gescheit. Also umgänglich und abgeklärt – wenn auch nicht gerade im Sinne Platos. Mich amüsierten sie den ersten Tag. Aber schon am zweiten schlug ich mich zu den Engländern. Ihre natürliche Heiterkeit und die selbstverständlichen Manieren – welch bedenkliches Zeichen, daß Selbstverständlichkeit einmal auffällt – wirkten wohltuend. Wir wollten erst abends auf das Schiff zurück, blieben dann aber über Nacht. Wir machten den Ball eines englischen Klubs mit, der hier oben abgehalten wird. Ich glaubte, mich ein paar Stunden im Westen Londons zu befinden. Nicht nur dem äußeren Bilde, auch der Unterhaltung nach. Es schien, als suchten auch die Teilnehmer für die Dauer des Balles zu vergessen, daß sie in China und nicht in ihrer Heimat waren. Aber so ist der Mensch! Ich bin sicher, daß sie, wieder in London, voller Sehnsucht an die Zeit in Hongkong zurückdenken werden, wo jede kleine Miß die Verehrung einer Prinzessin genießt. Da die Engländer auch von Hongkong aus weiter für sich blieben, so widerstand auch ich den Lockungen, an denen es Laura und ihre Gemeinde nicht fehlen ließen. Aber schon vor Singapore stieg drohend die Gefahr eines Maskenballes an Bord auf, der zwischen Bombay und Carrachi {{[Car¬ra¬chi]}}, also in der größten Hitze, stattfinden sollte. Laura begründete den Zeitpunkt damit, daß an Schlafen bei vierzig Grad des Nachts doch nicht zu denken sei. Man würde also nicht wissen, womit man von zwei Uhr nachts an – um diese Zeit endete bisher das offizielle Vergnügen – bis zum ersten Frühstück die Zeit verbringen sollte. Auf meinen[[Besitz]] Einwand: »Und was geschieht die übrigen zwanzig Nächte?« – denn so lange dauerte die Indienfahrt im günstigsten Falle – erwiderte Laura: »Der Maskenball wird natürlich jede Nacht wiederholt – und zwar täglich in anderer Form.« – »Das heißt ja, Ihren Geist überanstrengen,« meinte ich, worauf Laura sagte: »Man hat ja später genug Zeit, ihn auszuruhen.« – Als Kommentar sei verraten, daß die drei jungen Damen, da der verständige Vater fand, daß Schanghai kein Boden für eine ersprießliche Erziehung sei, nach Italien fuhren, um in ein Kloster zu gehen. Da in Singapore sämtliche Passagiere an Land gingen, die beiden Engländer den Sultan von {{Yo¬ho¬re}} aufsuchten, mit dessen englischer Gattin sie aus Birmingham her irgendwie bekannt waren, so beschloß ich, trotz des berühmten {{Tiffins}} in {{Raffies}} Hotel und des Botanischen Gartens, an Bord zu bleiben. Der Maestro, der in der Liste der Gentlemen auf unserem Steamer an dritter Stelle, also unmittelbar hinter den beiden Engländern und vor dem recht feinen Ehemann aus Manila rangierte, und mit dem ich mich daher oft unterhalten, zum Entsetzen vieler an Bord befindlicher Passagiere im Office sogar hin und wieder einen Whisky getrunken hatte, brachte mir zur Unterhaltung sein Reisetagebuch, das den verheißungsvollen Titel »{{Chronique scandaleuse de 1924}}« führte. Ich blätterte, bewunderte die genaue Kenntnis aller persönlichen Beziehungen der Passagiere untereinander und die realisierte Art der Schilderung. Die Lückenlosigkeit der Tagebuchführung – es fehlte kein Tag und keine Nacht vom Tage der Abfahrt in Japan an – veranlaßte mich zu der Frage: »Wann schlafen Sie[[1]] eigentlich?« »In Italien bei meiner Frau,« gab er zur Antwort. »Dann müssen Sie[[1]] eine ausgezeichnete Ehe führen. Denn, wenn Sie[[1]] den Schlaf nachholen wollen, den Sie[[1]] hier versäumen, werden Sie[[1]] nicht viel Zeit finden, wach zu sein.« Er erwiderte unter Hinweis auf das Buch: »Meine[[Besitz]] Frau liest, während ich schlafe.« »Sie[[1]] billigt also diese Art Ihrer Beschäftigung während Ihrer freien Zeit?« »Sie[[1]] wünscht es sogar. Sie[[1]] sagt: wer schreibt, sündigt nicht. Sie[[1]] behauptet, die meisten Sünden würden während des sogenannten Schlafs begangen.« »Eine kluge Frau!« sagte ich und las blätternd den Namen: Frau Dr. A L – Da stand unter dem 23. April: »Nachts zwei Uhr fünfzehn. Frau Dr. A L verläßt in dunkelrotem seidenen Kimono mit wundervoller Stickerei – ich schätze ihn auf hundert Jen – ihre Kabine und begibt sich zum Funker, der wie meistens schläft. &&c=8 Sie[[1]] telegrafiert. &&c=0 Minutenlang. Und kehrt auf gleichem Wege in ihre Kabine zurück. – Nie im Leben ist das seine Frau. Sie[[1]] ist eine Russin aus hohem Adel, und wenn irgendwo auf dieser Reise eine Überraschung steckt, dann kommt sie von dieser Seite.« Ich weise den Maestro darauf hin und frage: »Was wollen Sie[[1]] damit sagen?« Er ist über und über verlegen und erwidert: »Das ist natürlich Unsinn.« »Ich glaube nicht. – Ich glaube sogar, es stimmt.« »In...wie...fern …?« »Nur wir werden die Überraschung nicht erleben.« »Eine dämonische Frau!« »Sie[[1]] kennen sich aus unter Menschen.« »Es ist das einzige – ich verstehe sonst nichts.« »Sie[[1]] sollten auf einem Posten stehen, auf dem Sie[[1]] Ihre Fähigkeiten verwerten können.« »Wo sollte das sein? Ich verdiene nirgends so gut wie hier. – Ja, wenn ich Engländer wäre!« »Steht mehr in diesem Buch von meiner Frau?« »Sie[[1]] ist es also wirklich?« »Ja – und nicht wahr, ich darf die Seite herausreißen?« »Selbstverständlich!« »Steht mehr von uns in diesem Buch?« »Auf mein Wort: Nein!« »Trinken Sie[[1]] eine {{Chi¬an¬ti}} mit mir?« – Er weiß nicht recht, was er sagen soll und tritt, als wollte er mich auf die Distanz zwischen sich und mich aufmerksam machen, ein paar Schritte zur Seite. – Ich verstehe ihn und sage: »In meiner Kabine. – Ihretwegen. Nicht etwa für mich.« Nun, der Maestro ahnte nichts. Aber er empfand diese ungewöhnliche Frau richtig und suchte, sich über sie klar zu werden. »Eine Frau, die jedes Jahr ein Kind in die Welt setzt und alle drei Monate die Dienstboten wechselt, ist sie freilich nicht. – Aber geben Sie[[1]] sich keine Mühe, Maestro, Sie[[2]] werden sie nicht ergründen. So wenig wie ich – und wenn ich fünfundzwanzig Jahre mit ihr verheiratet sein werde.« (Bild 47) (Bild 48) »Für solche Frau lohnt es sich schon, zu leben,« erwiderte er. Ich stutzte. – Nanu? War das am Ende Übertragung der Gedanken? »Ob – aber – auch – zu sterben?« fragte ich, und aus seiner Erwiderung: »Warum das?« ersah ich, daß er es nur so hingesagt hatte, ohne sich etwas dabei zu denken. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Das Tempo, in dem die Passagiere sich in Singapore vergnügt hatten, hatte sie ermüdet. Ich sah es schon, als sie wieder an Bord kamen. Sie[[1]] schrien weniger laut. Einige machten sogar so ernste Gesichter, daß man glauben konnte, sie dächten über etwas nach. &&c=8 So &&c=0 schlimm war es freilich nicht. Immerhin herrschte auf der Fahrt von Singapore nach Penang verhältnismäßige Ruhe. Das war mir um so lieber, als die beiden Engländer sich doch entschlossen hatten, die Gastfreundschaft des Sultans von {{Yo¬ho¬re}} anzunehmen und auf einem anderen Schiff die Reise fortzusetzen. – So war ich jetzt ziemlich isoliert und unterhielt mich fast nur mit den beiden Holländern und den Offizieren. Laura hatte es wohl aufgegeben, mich zu bekehren, war aber, wie auch alle anderen, unverändert freundlich. Überhaupt muß es einmal gesagt sein, welche angenehme Enttäuschung für mich die Italiener waren. Auf Reisen in Italien selbst kommt man ja nur mit Deutschen zusammen. Besonders sympathischer Charakterzug: ihre Natürlichkeit, die den meisten Menschen spätestens in dem Augenblick verlorengeht, in dem sie mit anderen Menschen zusammenstoßen. Außerdem sind sie höflich. Und drittens heiter. Das sind drei Tugenden, die man selten vereint findet. Daß sie laut sind, ist schließlich mehr eine Angelegenheit der Akustik als des Charakters. Und daß ich auf Geräusche so stark reagiere, ist mein persönliches Pech, für das sie verantwortlich zu machen, ungerecht wäre. – Also war ich innerlich mit ihnen bereits versöhnt, bevor wir in Penang waren. – Laura, die das schnell herausfühlte, zog die Nutzanwendung. Wenn sie mich an diesem Abend auch noch nicht so weit brachte, daß ich tanzte, so saß ich doch das erste Mal nach dem Diner wieder bei ihnen und ging auf ihre Scherze ein. Bis Penang. – In Penang aber… &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x … wurde das Unglaubliche Ereignis. Auf die Gefahr hin, das Schiff zu versäumen, beschloß ich nach den Penang Hills zu fahren und da oben in vollkommener Ruhe und endlich allein die unerhörten Schönheiten der Natur zu genießen. Schon auf der Hinfahrt hatten es mir die fächerartigen Ravenalen {{[Ra¬ve¬na¬len]}} angetan. Diese aus Madagaskar stammende Palme nennen die Penanger den Baum der Reisenden. Wohl aus dem Grunde, weil sich in den Hohlräumen der Blattscheiden Wasser ansammelt, das trinkbar ist. Aber außer den Ravenalen gibt es da die {{Am¬her¬stia no¬bi¬lis}} mit roten Blütentrauben, riesige Feigen und andere Laubbäume, Farnbäume, die Kitulpalme {{[Ki¬tul¬pal¬me]}} mit den doppelt gefiederten, wüst durcheinanderhängenden Blättern. Aus dem Saft des Stammes wird der Toddy gewonnen – den die Penanger stolz als Wein bezeichnen. Ich empfand ihn als Medizin. Um so reizvoller finde ich die hier so häufige Arekapalme, die in ihrer übertriebenen Schlankheit, mit dem senkrecht dünnen Stamm, der kleinen Fiederkrone auf grünem Stammende und den weißlichen Blütenrispen an eine ätherische, oft freilich auch schwindsüchtige Frau erinnert, deren schlanker Körper bei der leisesten Windbewegung in Aufruhr gerät. Aber sie ist nicht nur für das Auge. Denn sie erzeugt die Arekanuß, die, mit Kalk gemischt und in das Blatt des Betelpfeffers gewickelt, den Stoff zum Betelkauen liefert. Und was täten diese Hunderte von Millionen Menschen ohne Betel, der ihnen den Tabak und wohl auch Schnaps ersetzt? Also nach den Penang Hills. Ich hatte schon vom Schiff aus gleich hinter Singapore nach {{Crags}} Hotel um Zimmer und Kulis für Tragstuhl und Gepäck telegrafiert. Ich schwelgte im Vorgenuß der Ruhe, der Landschaft und dieser Aussicht, die als die schönste der Welt gilt. Aber es kam, wie so oft auf dieser Reise, anders. Ich verabschiedete mich soeben von dem Commandante, als eine schlanke verschleierte Frau in einer blendend schönen goldgestickten Jacke, mit einer Seidenschärpe, wie ich sie nie ähnlich sah, auf das Schiff kam. Hinter ihr eine Dienerin mit weißem Hüftschur, der zwischen den Beinen durchgezogen und im Gürtel befestigt war, einem Strohhut und einem baumwollenen Schulterumhang. – Was ging sie mich an? Mir war am liebsten, ich sah auf dieser Reise keine Frau mehr. – Der Commandante, der noch neben mir stand, sagte: »Eine vornehme Siamesin mit ihrer Dienerin.« »Grüßen Sie[[2]] sie von mir,« sagte ich im Scherz, »ich fahre auch nach Penang Hills.« Aber ich ging nicht. Ich stand. Den Blick immer auf die Frau gerichtet, die jetzt für ein paar Augenblicke hinter ein paar Zwischendeckern verschwand. Ich nahm eben meinen[[Besitz]] {{Wa¬ter¬proof}} und wollte, um den Händlern auszuweichen, an der anderen Seite entlang gehen, als sie die kleine Treppe hinaufstieg und – wie mir schien – auf mich zukam. Ich blieb also stehen. »Diese Frauen haben einen Gang,« sagte ich zu dem Commandante. »Man kommt nicht los davon.« »Sie[[1]] gehören zu den Thai-Völkern, die den Chinesen nahestehen,« erwiderte er. »Aber ich warne Sie[[1]].« »Nicht nötig!« beteuerte ich. »Sie[[1]] haben tätowierte Beine.« »Ekelhaft!« »Und schwarzemaillierte Zähne.« »Wie geschmack...« – Weiter kam ich nicht. Denn die Dame aus Siam stand jetzt vor mir, schlug den Schleier zurück und sagte in vorwurfsvollem Ton, in einer Sprache, die mir von der Spree her bekannt war: »Na weißt du! – mit dir reise ich nicht noch mal.« »Andernfalls[[Asien]]!« rief ich und traute meinen[[Besitz]] Augen und Ohren nicht. »Wenn man eine Dame zu einer Reise nach Japan einlädt, so läßt man sie nicht mit einem siamesischen Grafen nach Bangkok gehen.« »Du scheinst demnach nicht übermäßig glücklich zu sein.« »Du hattest die Pflicht, mich zurückzuhalten.« »Am Ende mit Gewalt?« »Du hast ja keine Ahnung, was sich in Bangkok tut.« »Es soll sehr interessant sein.« »Für Europäer zum Ansehen. Aber nicht, um es mitzumachen.« »Es tut mir leid, daß es dich enttäuscht hat.« »Du hast dich natürlich inzwischen in Japan amüsiert.« »Was blieb mir übrig?« »Du, glaube nur nicht, daß ich mich gelangweilt habe.« »Hoffentlich nicht!« »Du lachst dich tot, wenn ich dir erzähle – nur eben für die Dauer ist es nichts.« »Ich fürchte, das ist mit jeder Ehe so.« »Die Ehe ist das wenigste.« Staunend stand noch immer der Commandante neben mir. »Es freut mich jedenfalls, daß du an mich gedacht hast.« »Dummian! das war doch nur eine Eskapade.« »Was – war das?« »Aber sie hat sich gelohnt. Ich habe für dich fotografiert und Tagebuch geführt. Dinge, die nie jemand sieht oder erfährt.« »Wo hast du sie?« Sie[[1]] wies nach unten, wo die Kabinen lagen. »In meinen[[Besitz]] Koffern.« »Wa… …?« Der Commandante wandte den Kopf. Vermutlich, damit wir nicht sehen sollten, daß er lachte. Die Kraft, sich loszureißen und das Gespräch nicht bis zu Ende anzuhören, fand er nicht – so taktvoll er sonst war. »Du bekommst sie aber nur, wenn du mir versprichst, in Zukunft besser auf mich achtzugeben und …« »Ja, was heißt denn das?« »… mich das nächste Mal mit nach Japan zu nehmen.« »Du hast doch nicht etwa die Absicht …?« »Ich sagte dir doch: vorübergehend ganz nett; aber auf die Dauer unmöglich.« »Du kannst doch nicht einfach …?« Meine[[Besitz]] Verdutztheit erheiterte sie. »Warum sprichst du keinen Satz zu Ende? – Übrigens, wie gefalle ich dir?« »Das Kostüm ist blendend und steht dir gut.« »Das ist noch gar nichts. Du mußt die anderen sehen. Versprich mir, daß du mir den Text zu einer Operette schreibst, die in Siam spielt.« »So sei doch vernünftig.« »Was fällt dir ein? – Ich bin es die ganze Zeit über. Aber du scheinst dich geistig nicht gerade zu deinem Vorteil verändert zu haben.« »Bist du die Frau des Grafen oder bist du's nicht?« »Ja, glaubst du, ich wäre als seine Mätresse nach Bangkok gegangen?« rief sie empört. »Und du willst ihm davonlaufen?« »Bin ich dir nicht auch davongelaufen?« Der Commandante machte jetzt eine Kehrtwendung – ging aber noch immer nicht. »Warum verlangst du für ihn mehr Rücksicht als für dich?« »Wir waren doch nicht ver...« Der Commandante konnte nicht mehr an sich halten, lachte laut auf und ging. »Nett, wie du mich blamierst,« sagte Andernfalls[[Asien]]. »Ich hatte erwartet, du würdest dich freuen. Nicht aber wie ein Oberlehrer mit hundert ›wenn‹ und ›aber‹ kommen.« »Mit anderen Worten: du wünschst die Reise mit mir fortzusetzen, als wenn sich inzwischen nichts ereignet hätte.« »Hast[[Besitz]] du das wirklich endlich heraus?« »Und diese …« »… Eskapade.« »Ehe!« »Für einen moralischen Menschen ist es keine. Im übrigen: du wirst inzwischen auch so manches erlebt haben.« »Mehr als mir lieb ist.« »Vermutlich auch im Format anders als die üblichen Erlebnisse zu Haus.« »Was du für eine feine Nase hast.« »Ich bitt dich! der Indische Ozean ist eben nicht der Kurfürstendamm.« »Weiß der Graf, daß du fort bist?« »{{Wa¬ji¬ra¬wudh}} weiß es.« »Wer ist denn das?« »Der König.« »Was für'n König?« »Du fragst wie ein Kind. Der von Siam natürlich.« »Was hast &&c=8 du &&c=0 denn mit dem König zu tun?« »In Siam ist das anders.« »Du brauchst seine Erlaubnis?« »Ich brauchte Geld.« »Für wen?« »Für dich!« »Bist du toll?« »Ich wollte doch nicht mit leeren Händen zu dir kommen. In Siam lernt man das Schenken. Kein Besuch, der ohne Geschenke kommt. Und von meinen[[Besitz]] Steinen, die der gute {{Wa¬ji¬ra¬wudh}} mir schenkte, wollte ich mich doch nicht trennen.« »Du scheinst ja gut gewirtschaftet zu haben.« »Ich schwöre dir, ich war dir treu.« »Ich habe dich nicht danach gefragt.« »Du mußt es glauben.« »Du verlangst viel.« »Nicht aus Liebe etwa. Ich wußte ja gar nicht, daß wir uns wiedersehen würden.« »Weshalb denn?« »Aus Berechnung. Daß sich in Siam eine Frau ihrem Manne versagt, ist seit 1352 nicht mehr vorgekommen. Der damalige König {{Phra Uthong}} ließ die Frau zwar einkerkern, nach ihrem Tode aber als Heilige verehren. Na, dachte ich mir, wenn es so leicht ist, heilig zu werden! – Du mußt nämlich wissen, die Siamesen sind so häßliche Kerls, daß man wirklich nichts verliert. – Also ich versagte mich.« »Hattest du denn nicht Furcht vor dem Kerker?« »Ich sagte mir, mit einer Europäerin wird man es nicht wagen. Und dann wäre ja noch immer Zeit gewesen es zu ändern. – Es machte ungeheures Aufsehen. {{Wa¬ji¬ra¬wudh}} …« »Wer ist das?« »Ich sagte doch schon: der König. Allerliebst! Beinahe zum Liebhaben. Aber mir nicht Mann genug.« »Was war denn mit ihm?« »Er erfuhr davon. Der Graf zeigte mich. Ich gefiel ihm. Schon am nächsten Nachmittag fuhr ich auf dem Menam {{[Me¬nam]}} in einem entzückenden überdachten Boot die Klongo {{[Klon¬go]}} entlang, bestieg einen Wagen und fuhr zum König.« »Von selbst tatest du das?« »Aber nein! man holte mich. Es war sehr komisch. Gar nicht feierlich. Wenn man von dem Fremdartigen absieht.« »Was wollte er?« »Dumme Frage! – Er lobte mich. Er gab dem Grafen die Schuld. Ich verteidigte ihn. Aus Überzeugung. Er ist ein Gentleman. Ob du dich darüber ärgerst oder nicht.« »Mich würde nur kränken, wenn du einen schlechten Geschmack zeigen würdest.« »Also es war ja klar. Der König hatte Absichten. – Ob ich bei ihm bleiben wollte, fragte er. – Ich erwiderte: ›Als was?‹ – Als Königin hätte ich nicht ›nein‹ gesagt. Aber ich wußte, er dachte nicht daran. Und die Mätresse des Königs von Siam zu sein, weißt du, das schien mir doch eine zu ausgefallene Sache. Er zeigte mir das Bild seiner Frau. Das besagte genug. Wie ein Fußball. Er zeigte mir Steine.« »Zeigte?« »Er schenkte mir auch ein paar – da sieh.« – Es waren zwei große funkelnde Smaragde, rein und fehlerfrei, die sie an einer Platinkette um den Hals trug. »Er blieb trotzdem artig, wie ihr Europäer es nie seid. Ich erbat Bedenkzeit. Schob sie immer weiter hinaus. Bis ich wußte, wann dein Schiff kam. Gestern erklärte ich ihm: es täte mir leid, aber ich sei nun einmal die Frau des Grafen und dürfe ihm daher nicht angehören.« »Du tatst natürlich, als ob du ihn liebtest?« »Selbstverständlich. Oder glaubst du, ich hatte Lust, mich einkerkern zu lassen? Ich redete ihm ins Gewissen und sagte, wir müßten beide überwinden – und wenn es uns noch so schwer fiele. In seiner Nähe könnte ich auf keinen Fall bleiben. Das ertrüge ich nicht. Ich würde noch heute Siam verlassen. – Er billigte es unter Schmerzen, beschenkte mich – und zog los.« »Und da bist du nun?« »Das ist alles, was du zu sagen hast? Ich muß gestehen, daß der Empfang bei dir nach dem Empfang beim König etwas nüchtern anmutet.« »Du hast eine Krone gegen eine –« ich zog meinen[[Besitz]] Halter aus der Tasche – »Füllfeder eingetauscht.« »Und bin froh damit.« »Bist du es wirklich?« »Soll ich es dir zeigen?« Im selben Augenblick lag sie auch schon an meinem Hals. – Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Aber das hinderte mich nicht, den Druck zu erwidern. Denn so zart Hana, so überragend Beatrice war – Andernfalls[[Asien]] kam meiner Gedanken- und Gefühlswelt doch am nächsten. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Andernfalls[[Asien]] blieb den ganzen Tag über in dieser Kleidung. Ja, sie hatte die Absicht, sie überhaupt beizubehalten. Da sie fabelhaft darin aussah, hatte ich nichts dagegen einzuwenden. Kam es in den europäischen Städten aber zu Straßenaufläufen, so war die Polizei zuständig, nicht ich. Ergo! Andernfalls[[Asien]] hatte einen Paß mit königlichen Siegeln. Was darauf stand, wußte niemand, auch sie selbst nicht. Da ich vermute, daß des Königs Beamter, der ihn ausgehändigt hatte, nicht einmal ihren Namen kannte, so nehme ich an, daß das imposante Schriftstück, das zum Zusammenrollen war und in einer Rolle aufbewahrt wurde, die Heiligsprechung eines der sogenannten weißen Elefanten enthielt. Laura, die vor Neugier ganz blaß war, verriet ich unter Hinweis auf das Papier, daß die Inhaberin die Kronprinzessin von Siam sei. Sie[[1]] gelobte mir in die Hand, das Geheimnis zu wahren. Der Erfolg war zunächst, daß sie in den nächsten Tagen mit dem großen Geheimnis im Herzen Distanz wahrte und für Ruhe sorgte. Aber ich hatte nicht mit den übrigen Passagieren gerechnet. Die wußten natürlich alle von Beatrice, dem seltsamen Fahrgast, der auf so geheimnisvolle Weise auf das Schiff gekommen und so geräuschlos wieder verschwunden war. Man spricht im Osten, was man nicht definieren kann, für einen Mädchenhändler an. Der Vorstellung, die man sich im allgemeinen von diesen »Märchenprinzen« macht – ich glaube, sie existieren nur noch in der Phantasie der Teilnehmer an den Kongressen zur Bekämpfung des Mädchenhandels und einiger alter Jungfern, die sehnsüchtig das Herannahen dieser Agenten herbeisehnen –, entsprach ich nun ganz und gar nicht. Aber die Vorstellung von irgend etwas Geheimnisvollem umgab mich doch. Hier, wo es wochenlang keine Ablenkung gab, klammerte man sich an jede Kleinigkeit, die ein Erlebnis zu werden versprach. Und man war froh, wenn schließlich daraus ein Märchen wurde. Mit dem Erscheinen der Kronprinzessin von Siam – Laura hatte das Geheimnis kurz vor Colombo preisgegeben –, war in der Vorstellung der Passagiere zunächst einmal auch aus Beatrice eine Prinzessin geworden. Selbstverständlich bestand zwischen beiden Frauen ein Zusammenhang. Ich verriet Laura, daß die Vermutung richtig sei. Die Neugier legte sich vor allem den weiblichen Passagieren auf den Magen. Die Folge davon war – trotz ruhigen Seegangs – Ausbruch der Seekrankheit. Ich gab Laura zu verstehen, daß die beiden Frauen die Gattinnen ein und desselben Mannes seien, und beschwor sie, dies furchtbare Geheimnis für sich zu behalten. Die Folge war, daß abends die Hälfte der Passagiere beim Diner fehlte und todkrank in den Kabinen lag. – Als wir in Colombo in den Hafen fuhren, kam uns Freund Boris, der russische Agent in indischen Schals aus Chemnitz, in einem Motorboot entgegen. Gott weiß, die Flagge welches Klubs er am Boote führte. Ein Passagier erkannte sie als die Geheimflagge der zaristischen Bewegung – aber erst, als Boris an Bord und als Russe erkannt und begrüßt war. – Der gute Boris verbeugte sich tief vor Andernfalls[[Asien]] und küßte ihr beide Hände. Laura, nach deren Geschmack Boris war, stellte das Grammophon an und spielte ein russisches Volkslied. Boris tanzte wie ein Gott. Andernfalls[[Asien]], an den Lärm noch nicht gewöhnt, wurde nervös und weinte. Ihre Dienerin, die von dem jüdischen Ehepaar übernommene Sklavin, fiel vor ihr auf die Knie und küßte den Saum ihres Kleides. Ein Amerikaner fotografierte diese Szene und ein anderer funkte nach Neu York, daß sich an Bord unseres Schiffes unter dem Pseudonym einer siamesischen Prinzessin die totgeglaubte jüngste Tochter des Zaren befinde und den größten Teil des Schmucks der kaiserlichen Familie mit sich führe. Der Commandante sowie der Maestro sahen keinen Grund, diesem Wahnsinn zu steuern und erwiderten auf jede Frage: »Sie[[1]] wüßten nicht.« – Ich bestimmte Boris, der in einigen Tagen mit einem {{Stin¬nes}}-Schiff über Marseille {{[Mar¬seille]}} nach Deutschland reisen wollte, mit uns zu fahren. Wir zogen aus der krankhaften Sucht der Amerikaner nach Sensationen jeden erdenklichen Vorteil. Vornehmlich den der Distanz – daß wir für uns blieben. Im Hintergrunde schlummerte bei allen natürlich der Wunsch, mit uns Anschluß zu bekommen. Man bestürmte den Maestro mit Fragen, ob wir in Colombo im {{Galle Face}} Hotel oder im Grand Oriental absteigen würden. Wir ließen erwidern: Miß Andernfalls[[Asien]] brauche Ruhe und zöge sich daher während des Aufenthaltes in Colombo nach {{Mount La¬vi¬nia}} zurück. Der Erfolg? Sämtliche Passagiere respektierten den Wunsch und suchten eins der beiden Hotels auf. Nur die Amerikaner waren bereits im Grand Hotel {{Mount La¬vi¬nia}}, als wir eintrafen – und im Vestibül standen der Direktor und sämtliche Gäste empfangsbereit. Andernfalls[[Asien]] erhielt einen großen Strauß, der die schönsten Blumen Ceylons vereinte. Die Gäste verneigten sich. Und die Amerikaner vom Schiff begrüßten uns, als wenn sie seit zwanzig Jahren mit uns intim verkehrten. Andernfalls[[Asien]] fand alles das zunächst mal himmlisch und meinte: »Hätten wir nur einen Operateur bei uns. – Mit dem Film wäre Geld zu verdienen.« Abends beim Diner, bei dem uns zu Ehren zwei Gänge eingelegt waren und Sekt serviert wurde – eine Aufmerksamkeit von Seiten amerikanischer Gäste, die wir mit größter Höflichkeit ablehnten –, spielte die Kapelle mehrmals die russische Nationalhymne. Boris sprang jedesmal auf. Mit ihm sämtliche Gäste. Nur Andernfalls[[Asien]] und ich blieben auf ihren Plätzen. Man staunte wohl und verstand es nicht. Aber alle fühlten, daß die Distanz zwischen den Gästen und uns dadurch noch größer wurde. – Man legte bei jedem Gang im selben Augenblick Messer und Gabel nieder, in dem Andernfalls[[Asien]] aufhörte, zu essen. Das machte ihr so viel Spaß, daß sie regelmäßig schon nach den ersten Bissen Messer und Gabel wieder auf den Teller legte. Und da man ihr von allem zuerst reichte, so gab es schließlich nicht einen, der nicht hungrig blieb. Als wir am nächsten Vormittag Abschied nahmen, baten einige Gäste Andernfalls[[Asien]] um ein Autogramm. Sie[[1]] gab es mit dem größten Vergnügen. Sechsmal schrieb sie in teils kostbare Alben, in die nur Weltberühmte Eingang fanden: &&am Andernfalls[[Asien]] Mitglied des … Theater Berlin. &&ax Das Berlin unterstrich sie. Sechsmal senkten sich sechs mehr oder weniger schöne Köpfe, um entsetzt gleich darauf wieder emporzuschnellen. Sechs Menschen, im Innersten verletzt, wandten den Rücken. Etwa sechzigmal sechs taten das gleiche, als wir, vergnügter noch als wir gekommen, wenige Minuten später das Hotel verließen. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Die Amerikaner verklatschten uns an Bord. Mit der Wirkung, daß wir die Lacher auf unserer Seite hatten. Aber unsere Ruhe war hin. Andernfalls[[Asien]] wurde unter Lauras Regie, die ein Konzert mit Grammophonbegleitung veranstaltete, zum Steamer Star mit dem Titel Kaiserliche Hoheit erhoben. Der Steamer erhielt den Charakter einer Kaiserlichen Jacht. Ich wurde Prinzgemahl. Laura Palastdame. Auch Ministerportefeuilles {{[Mi¬ni¬ster¬por¬te¬feuil¬les]}} wurden vergeben. Der dicke Holländer, der so viel trank, wurde Ernährungsminister, der Maestro, der mit dem »Innenleben« des Schiffes so gut Bescheid wußte, Minister des Innern, eine alte englische Dame, die aus Singapore eine junge rotstämmige Palme {{(Cyr¬to¬sta¬chys Lak¬ka)}} mitgenommen hatte, erhielt das Portefeuille für Landwirtschaft und Domänen, der Konsul aus Mexiko wurde Minister für Justiz und Boris Haus- und Hofmarschall. Das alles war, gelinde gesagt, aus Notwehr gegen die Langeweile, systematisch betriebener Unfug. Immerhin beschäftigte und belustigte er uns über Bombay hinaus bis Carrachi, Hauptakteure waren Andernfalls[[Asien]] und Signora Laura, die immer neue Situationen ersannen. Seit Colombo hielten sich die Amerikaner abseits. Sie[[1]] wurden nach einer entzückend stürmischen Sitzung als im Kriegszustand mit uns erklärt und mit tausenderlei Kleinigkeiten, die Frauenlist ersann und die daher nie greifbar waren, derart schikaniert, daß sie schon am dritten Tage den Commandante um Intervention baten. – Boris' Tätigkeit war die segensreichste. Er brachte zunächst Ordnung in die Kultur der Kleidung. Die kragenlose, die schreckliche Zeit, fand ihr Ende. Es wurde zum Diner kleine Abendtoilette, für Herren der weiße Smoking Vorschrift. Der chinesische Schneider, den ein Passagier aus Schanghai mitgenommen hatte, um ihn in Mailand zu etablieren, bekam Arbeit. Unser schwimmendes Königreich hatte auch Militär. Die jugendliche Garde. Sieben Nationen waren in ihr vertreten. Der Kadett des Schiffes war der Kommandierende General. Ungeahnte Ausblicke eröffneten sich. Die vereinigte Armee der Welt! Das war ein Gedanke. Kompagnieweise gemischt. Krieg würde zur Unmöglichkeit. Der Geist regierte an Stelle der Bajonette. Die garantierten lediglich die öffentliche Sicherheit. – Bei uns freilich schufen sie Unordnung. Sie[[1]] setzten, wenn sie schlafen gehen sollten, die widerspenstigen Eltern in Haft, indem sie sie in den Bridgeraum einschlossen und den Schlüssel an sich nahmen. Sie[[1]] gründeten eine Militärkapelle mit Instrumenten aus requirierten Küchengeräten, die grauenhafte Geräusche von sich gaben. Andernfalls[[Asien]] hatte vor Bombay die Absicht, die Armee aufzulösen. Sie[[1]] ging so diplomatisch vor, wie nur irgend möglich. Der General und die gesamte Truppe, die aus vierzehn Mann bestand, wurde zu Schokolade, Kuchen und Schlagsahne geladen. Es wurden sämtliche Nationalhymnen der Welt gesungen. Die Begeisterung war bei allen die gleiche. Andernfalls[[Asien]] versprach für den Fall, daß sich die Truppe auflöste, diese »{{Five o'clock cho¬co¬lad's}}« dreimal wöchentlich zu wiederholen. Sie[[1]] hatte den soldatischen Geist unterschätzt. Ein zwölfjähriger Italiener, der den Rang eines Offiziers bekleidete, schloß seine Abwehrrede entrüstet mit den Worten: »Wir erheben warnend die Stimme. Nur so lange wir da sind, besteht die Gewähr, daß die Bewohner des schwimmenden Königreichs nicht eines Tages beim Erwachen eine schwimmende Republik vorfinden.« – Laura, die ebenso leidenschaftlich erwiderte, wurde von der Schokolade und Schlagsahne weg in Schutzhaft genommen. Der Thron schien zu wanken. Da kam Andernfalls[[Asien]] der erlösende Gedanke. Sie[[1]] ließ Zigaretten reichen. Die großen, schweren »{{Roy¬al Dra¬goons}}« von Simon Arzt. Die Wirkung übertraf jede Erwartung. Die Truppe löste sich von selbst auf. Als Letzter kapitulierte nach einer halben Stunde der Kadett. – Aus den Soldaten wurden königliche Pagen, denen Andernfalls[[Asien]] Tanz- und Anstandsstunden gab. Mit großem Erfolg, wie sich auf dem Kostümfest, das nun als Hofball mit den üblichen Zeremonien gefeiert wurde, herausstellte. Den Höhepunkt bildete ein Menuett, das die jungen Damen mit den Pagen tanzten und das in eine Huldigung für Andernfalls[[Asien]] ausklang. An diesem Abend entsagte Andernfalls[[Asien]], was sie in einer langen Rede morgens um drei bekannt gab, Thron und Titeln. Sie[[1]] zog sich wieder ins Privatleben zurück und da ihr die Persönlichkeit Lauras, die ihr gern in der Regierung gefolgt wäre, nicht schwer genug wog, so endete dieser Hokuspokus, den nüchterne Europäer für die Ausgeburt einer Temperatur von fünfundvierzig Grad im Schatten milde beurteilen mögen, am frühen Morgen des Tages, als wir in Carrachi Anker warfen. &&x &&ns &&am &&lg=x &&g="21._Kapitel" &&fa Einundzwanzigstes Kapitel &&fe &&ax &&lg=x Schade, daß wir durch ein Telegramm des Lloyd[[1]] statt nach Bombay gleich nach Carrachi beordert wurden. An der Millionenstadt Bombay, in der ich aus Erzählungen und Büchern jede Straße, jeden Platz und jeden Tempel kannte, vorbeizufahren, ist gleichbedeutend mit dem Spaziergang eines Künstlers nach den Niederlanden, der heimkehrt, ohne einen Rembrandt gesehen zu haben. Habe ich mich dazu jahrelang mit dem Brahmanismus, der in Indien allein über zweihundertfünfzig Millionen Anhänger hat, der Glaubenslehre der {{Dschai¬nas}}, {{Ani¬mi¬ten}} und {{Sikhs}} beschäftigt? Vor[[Präpos]] allem aber mit der Religion der Parsen, deren es in diesem Riesenreiche nur hunderttausend gibt – also auf dreitausend Inder kommt noch nicht ein Parse! – und die doch die eigentlichen Beherrscher dieses Landes sind. Die Kapitalisten. Die Wohltäter. Die Freunde Englands. Dabei war ich in keiner anderen Stadt so gut eingeführt wie hier. Neben mehr oder weniger wirksamen Empfehlungen an eine Reihe von Maharadschahs, deren Freigebigkeit gegenüber Europäern zwar oft beschrieben, aber ebensooft als erlogen widerlegt ist, hatte ich in Bombay die Gastfreundschaft des reichsten und angesehensten Parsen zu gewärtigen, um die mich der Lloyd[[1]] einer Dreitausend-Tons-Ladung wegen betrog. Die von Zarathustra {{[Za¬ra¬thus¬tra]}} gestiftete Religion der Parsen mit ihrem völlig vergeistigten Gottesbegriff scheint mir die reinste aller Religionen zu sein. In Indien, dem Lande der religiös irren Hindus, die unter englischem Druck die Verbrennung der Witwen zwar nur noch im Geheimen betreiben, die oft aber noch im zartesten Kindesalter stehenden Witwen in einer Form ächten, die den Ärmsten nur die Wahl zwischen freiwilligem Tod und Obdach in einem der unzähligen Freudenhäuser lassen – in diesem Lande religiöser Verirrung, die europäische Reisende als Wunder bestaunen, wirkt ein Glaube auf so tiefer ethischer Grundlage wie der der Parsen geradezu erhebend. Heute noch, nach dreitausend Jahren, fand die Menschheit aus ihren Nöten heraus nichts Erhabeneres. Die Reinheit nicht nur in Worten und Werken, auch in Gedanken, ist ihr höchstes Gesetz. Die Statistik lehrt, daß sich unter den Verbrechern, Bettlern und Prostituierten Indiens nicht ein Parse befindet. Es ist daher folgerichtig, daß er seine Toten weder bestattet noch verbrennt. Der Turm des Schweigens, in dem er die Körper der Verstorbenen den Geiern zum Fraß überläßt, läßt Christen und Juden erschauern. Weshalb? Weil sie ethisch nicht hoch genug stehen, um aus dem Geiste ihres Glaubens letzte Konsequenz zu ziehen. Denn wo hätte die christliche Religion mit Körperlichem zu tun? Trotzdem feiert man Leichen, kniet vor Fleisch, das in Verwesung überging, statt an reinem Ort für die Seele des Verstorbenen zu beten. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Vor[[Präpos]] Carrachi befiel sämtliche Passagiere Furcht vor Malaria. Alles schluckte Chinin. Aber es zeigte sich nicht ein einziger Moskito. Worin sich wieder die Bosheit dieser Tiere zeigt: sie kommen nie, wenn man sie erwartet. – Eine wüste Angelegenheit: Carrachi mit dem angeblich schönsten Zoologischen Garten von ganz Indien. Ich empfehle allen Indern einen Ausflug nach dem Zoologischen Garten von Berlin. Sie[[1]] werden Scham empfinden. – Nein, Herrschaften, so etwas ließe sich bei uns nicht einmal Polzin {{[Pol¬zin]}} gefallen. – Andernfalls[[Asien]]' Kritik? Nun, sie sagte: »Und in einem solchen Land hätte ich, wenn es nach dir gegangen wäre, mein Leben verbracht.« »Wieso? Indien ist doch nicht Siam.« »Aber ungefähr. – Weißt du, wie groß die weltberühmte Elefantenherde von Siam ist?« »Hundert!« »Drei Stück! – Und die sind auch noch nicht mal weiß.« Andernfalls[[Asien]] wollte durchaus noch mehr von Indien sehen. Da Bombay verfehlt war, so drängte sie nach Kalkutta {{[Kalkutta]}}. Von Carrachi geht täglich ein Schnellzug mit Schlafwagen und Speisewagen über {{Kho¬khro¬par}}, {{Jodh¬pur}}, {{Agra}}, {{Allah¬abad}} in zweiundachtzig Stunden nach Kalkutta. Aber wir hatten als Deutsche schon Schwierigkeiten in Carrachi an Land zu gehen. Wir begnügten uns mit dem Besuch in {{Hai¬der¬abâd}}, das durch seine Gold- und Silberstickerei und Emailarbeiten berühmt ist. Die Hitze ließ uns aber nicht zum Genuß kommen. Wir suchten auch des Nachts kein Hotel auf. Es waren nach Sonnenuntergang noch dreiundvierzig Grad. Ein Führer pries uns ein Etablissement mit der Beteuerung, daß sein Besitzer derselbe sei wie in der {{Grand Road}} von Bombay. Natürlich konnten wir keinen Begriff damit verbinden. Von außen sah es aus wie ein Lampengeschäft. Diese von Kunst und Gott verlassenen Menschen behängen die Zimmer von den Decken herab mit den gräßlichsten und ältesten Petroleumlampen. Nicht etwa, um sie zu brennen, oder den Raum damit zu erleuchten, vielmehr lediglich als Dekorationsstücke. Da man Andernfalls[[Asien]] den Eintritt verwehrte, so wußten wir sofort, wo wir waren. Alles Verhandeln half nichts. Aber wir zogen die Aussprache doch so in die Länge, daß wir ein paar der Insassinnen zu sehen bekamen. Sie[[1]] tanzten zu der Musik von drei auf der Erde hockenden indischen Musikanten, zwei Geigen und ein Trommelschläger, die immer denselben Satz spielten. Die Mädchen waren jung und schlank, machten aber einen völlig teilnahmlosen Eindruck. Andernfalls[[Asien]] drängte hinaus. Aber die Gründlichkeit von Boris, der sich seit seinem Aufenthalt in Colombo heimisch fühlte, ließ es nicht zu. Wir gingen voraus in eine Art Kaffeehaus, das zu einem Hotel gehörte, dessen Namen mir entfallen ist, und sahen dem bunten Treiben auf der Straße zu. Hier, nach langer Zeit zum ersten Male, dachte ich wieder an Europa, das mir ferner denn je zu liegen schien. »Möchtest du heute abend Operette spielen?« fragte ich Andernfalls[[Asien]] völlig unvermittelt. Andernfalls[[Asien]] fuhr zusammen. Nach einer Weile sagte sie: »Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß ich mich jemals da wieder hineinfinde.« Gleich darauf kam Boris. Er strahlte noch mehr als sonst. Neben ihm schritt, nein schwebte eine Inderin, die ganz verschleiert war. Eine junge Hinduwitwe von sechzehn Jahren. Gepflegt und graziös. Mit einem feinen und schmalen Gesicht und blendend weißen Zähnen – dies verriet er uns – und mit ein paar Augen, die »riesengroß und braun ins Tiefe träumten« – das sahen wir. Er blieb mit ihr an unserem Tisch stehen, bis Andernfalls[[Asien]] sie aufforderte, Platz zu nehmen. Boris kannte bereits ihre ganze Geschichte. Sie[[1]] war erst seit zwei Tagen in dem Hause und noch nicht offiziell eingeführt. Diese gewählte Sprache wirkte trotz des Rahmens durchaus nicht grotesk. Denn das Mädchenhafte ließ gar nicht den Gedanken aufkommen, daß dies Kind eine verheiratete Frau, Witwe und nun gar dazu bestimmt war, in so ekelhafter Weise unterzugehen. Boris hatte die Absicht, sie zu retten. Das Kind sprach Englisch und sagte, was gar nicht zu ihr paßte und einstudiert klang: »Jeder hat sein Schicksal.« – Boris verbesserte: »Jeder macht es sich.« – »Wir können das nicht,« meinte sie und sprach den Wunsch aus, zurückzukehren. Boris hatte der Besitzerin des Hauses hundert Rupien versprochen. Sie[[1]] wußte das nicht. Aber das Fremdartige an uns schien sie zu beengen, daß ihr gar nicht zum Bewußtsein kam, was die Befreiung für sie bedeutete. Auf der anderen Seite war sich Boris gar nicht bewußt, welche Verantwortung er mit seinem Schritt, der doch die Laune eines Augenblicks war, auf sich nahm. Als wir ihm das klarzumachen suchten, meinte er: »Besser als hier wird sie es auf alle Fälle haben.« »Es kommt darauf an, wie sie sich fühlt; nicht wie sie es hat,« erwiderte ich. »Zunächst steht einmal ganz Chemnitz Kopf.« »Gewiß, aber davon hat sie nichts.« »Ihr müßt sie zum Film bringen – oder zum Theater. Ich habe sowieso die Absicht, nach Berlin überzusiedeln.« »Ich glaube sogar, daß sie sich für den Film eignet,« meinte Andernfalls[[Asien]] und fragte sie, ob sie Lust dazu habe. – Sie[[1]] verband nur eine ganz dunkle Vorstellung damit, begriff aber überraschend schnell und begann Interesse zu zeigen. Aber sie schien doch so verwachsen mit diesem Lande, daß ich entschieden davon abriet, sie mitzunehmen. Im übrigen müßte mich das abermalige Erscheinen einer Frau auf dem Schiff tatsächlich in Verdacht bringen. – Der gute Boris sah das auch ein und wollte alles vermeiden, was uns unbequem werden konnte. Aber er hatte jetzt Mitleid mit dem Mädchen, und der Gedanke, sie in das Haus zurückzubringen, war gräßlich. So suchte er nach möglichen und kam dabei auf immer unmöglichere Ideen: »Signora Laura wird sie nehmen, wenn ich sie darum bitte« »Als was?« fragte ich. »Als Dienerin.« »Laura geht in ein Kloster,« belehrte ich ihn. »Dann wird sie eben nicht in ein Kloster gehen.« »Um das zu verhindern, wirst du sie heiraten müssen.« »Gut! so heirat' ich sie.« »Du bist toll.« »Außerdem gefällt sie mir.« »Du bekommst es fertig,« sagte ich. Andernfalls[[Asien]] trat ihm bei. »Ich finde den Gedanken sehr gut. Laura und Boris passen ausgezeichnet zueinander.« »Aber die Inderin nicht. – Was willst du denn Laura sagen?« »Ich stelle ganz einfach die Bedingung.« »Sie[[1]] wird glauben, es ist deine Mätresse und wird dich abweisen.« »Das würde ich schon machen,« sagte Andernfalls[[Asien]]. Und sie machte es. Und zwar auf folgende Weise: Wir wußten, daß viele Passagiere, darunter Signora mit den drei schönen, für das Kloster bestimmten Töchtern, in Carrachi im Pauls oder Western Hotel wohnten, während das Schiff Ladung nahm. Sie[[1]] zu finden, war also nicht schwierig. Laura, die anfangs die Absicht hatte, mit uns zu kommen, freute sich aufrichtig, vor allem mit Andernfalls[[Asien]]. Sie[[1]] besaß überhaupt Korpsgeist – der freilich nicht engherzig und daher alles andere als exklusiv war. Sie[[1]] liebte es, daß alle Passagiere möglichst immer beisammen waren. Der moderne Mensch nennt das gesellschaftliche, ich nenne es herdenmäßige Einstellung. Kurz und gut: sie freute sich. Der Leser wird begreifen, daß ich längst aufgehört habe, mich über irgend etwas zu wundern. Ihm geht es bei der Lektüre dieser Seiten gewiß ebenso. So fiel es mir auch gar nicht ein, darüber nachzudenken, was Andernfalls[[Asien]] damit bezweckte, daß sie sich ganz gegen ihre Natur – wie ein unglücklich verliebter Backfisch benahm und in Melancholie machte. Ich sage aus Scherz zu Boris: »Sie[[1]] liebt Sie[[2]] unglücklich.« Boris, der gute Junge, wurde puterrot, aber Andernfalls[[Asien]], die wohl schnell ein wenig Puder aufgelegt hatte, sah kreideweis aus und stöhnte: »Das tue ich auch,« – und lief davon. Signorina Laura hinterher. So war es beabsichtigt. Denn nun ging es, wie mir Andernfalls[[Asien]] am Abend berichtete – los: Andernfalls[[Asien]]: Er ist der klügste Mann, den ich kenne. Laura: So? Ist er das? Andernfalls[[Asien]]: Er hat aber auch das beste Herz von der Welt. Laura: Gute Männer sind selten. Andernfalls[[Asien]]: Seine Familie ist eine der ersten in Odessa. Laura: Einen distinguierten Eindruck macht er schon. Andernfalls[[Asien]]: Und reich ist er. Laura: Heutzutage muß man auf Geld sehen. Andernfalls[[Asien]]: Und wie sieht er aus? Das blühende Leben! Laura: Ein abgelebter Mann könnte mir auch nicht gefallen. Andernfalls[[Asien]]: Und immer heiter. Launen kennt er nicht. Laura: So einen Mann muß man ja lieben. Andernfalls[[Asien]] (wirft sich Laura an den Hals): Nicht wahr? – Ach, ich bin ja so unglücklich. Laura: Liebt er Sie[[2]] denn nicht? Andernfalls[[Asien]]: Er kann doch nicht zwei lieben. – Aber ich gönne ihn dir, Laura! – Einer anderen würde ich ihn nicht gönnen. Laura (sie reißt die großen italienischen Augen noch weiter auf): Er – er – liebt – mich? Andernfalls[[Asien]] (große Geste): Laura! das hast du nicht gemerkt? Laura (wirft sich Andernfalls[[Asien]] an den Hals): Ich bin ja so glücklich. Andernfalls[[Asien]]: Das kannst du auch. Laura: Wird er mit mir sprechen? Andernfalls[[Asien]]: Selbstredend! Aber da du doch in ein Kloster gehst. Laura: Nun nicht mehr. Andernfalls[[Asien]]: Gibt man so schwere Entschlüsse so leicht auf? Laura: Gott wird das verstehen. Andernfalls[[Asien]]: Gewiß. – Aber durch eine gute Tat solltest du doch die Sinnesänderung abschwächen. Laura: Ja … ja! Aber wie? Was könnte ich tun? Andernfalls[[Asien]]: Rette eine der vielen Menschenseelen, die dem Irrglauben dieser grausamen Inder verfallen sind. Laura: Wie sollte ich das anstellen? Andernfalls[[Asien]]: Wir haben in Haiderabad {{[Hai¬der¬abad]}} so ein unglückliches Menschenkind aufgelesen. Es ist so alt wie du. Stell ihm die Bedingung. Nimm sie mit. Laura: Von Herzen gern. Ich habe jetzt überhaupt das Gefühl, als müßte ich etwas Gutes tun. Andernfalls[[Asien]]: Das ist das beste Zeichen, daß du ihn wirklich liebst. Laura: Ich schwöre… Andernfalls[[Asien]]: Laß! Ich weiß! – Und nun komm, der Ärmste zittert vor Ungeduld. Laura: Und ich verliere dich dadurch nicht? Andernfalls[[Asien]]: Ich liebe dich dadurch nur um so mehr. Laura: Die Größe brächte ich nicht auf. Am selben Abend feierten Laura und Boris an Bord des Schiffes ihre Verlobung. Der Champagner floß. Und ich bin sicher, daß sie glücklich werden. – Die zarte Inderin saß an einem kleinen Tisch für sich. Hatte sie Heimweh? Sehnte sie sich nach dem häßlichen Haus zurück? – Andernfalls[[Asien]] setzte sich zu ihr. Und wer es nur ein klein wenig versteht, durch die äußere Hülle des Menschen hindurchzuschauen, der sah, wie das Herz der kleinen Frau sich auftat und die Wärme, mit der Andernfalls[[Asien]] dies Herz traf, in sich aufnahm. Sie[[1]] hoffte nun und vertraute und glaubte an ihr Leben, das sie so jung schon aufgegeben hatte. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x Die Fahrt nach Aden war wenig schön. Der Monsun strich, wenn auch noch behutsam, über das Meer. Die Wellen schlugen über Bord. Und der feuchte, schwüle Wind erschlaffte den Körper. – Zwar junge Liebe spürte davon wenig. Laura und Boris waren so glücklich! Und Andernfalls[[Asien]] hatte recht, wenn sie sagte: »Liebe ist meist ein Irrtum. Man braucht jungen Menschen also nur einzureden, daß sie sich lieben. Und der Irrtum setzt sich in ihnen fest. Oft für die Dauer des ganzen Lebens. Das nennt man dann eine glückliche Ehe.« Ihr lag an dem Schicksal der Inderin mehr als an dem der Beiden. Mit Recht. Die fanden schon irgendwie durchs Leben. Auch wenn sie den Irrtum eines Tages erkannten, was jedoch nicht wahrscheinlich war. – Für die junge Inderin aber bedeutete es – ich übertreibe nicht – die Auferstehung. &&am &&lg=0 {{*}} &&ax &&lg=x In Aden wiederholte sich der Tanz der Händler, den wir auf der Hinfahrt erlebt und bestaunt hatten, nun aber – so stumpft der Mensch bei größeren Geschehen ab – kaum noch der Beachtung wert fanden. – Das Wetter wurde hinter Aden besser. Aber Andernfalls[[Asien]] hatte Reißen, das sie selbst des Nachts quälte. Sie[[1]] hatte die Tracht aus Siam längst abgelegt und entfernte sich aus der Ideenwelt dieses Lebens in gleichem Maße, in dem mit dem Nahen Europas die Ereignisse der Heimat für sie wieder an Interesse gewannen. Mir ging es nicht anders. Schon im Suezkanal hatten wir alles Asiatische abgestreift und waren wieder gute Europäer geworden. Die Zeit unseres Aufenthaltes im Osten war zu kurz gewesen. Leider! »In welches Bad gehen wir, um unser Reißen loszuwerden?« fragte Andernfalls[[Asien]] in Port Said, als säße sie auf dem Balkon meiner Berliner Tiergartenwohnung. Ich nahm die Landkarte und befreundete mich wieder mit Mitteleuropa. Pistyan lag auf dem Wege. Ich erinnerte mich, daß der Schlamm Pistyans weltberühmt war. Wir telegrafierten und trudelten drei Wochen später als Ehrengäste der Kurverwaltung in dem einst ungarischen, jetzt zur Tschechoslowakei gehörigen Bade ein. »Himmlisch!« rief Andernfalls[[Asien]] und wies auf Karren, die den Rikschas zum Verwechseln ähnlich sahen. Sie[[1]] fuhren zum Bade und vom Bade zum Hotel zurück. Die drei Wochen vergingen schnell. Die Post von Berlin erreichte uns wieder. Mit ihr kehrten die Pflichten und Unannehmlichkeiten zurück. Aber das lachende Asien wird wohl, wie das Bild aus einer anderen besseren Welt, bis an unser Ende in uns fortleben. – Um es wach zu halten, fahre ich im Frühjahr wieder nach Japan. Wer verspürt nach diesem Buch Lust und Mut, mich zu begleiten? &&am &&lg=0 {{*}} (Bild 49)